Efeu - Die Kulturrundschau

Alles Gesprochene bleibt diskret

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16.11.2018. Die Filmkritiker sehen mit Luca Guadagninos "Suspiria" verfeinerten Horror. Der Schriftsteller Norbert Hummelt schwebt in der NZZ noch einmal die Treppe der Villa La Collina hinunter. Die FAZ hört noch einmal, wie Aretha Franklin einen Ton hält. Die NZZ begutachtet in einer Pariser Ausstellung, wie die Nadars in ihren Fotoporträts Charakter und Temperament großer Künstler bannten. Die Berliner Zeitung trauert um Rolf Hoppe.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.11.2018 finden Sie hier

Film

Tilda Swinton als Hexenmeisterin in "Suspiria"

Mit "Suspiria" hat der italienische Autorenfilmer Luca Guadagnino kein Remake von Dario Argentos gleichnamigem Italo-Horrorklassiker aus den 70ern gedreht, sondern eine "Erweiterung als Verfeinerung" vorgelegt, schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard: Im West-Berlin des Jahres 1977 situiert, erzählt der Film vor der medialen Kulisse des Deutschen Herbst die Geschichte wie eine junge US-Amerikanerin bei einer pina-bausch-artigen Tanzschule anheuert, die sich als klandestiner Hexenzirkel entpuppt. "Man kann nicht behaupten, dass es Guadagnino unumschränkt gelingt, dieses Spiel mit historischen Analogien schlüssig zu verbinden", erklärt Kamalzadeh. "'Suspiria' bleibt ein Bruchwerk mit sichtbaren Nahtstellen. Allerdings eines, das nachhaltig fasziniert, weil es eine Architektur für Gedanken schafft, in der neben Horror auch Platz für Traumata bleibt, für Phantome und Geister, die sich nicht abschütteln lassen."

Entsprechend liegt auf dem West-Berlin der 70er der Albdruck der Vergangenheit, hält Katrin Doerksen im Perlentaucher fest: "Eine äußere, von Männern dominierte Welt, repräsentiert von Polizisten, Grenzbeamten, einem gebrechlichen Psychologen namens Dr. Josef Klemperer (gespielt von Tilda Swinton), dessen Praxis vollgestopft ist mit Büchern über Carl Gustav Jung und die Freimaurer, steht unwissentlich einer inneren gegenüber, irgendwo gut unterhalb der Gesellschaft versteckt: einer von Frauen regierten Terrorzelle. ... Guadagnino sammelt Details, als wäre er selbst ein Besessener, verlötet sie zu einem kulturellen Nervensystem, dessen Synapsen erst durch heftige körperlichen Reaktionen zu funken beginnen. Wenn deutlich hörbar Knochen brechen und spitze Haken ins Fleisch fahren, wirkt das wie ein letzter verzweifelter Versuch, doch noch alle Wahrnehmungsebenen zusammenzubringen."

"An Stil kann es dieser Teufelstanz mit seinem Vorbild aufnehmen", freut sich Daniel Kothenschulte in der FR. Andreas Busche ist im Tagesspiegel äußerst angetan von diesem Film: "Die nachdrücklichste Stärke von 'Suspiria' besteht zweifellos darin, dass Guadagnino - anders als Argento - den Tanz als Medium der Selbstermächtigung ernst nimmt. ... Damien Jalets Choreografie verleiht ihren konvulsivischen, fast aggressiven Bewegungen eine Handlungsmacht, die die Tänzerinnen zunächst kontrollieren lernen müssen." Hier ein Beispiel aus dem Film:



Weitere Artikel: Für die taz resümiert Carolin Weidner die Duisburger Filmwoche und liest zudem neue Bücher, mit denen Werner Ružička als scheidender Festivalleiter gewürdigt wird. In der Medienkorrespondenz würdigt Dietrich Leder Ružičkas Verdienste und verweist nochmals auf diese Seite, wo sich sämtliche Gesprächsprotokolle der Filmwoche online finden lassen.

Besprochen werden Hu Bos "An Elephant Sitting Still" (Perlentaucher, mehr dazu hier), Barbara Millers Dokumentarfilm "#FemalePleasure" (NZZ, Standard, hier außerdem ein Gespräch mit der Regisseurin), Paolo Sorrentinos "Loro" (Tagesspiegel, ZeitOnline), die Verfilmung von Nick Hornbys Roman "Juliet, Naked" (FR, Berliner Zeitung), Sam Levinsons Horrorfilm "Assassination Nation" (ZeitOnline), Lucia Chiarlas Reise nach Jerusalem" (Welt) und der zweite Teile der Reihe "Phantastische Tierwesen" (SZ).
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Literatur

Schriftsteller Norbert Hummelt schwärmt in seinen Reisenotizen in der NZZ vom Aufenthalt in der Villa La Collina am Comersee, wo sich jährlich eine kleine Schar Literaten zu Lesungen und allgemeinem Austausch treffen: Es sind Tage, "die ich in mein sonstiges Leben gar nicht recht einordnen kann, es scheint mir ein ewiger Wiederholungstraum, in dem ich vom Gästehaus durch den Garten zu den Gesprächen in der Villa emporsteige, mich jedes Mal fragend, ob ich den steileren Weg über die Treppe oder den sanft geschwungenen asphaltierten nehmen soll. ... Alles Gesprochene bleibt diskret, das Gelesene verklingt in der milden Luft, wird nirgends gespeichert als im Kopf. Dennoch ist es eine besondere Situation, vor Kollegen Ungedrucktes vorzutragen, ganz anders, als vor einem Publikum aus einem Buch zu lesen."

Weiteres: Unter anderem die FAZ meldet, dass die uruguayische Schriftstellerin Ida Vitale den Cervantes-Preis erhält. Besprochen werden unter anderem Cloé Mehdis "Nichts ist verloren" (Freitag), Typex' Comicbiografie "Andy - A Factual Fairytale" (FR), Carol O'Connells Thriller "Blind Sight" (FR), Thomas Klupps "Wie ich fälschte, log und Gutes tat" (Zeit) und Johanna Maxls Debüt "Unser großes Album elektrischer Tage" (SZ).

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Stichwörter: Hummelt, Norbert

Kunst

Stéphane Mallarmé, fotografiert von Paul Nadar, 1897 BnF, département des Estampes et de la photographie


Peter Kropmanns besucht für die NZZ in der Bibliothèque Nationale de France in Paris eine der Fotografendynastie Nadar gewidmete Ausstellung. Die Sippe machten den Malern früh Konkurrenz, besonders bei den Porträts: "Ein besonderes Augenmerk lag auf Körperhaltung, Kopfdrehung und wahlweise Blickkontakt oder Blick ins Leere. Ihr Streben nach Innovation in puncto Bildschärfe, Körnung, Belichtungsdauer oder Lichtregie ging einher mit der Ausprägung neuer ästhetischer Kategorien im Spannungsfeld zwischen Pose und Natürlichkeit, Selbstverständnis und Interpretation. Auf kaum einem Feld ließ sich das besser erproben als im Bereich der Selbst- und Familienporträts: 'Die Nadars im Objektiv der Nadars', heißt sinngemäß der erste Teil der jetzigen Schau. Anwendung fanden die Experimente dann besonders bei Prominenten, deren Charakter und Temperament auf die Spur zu kommen war."

Catrin Lorch betrachtet für die SZ die in weiß, orange und rosa gehaltenen Ausstellungsräume der "Irrfahrten des Meese" in der Münchner Pinakothek der Moderne und schüttelt den Kopf, nee, so kann man einen politisch peinlichen Künstler wie Jonathan Meese auch nicht neutralisieren: "Als Jonathan Meese in den Neunzigerjahren anfing, da waren die Runen und das Raunen aus dem bundesdeutschen Alltag fast verschwunden. Man konnte es aushalten, dass noch mal einer runter in den Keller ging und in labbrigen Kartons nach Opas alten Orden kramte. Jetzt sind nicht nur Fahnen und Aufmärsche und Rassismus wieder da, sondern auch das ganze rechte Interesse an Historie, an Geschichtsklitterungen, Umdeutungen, Verleumdungen. Es spricht nicht für das Werk, dass Jonathan Meese da nicht gefragt war ... Und die bunte, poetische Präsentation in München, sie reicht nicht mal zum kleinen Zwist."

Besprochen werden außerdem eine dem Tanzfieber von 1518 gewidmete Ausstellung im Straßburger Musée de l'oeŒuvre Notre-Dame (FAZ), die Ausstellung "She's here. Louise Lawler" mit Werken aus der Sammlung Verbund in der Vertikalen Galerie der Verbund-Zentrale in Wien (Standard) und die Ausstellung Tier- und Landschaftsmaler Wilhelm Kuhnert in der Frankfurter Schirn (taz).
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Bühne

Christine Dössel stellt in der SZ den Stuttgartern ihren neuen Schauspielchef Burkhard C. Kosminski vor, der jetzt mit ersten Inszenierungen antritt. Torsten Harmsen schreibt in der Berliner Zeitung den Nachruf auf den Schauspieler Rolf Hoppe.

Besprochen werden eine Franz-Jung-Revue im Berliner HAU2 (taz, nachtkritik, Berliner Zeitung), Martin McDonaghs neues Stück "A Very Very Very Dark Matter" im Bridge Theatre in London (NZZ) und eine Wiener Aufführung von Georg Friedrich Händels Oper "Teseo" ohne die sonst üblichen Streichungen und mit einigen zusätzlich komponierten Rezitativen des Dirigenten René Jacobs (Seine Fassung "lässt Händels dritte Londoner Oper nun in einem neuen Licht erscheinen", staunt FAZ-Rezensent Reinhard Kager, Standard).
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Musik

"Kaum vorstellbar, dass Aretha Franklin gegen diesen Abend Einwände erhoben hätte", schreibt Verena Lueken beglückt in der FAZ nach der New Yorker Premiere des Dokumentarfilms "Amazing Grace", dessen schwierige Entstehung sie detailliert schildert: Bei den von Sydney Pollack geleiteten Dreharbeiten vor fast 50 Jahren über die Aufnahmen des gleichnamigen Franklin-Albums in einer Gospel-Kirche entstand nur unbrauchbares Material, gegen dessen Veröffentlichung sich Aretha Franklin selbst dann noch, als digitale Technologien die Aufnahmen eigentlich hätten retten können, sperrte. Franklins Erben haben es nun dennoch freigegeben: "Wer hätte also ahnen können, dass 'Amazing Grace' doch noch einmal auf einer Leinwand erscheinen würde? Dass wir Aretha Franklin nicht nur hören, sondern auch sehen würden, wie sie am Flügel sitzt, die Augen geschlossen, schweißüberströmt, und diesen ersten Ton von 'Wholy Holy' und viele andere Töne hält und hält und weiterhält, 'bis wir bereit sind, mehr zu lieben, uns mehr zu kümmern', wie es Bishop William Barber II. nach Ende der Filmvorführung formulierte." Für den Guardian bespricht Jordan Hoffmann, ebenfalls sehr begeistert, dieses Dokument. Erste Eindrücke verschafft der Trailer:



Von einer Vereinnahmung der Kunst durch die Politik will der polnische Dirigent Krzysztof Urbański nichts wissen, wenn er im Auftrag des NDR das Festival "My Polish Heart" anlässlich des 100. Jahrestags der polnischen Unabhängigkeit dirigiert. "Wie viel Energie Nationalisten für die Verbindung zu ihrer Nationalität aufbringen", amüsiert er sich in der SZ. "Es erscheint mir so künstlich, dass manche Menschen Dinge benutzen, die überhaupt nichts mit Politik zu tun haben, und sie auf Teufel komm raus damit verbinden wollen. Bei dem Festival spiele ich unter anderem Henryk Mikołaj Góreckis 3. Sinfonie, die auch 'Sinfonie der Klagelieder' genannt wird. Der Text ist auf Polnisch, aber das Leid, das dort beschrieben wird, ist so universell, es ist so viel größer als eine politische Intention."

Geradezu "unheimlich" findet NZZ-Kritiker Daniel Haas die Vehemenz, mit der der deutsche Medienbetrieb Herbert Grönemeyers neues Album "Tumult" über den grünen Klee lobt: "Es ist, als ob Grönemeyer im Alleingang einenfürs linksliberale Milieu gültigen Kanon des Common Sense durchdekliniert hätte." Was dann schlussendlich doch wieder nur deutsche Leitkultur markiere. "Wollte man einem Ausländer erklären, wie sentimental und moralisch die Deutschen werden können, müsste man ihm eigentlich nur ein paar Grönemeyer-Alben schenken."

Weitere Artikel: Für die NZZ porträtiert Adrian Schräder den Pariser Rapper MHD. Besprochen werden Jens Friebes neues Album "Fuck Penetration" ("das sechste gute Album in Folge", jubelt Dietmar Dath in der FAZ, "Momente der Erhabenheit", wenn auch mit ironischem Dreh, bestaunt Jörg Sundermeier in der Jungle World), das neue Album von The Good, The Bad & The Queen (taz), ein Brahms-Abend mit dem Geiger Sebastian Bohren und dem Cellisten Christoph Croisé (NZZ), Thom Yorkes Soundtrack zum "Suspiria"-Remake (Standard), der Berliner Auftritt von John Grant (taz), das Debüt der Teskey Brothers (Standard), der Berliner Auftritt von U2 (Tagesspiegel) und das neue Album "Du bist so symmetrisch" der Schweizer Neo-Krautrock-Disco-Gruppe Klaus Johann Grobe (taz). Daraus ein aktuelles Video:

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