Efeu - Die Kulturrundschau

So penetrant, wie es nur geht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2016. Die NZZ staunt über bunte, hinreißend moderne Berber-Teppiche. Tages-Anzeiger und NZZ wenden sich entnervt von Elke Heidenreich ab. Sasha Waltz wird als eierlegende Wollmilchsau künftig ihre eigene Compagnie betreuen und als neue Leiterin des Berliner Staatsballetts moderne Stücke kreieren sowie die Pflege des klassischen Erbes organisieren, berichten leicht skeptisch die Feuilletons. In der Zeit erklärt Oliver Stone, was er von Edward Snowden gelernt hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.09.2016 finden Sie hier

Film


Joseph Gordon-Levitt als Edward Snowden in Oliver Stones "Snowden".

In Amerika wollte niemand seinen Film über Edward Snowden finanzieren, erklärt Regisseur Oliver Stone im Interview mit der Zeit. Das nötige Geld gaben schließlich die Deutschen und Franzosen. Stone ist immer noch tief beeindruckt von dem starken politischen Bewusstsein des 29-jährigen Whistleblower, der ihn einiges gelehrt hat: "Gezielte Überwachung ist sinnvoll. Hingegen gibt es so gut wie keine Anhaltspunkte dafür, dass die Massenüberwachung zu etwas Konkretem geführt hätte. Das ist der vielleicht wichtigste Satz in Snowden: 'Je mehr man schaut, desto weniger sieht man.' Wir wissen heute, dass wir Informationen über die Boston-Bomber hatten. Aber es wurden zu viele Informationen gesammelt, um sie miteinander in Beziehung zu setzen."


Den werden wir nie wieder los: Blinder Kriegsveteran aus "Don't Breathe"

Die Horrorfans unter den Filmkritikern sind sich einige: Fede Alvarez ist mit "Don't Breathe" ein echter Leckerbissen des Spannungskinos geglückt. Der Film über drei Einbrecher, die einem blinden Kriegsveteranen in die Mausefalle seines Hauses geraten, sei "eine Übung in Minimalismus" mit einem rigide begrenzten Raumkonzept, schwärmt Thomas Groh im Perlentaucher: "Die Blindheit des Gegenspielers, geradezu animalisch verwildert gespielt von Stephen Lang, gestattet genüsslich ausgekostete Versteckspiele auf wenigen Quadratmetern, bei denen der Filmtitel für die Figuren zur überlebensnotwendigen Maxime wird. ... Alvarez ist ein selbstbewusster Regisseur mit gutem Gespür für Timing und die Dynamiken einer Spannungsinszenierung: Stille Passagen hält er genauso aus, wie er in turbulenten Momenten nicht die Gäule mit sich durchgehen lässt."

Auch FAZler Dietmar Dath ist hin und weg von diesem Suspense-Reißer. Insbesondere Stephen Lang hat es ihm angetan: Dieser "Schreckensgreis (ist) ein großes Kinomonster auf Augenhöhe mit Max Schrecks Nosferatu, Boris Karloffs Frankensteinkreatur oder Robert Englunds Freddy Krueger - den werden wir nie mehr los, egal, wie oft wir ihn jetzt und in Zukunft noch sterben sehen."


Beim Jupiter! Terrence Malick raunt in "Voyage of Time".


Harter Schnitt nach Venedig: Dort ist Terrence Malicks fürs IMAX-Format gedrehter Essayfilm "Voyage of Time: Journey of Life" gezeigt worden, in dem es um nichts weniger geht als um die Entstehung des Universums und des Lebens. An der Pracht dieses Films kann sich SZlerin Susan Vahabzadeh kaum sattsehen. In der NZZ meint Susanne Ostwald: "Der Essayfilm mag schwierig sein. Doch er ist die schönste Form für eine zutiefst menschliche Weltergründung. Terrence Malick darf schon jetzt als ihr Meister gelten." FAZ-Kritiker Andreas Kilb sah dagegen einen "sehr kleinen Film." Auch der von Cate Blanchett eingesprochene Voiceover rette nichts, im Gegenteil: Dadurch werde "dieses Imax-Potpourri zur Predigt". Der Film schrammt "am Rande der Selbstparodie entlang", meint in der Welt Hanns-Georg Rodek, dem Sergej Loznitsas "Austerlitz" sehr viel besser gefiel. Große Bilder, raunende Worte hat auch Joachim Kurz von kino-zeit.de erlebt.

Weiteres vom Lido: Für den Tagesspiegel spricht Christiane Peitz mit Andreas Dalsgaard, der an der in Venedig gezeigten Dokumentation "The War Show" über Syrien mitgewirkt hat. Tazler Tim Caspar Boehme verzweifelt etwas an der "zunehmend tristen Monotonie", die ihm aus Stéphane Brizés Verfilmung von Guy de Maupassants "Une vie" entgegen schlägt. Weitere Berichte auf kino-zeit.de und beim Filmdienst. Und entgegen unseren Mutmaßungen der letzten Tage ist Artechock-Korrespondent Rüdiger Suchsland nicht etwa verstummt, sondern im (auf der Website rätselhafterweise unerwähnten) Blog des Onlinemagazins schreibfreudig zugange.

Außerdem: Im Tagesspiegel empfiehlt Ulrich Amling eine dem Filmmusik-Komponisten Krzsyztof Komeda gewidmete Berliner Filmreihe. In der NZZ versucht Philipp Meier eine "Ehrenrettung" Bambis. Für die SZ hat sich Philipp Bovermann mit Uwe Boll getroffen, der sich mit "Rampage 3" aus dem Filmemacher-Dasein verabschiedet.

Besprochen werden Christian Petzolds am Wochenende ausgestrahlter "Polizeiruf 110"-Fernsehkrimi (Perlentaucher), Derek Cianfrances Melodram "The Light Between Oceans" mit Michael Fassbender (Tagesspiegel, NZZ), Cordula Kablitz-Posts Spielfilmdebüt über die Schriftstellerin, Philosophin, Psychoanalytikerin und Femme fatale Lou Andreas-Salomé (NZZ), Mandie Fletchers "Absolutely Fabulous" (taz, FAZ), Ayse Kalmaz' und Marcel Kolvenbachs Dokumentarfilm "Dügün - Hochzeit auf Türkisch" (Welt), Henry Joosts und Ariel Schulmans Thriller "Nerve" (taz) sowie und István Szőts' auf DVD veröffentlichter "People of the Mountains" von 1942 (taz).
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Literatur

In der SZ erzählt der argentinische Autor César Aira von den Freuden des Lesens in der Kindheit, der Lust an Kriminalromanen und der Qual des Schreibens. Sein Text beginnt so: "Als ich klein war, hortete ich, was ich nicht verstand, was keine Erklärung fand, den seltenen Edelstein, der im trivialen, tauben Gestein des Einsichtigen und Bekannten glänzte. Es gibt einen Instinkt, der Kinder zum Unerklärlichen hinzieht. Vielleicht wird den Kindern heute zu viel erklärt; man stachelt sie an, alles zu verstehen, und gibt ihnen die Mittel an die Hand, ihre Fragen sofort zu beantworten. Solche Schutzvorrichtungen gab es noch nicht zu der Zeit und in dem Ort, wo ich meine ersten Jahre verlebte: in einem Städtchen mit einer Landbevölkerung, der es nicht im Traum eingefallen wäre, ihre Kinder anders zur Erkenntnis anzustacheln, als dass man sie zur Schule schickte und sie sich dort allein zurechtfinden ließ."

Elke Heidenreich hatte mit ihren Auftritten im "Literaturclub" des Schweizer Fernsehen schon vor zwei Jahren für Ärger gesorgt, als sie eine Heidegger-Paraphrase mit Heidegger verwechselte und statt ihrer der Moderator die Konsequenzen tragen musste (unsere Resümees seinerzeit). Nun erklärte sie die junge Schriftstellerin Michelle Steinbeck, deren Buch ihr missfiel, für krank: "wenn das ernst gemeint ist, dann hat die Autorin eine ernsthafte Störung". Guido Kalberer fragt sich im Tages-Anzeiger, wie lange das Schweizer Fernsehen Heidenreich noch ertragen wolle und fürchtet am Ende doch, "dass Heidenreich mit dem von ihr gepflegten Populismus Quoten garantiert in einer Sendung, die für das literarische Leben der Schweizer massiv an Bedeutung eingebüßt hat."

Auch Roman Bucheli von der NZZ ist von dieser Art der Literaturkritik nicht unbedingt begeistert: "Sie kann übrigens auch anders: ein Buch hochjubeln. Das gehört auch zum Rollenfach - Daumen rauf, Daumen runter. Darin trifft sie sich mit ihrem Kollegen Denis Scheck von der ARD, der für seine letzte Sendung eigens nach Los Angeles flog, sich dort Christian Kracht an die Brust warf und während neun Minuten so penetrant, wie es nur geht, dessen neues Buch in die Kamera hielt."

Weiteres: Für ZeitOnline geht Wiebke Porombka mit Matthias Brandt spazieren, der mit "Raumpatrouille" ein Buch über seine Kindheit in den 70ern geschrieben hat.

Besprochen werden Mathias Enards Roman "Kompass" (NZZ), Eugen Ruges "Follower" (taz), Christian Krachts "Die Toten" (SZ), Thomas Melles "Die Welt im Rücken" (FR) und neue Bücher von Martin Mosebach (FAZ). Mehr auf Lit21, unserem literarischen Metablog.
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Kunst

In der NZZ feiert Marion Löhndorf den englischen Garten. In der FAZ-Reihe über gute Bilder schlechter Künstler gesteht Rainer Stamm, Direktor des Niedersächsischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg, was ihn an der "Blauen Mondnacht" am Lago Maggiore, die Christian Rohlfs im hohen Alter malte, reizt: Es ist die "Freiheit und Unbekümmertheit, die noch aus den Spuren des Entstehungsprozesses ablesbar ist". ZeitOnline bringt Bilder aus dem lange Zeit verloren geglaubtem Kinderbuch, das Otto Dix 1925 für seine Stieftochter gemalt hat.

Besprochen wird Bani Abidis Ausstellung "Exercise in Redirecting Lines" im Kunsthaus Hamburg (SZ).
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Bühne

Der seit Beginn seiner Arbeit am Berliner Staatsballett umstrittene Intendant Nacho Duato wird nach Ablauf seines Vertrages im Sommer 2019 von einer Doppelspitze bestehend aus Sasha Waltz und Johannes Öhman abgelöst, gab der Berliner Bürgermeister Michael Müller gestern bekannt. Frederik Hanssen berichtet für den Tagesspiegel von der Pressekonferenz: Öhman sei fürs Managment zuständig, Waltz, die schon 2013 als Favoritin für den Posten galt, für die kreativen Aspekte. Ihre Kompanie werde sie parallel weiterführen: "Das Programm soll nicht von meinen Arbeiten dominiert werden", zitiert Hanssen. "Waltz wird künftig also als Multitaskerin unterwegs sein, zeitgenössische Ausdrucksformen mit ihrer vertrauten Tänzerfamilie weiterentwickeln, moderne Stücke beim Staatsballett erarbeiten und außerdem auch noch die Pflege des klassischen Erbes organisieren. ... '50 Prozent werden klassische Stücke sein', betonte Johannes Öhman am Mittwoch."

Alexandra Albrecht von der FAZ macht dieses Modell skeptisch: Dieser Neustart, den das Haus dringend benötige, wirkt auf sie "halbherzig". Waltz habe zwar Erfahrungen an Opernhäusern, doch "reicht das, um eine große Ballett-Compagnie zu leiten? Würde man einem versierten Jazzer die Intendanz eines Sinfonieorchesters anvertrauen? Einem Experten für Pop-Art die Leitung einer Altmeister-Sammlung? Kaum." In der Welt fragt Manuel Brug, ob diese Berufung nicht ein bisschen zu spät kommt: 2019, wenn Waltz antritt, wird sie 56 Jahre alt sein. Und: "Sonderlich kreativ gewesen ist sie in den letzten Jahren nicht. ... Sasha Waltz ist eine ein wenig gestrige Lösung. Aufbruch sieht anders aus."

Besprochen wird das in London gezeigte Stück "Burning Doors", mit dem die weißrussische Theatergruppe "Belarus Free Theater" die Repressionserfahrungen von Pussy-Riot-Mitglied Maria Alechina, des Aktionskünstlers Pjotr Pawlenski und des ukrainischen Filmemachers Oleh Senzow auf die Bühne bringt (Guardian, FAZ).
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Musik

In der NZZ berichtet Jörg Huber vom Uraufführungsfestival im Rahmen des Lucerne Festivals: Aufgeführt wurden u.a. "Le Banquet" der Japan-Schweizerin Ezko Kikoutchi, "Tiers Paysage" des aus La Spezia stammenden Carlo Ciceri und "Staub" der Mundry-Schülerin Saskia Bladt. Frederik Hanssen stellt im Tagesspiegel das Syrian Expat Philharmonic Orchestra vor.

Besprochen werden Gudrun Guts "Vogelmixe" (The Quietus), ein Berliner Konzert der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev (Tagesspiegel), Lucy Dacus' No Burden" (Spex) und ein Konzert des Saxofonisten Max Merseny (SZ).
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Design


Fatima Oumharch und Zahra Bouychou vor ihren Teppichen. Foto: Serge Anton

In der marokkanischen Wüste entwerfen Berberinnen seit den achtziger Jahren die erstaunlichsten Teppiche: modern und individuell, lernt NZZ-Kritiker Philip Meier in einer Ausstellung im Zürcher Museum Bellerive: "Mit unglaublich kreativer Power erschufen die Frauen aus einem traditionellen Handwerk ein ganz neues gestalterisches Universum. Seitdem versetzen die farbenfrohen Decken und Kissen die erdfarbenen und gedämpften Interieurs der Häuser in bunte Schwingung ... Da explodieren Teppiche förmlich in sehr unkonventionellen Formen und Farbtönen. Muster des Schachbretts, eines Spiels, das bei den Berbern verbrietet ist, liegen zugrunde, sodann auch Buchstaben des Berber-Alphabets. Gitterstrukturen zur Abwehr von Geistern schweben als frei gestellte Rhomben in farbigem Grund. Der individuelle Ausdruck dieser Gewebe und Knüpfarbeiten ist enorm."
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