Efeu - Die Kulturrundschau

Götterfünkchen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2018. Die FR feiert ein schmerzhaftes Kino der Dissonanzen mit Philip Grönings "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot". Die NZZ amüsiert sich bei den Tagen für Neue Musik mit Cornelius Cardews Komposition "The Great Learning". Der Tagesspiegel besucht die Literaturszene in Riga. In der nachtkritik ruft Dramaturg Christian Tschirner: Solidarität statt Privilegien. Theatertreffen raus aus Berlin!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.11.2018 finden Sie hier

Film

Schmerzhaftes Kino: Philipp Grönings neuer Film
Ein Geschwisterpaar im letzten Sommer der Jugend, er liest Heidegger, sie will vor dem Abitur noch mit irgendwem ins Bett: Philip Grönings nach 18 Jahren fertiggestellter Film "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" wurde bei der Berlinale mitunter ziemlich ausgebuht, findet in FR-Kritiker Daniel Kothenschulte aber einen entschiedenen Fürsprecher: "Epische Sequenzen werden unterbrochen mit poetisch-experimentellen Miniaturen, kleinen impressionistischen Götterfünkchen. Es ist wie in allen Spielfilmen Grönings: Disziplin und Ausbruch balgen miteinander, Himmel und Hölle treffen aufeinander. Es ist nicht die Art von Widersprüchen, die sich als harmonischer Kontrapunkt genießen lässt, sondern ein schmerzhaftes Kino, das von Dissonanzen lebt wie das Orchesterstimmen." Welt-Kritiker Elmar Krekeler war es dann allerdings doch zu viel des Schmerzhaften: "Das alles ist derart beziehungsreich und nicht gerade selten eher untersubtil, dass man irgendwann zusammenbricht. Und flüchtet." (Hier unsere Berlinale-Kritik)

Weitere Artikel: Pawel Pawlikowksis "Cold War" hat völlig zurecht rundum Erfolg, jubelt Barbara Wurm in der taz: Es handelt sich um "ein filmisches Ereignis der Extraklasse" (auf erste begeisterte Kritik verwiesen wir bereits gestern, in der SZ gibt es heute eine weitere Besprechung). Für die taz wirft Carolin Weidner einen Blick ins Programm des Berliner Festivals "Around the World in 14 Films", das eine Auslese der aktuellen Festivalsaison präsentiert.

Besprochen werden Christian Froschs "Murer - Anatomie eines Prozesses" (taz, Dlf Kultur hat mit dem Regisseur gesprochen), das Serien-Remake von "Das Boot" (Berliner Zeitung), "Verliebt in meine Frau" mit Gérard Depardieu (Standard), Sandra Nettelbecks "Was uns nicht umbringt" (NZZ), Thomas Imbachs "Glaubenberg" (NZZ) und Kornél Mundruczós "Jupiter's Moon" (FAZ).
Archiv: Film

Architektur

Caption
Im südfranzösischen Arles macht derweil der Gehry-Tower auf dem Luma Arles, einem Kulturzentrum, Fortschritte, berichtet India Block auf Dezeen. "Gehrys Entwurf für die Fassade soll an die zerklüfteten Felsformationen in der Nähe der Stadt anknüpfen, die auch den ehemaligen Bewohner Vincent van Gogh inspirierten, sie 1888 zu malen. Im Inneren erinnert ein riesiges kreisförmiges Atrium an das römische Amphitheater in Arles, das zum Unesco-Weltkulturerbe der Stadt gehört. Der amerikanische Architekturkritiker Frank Miller bezeichnete Gehrys Entwurf als 'Edelstahl-Tornado', obwohl einige Einheimische ihn angeblich als zerknüllte Getränkedose abgetan haben."
Archiv: Architektur

Bühne

In der nachtkritik plädiert der Hamburger Dramaturg Christian Tschirner dafür, das Berliner Theatertreffen in die Provinz zu verlegen: "Worauf ich hinweisen möchte, ist die Tatsache, dass die Kunst und ihre Einrichtungen zwar Vielen gehören mag, aber gleichzeitig von sehr vielen nicht in Anspruch genommen wird. Das betrifft ganz verschiedene Menschengruppen und hat auch verschiedene Ursachen, eine davon ist unbestritten rein geografisch: Museen, Theater, Ateliers, Clubs und urbanen Orte sind in der Landschaft äußerst ungleich verteilt. In Städten und Metropolen häufen sie sich, während man in so genannten strukturschwachen Regionen oft vergeblich danach sucht. ... Erklärungen helfen da wenig. Um was zu tun und auch den eigenen Ansprüchen wie 'Solidarität statt Privilegien. Es geht um alle.' gerecht zu werden, mein Vorschlag: Theatertreffen raus aus Berlin!"

Das Problem mit der Political Correctness ist, dass man vor lauter Empörung über Formulierungen nie dazu kommt, auf Inhalte zu reagieren, meint im Interview mit der Berliner Zeitung der Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer, der gerade seine Bochumer Inszenierung "Volksverräter!!" nach Ibsens "Volksfeind" in Berlin auf die Bühne bringt. "Die AfD wäre sehr leicht politisch anzugreifen, wenn man öffentlich mehr über das Parteiprogramm sprechen würde, das von einem Hardcore-Neoliberalismus geprägt ist und nichts mit der wärmenden Jacke des Staates zu tun hat, die sich vielleicht der ostdeutsche Wähler erhofft: dass mit der AfD eine DDR light wiederkommen könnte. Stattdessen steht da Abschaffung der gesetzlichen Unfallversicherung, Abschaffung der Erbschaftssteuer, Privatisierung der Renten- und Arbeitslosenversicherung und so weiter. Das ökonomische Programm der AfD ist eine Politik für den oberen Mittelstand. Aber wir sprechen nur über die Pöbeleien und speicheln in den Talkshows wie die Pawlowschen Hunde zum hundertsten Mal auf deren Untergriffe gegen den Islam."

Weiteres: In der FAZ berichtet Anna Vollmer vom Theaterfestival Fast Forward in Dresden. Besprochen werden und Burghart Klaußners Erzählung "Vor dem Anfang" (nachtkritik), Timofej Kuljabins Inszenierung von Ibsens "Nora" am Schauspielhaus Zürich (SZ) und György Kurtágs Oper "Fin de Partie" an der Mailänder Scala (Zeit).
Archiv: Bühne

Design

In der NZZ schaudert es Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski vor der neuen Apple-Watch, die in der Werbekampagne als Heilsbringer inszeniert wird, obwohl es sich ja eigentlich um ein Allround-Überwachungsgerät handelt. Warum lieben die Leute es dennoch? "Weil es hier nicht um das bessere Wissen geht, sondern um Ästhetik. In der heutigen Ökonomie zählt weniger das alte Gespann von Gebrauchs- und Tauschwert als vielmehr der distinktive 'Inszenierungswert' (Adorno). Nicht das, was ein Ding kann, sondern das, was es ausstrahlt. Genau hier erkennt Apple seine Rolle: Man kombiniert die allgefälligen Diskurse um Gesundheit und Fitness mit dem eigenen Nimbus des innovativen Trendsetters und macht das Wearable, mit dem sich auch ganz praktisch telefonieren lässt, zum schmucken - Hermès und Nike sind selbstverständlich Kooperationspartner - Statussymbol des zeitgemäßen Wellbeing." (Gilt das nicht für diese Art der Kritik inzwischen genauso?)

Weiteres: In Domus weist Marta Milasi auf eine große Ausstellung zu 100 Jahren dänischer Keramik im Maison du Danemark in Paris hin. Besprochen wird eine Ausstellung über dänischen Schmuck im Bröhan-Museum in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Design

Kunst

David Reed, #658 (Vice and Reflection), 1975, 2016. Galerie Häusler Contemporary

Elke Buhr (Monopol) verbringt einen anregenden Nachmittag mit dem amerikanischen Künstler David Reed, der mit ihr durch seine Ausstellung in der Zürcher Galerie Häusler Contemporary geht. Reeds Werk, das Abstrakten Expressionismus, Farbfeldmalerei und Popart vereint, ist stark von Farben geprägt, erklärt sie. "Vier Bilder stechen heraus, schwarz-weiße extreme Hochformate, die fast an chinesische Kalligrafie erinnern. Ihnen liegen Kopien von Bildern zu Grunde, die Reed in den 70er-Jahren gemacht und dann zerstört hatte. Damals malte er noch viel minimalistischer, setzte schlichte, horizontale Pinselstriche auf die schmalen Leinwände. Als er einmal eine Diagonale hinzufügte, war es den Kritikern schon zu viel. Sie müssen dogmatisch gewesen sein, diese 70er in New York. Reed, verunsichert, zerstörte die Bilder. Erst jetzt glaubt er, verstanden zu haben, was ihn damals ritt. Die Diagonale, so zeigt er, entspricht einer sehr ursprünglichen Geste der Hand, sie verankert den Körper im Bild. Jetzt ist sie wieder da, und ein jüngerer Pinselstrich per 3-D-Drucker drübergelegt, wie ein anerkennender Stempel der Gegenwart. Hier ist einer einen weiten Weg gegangen und findet doch immer wieder zurück zur ursprünglichen Frage."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Haim Steinbach: Every Single Day" im Museum Kurhaus in Kleve (FAZ) und "Sie schrien: Polen! Unabhängig 1918" - eine Ausstellung polnischer Kunst aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Warschauer Nationalmuseum (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Im Interview mit der Zeit spricht der scheidende KiWi-Verleger Helge Malchow über Popliteratur, Autoren wie Gabriel García Márquez und David Foster Wallace und sein Credo als Verleger: "Das Grundmotiv meines Lebens ist das Gefühl: Ich habe noch was zu lernen, ich habe das Geheimnis der Welt noch nicht geknackt. Für mich ist sowohl die Literatur als auch das Sachbuch ein Erkenntnisinstrument. Sicher auch ein Impuls von 68, der bis heute anhält. Meine Verlagsarbeit war so eine Art privates Dauererziehungsprogramm, ein lebenslanges Studium. Was wüsste ich über England ohne Zadie Smith, über Paris ohne Virginie Despentes."

Für den Tagesspiegel hat Gerrit Bartels Riga besucht, wo man 100 Jahre Lettland feiert. Dabei ist man sich des großen Nachbarn, nicht zuletzt wegen der großen russischen Minderheit im eigenen Land, stets bewusst. "Erstaunlich ist vor diesem konfliktreichen Hintergrund, dass die zeitgenössische Literatur des Landes sich zunächst noch vermehrt der Aufarbeitung der Geschichte widmet. Eine Serie mit zehn historischen, bestimmte Dekaden betrachtenden Romanen gehörte zu den Bestsellern der letzten Jahre. Im Moment schreibt eine junge Generation von Autoren und Autorinnen lieber Lyrik, Comics und Kinder- und Jugendliteratur als realistische Gegenwartsprosa."

Außerdem: Mit starken Auftritten von Caren Jeß, Lara Rüter und Constantinides Tank war Open Mike Wettbewerb in diesem Jahr vor allem ein Triumph der Lyrik, während die Prosa eher vor sich hinbummelte, schreibt Frederic Jage-Bowler im Tagesspiegel. Die Zeit kommt heute mit Literaturbeilage: Im Aufmacher singt Iris Radisch ein Loblied auf die Dorf-Romane von Dörte Hansen und Kathrin Gerlof.

Besprochen werden die Ausstellung "Mon Oncle - Klaus und Heinrich Mann" im Deutschen Exilarchiv der Nationalbibliothek in Frankfurt (taz), Martin Walsers "Spätdienst" (online nachgereicht von der FAZ), Tomas Tranströmers "Randgebiete der Arbeit" (Standard), Hans Magnus Enzensbergers "Eine Handvoll Anekdoten" (SZ), Giuliano Musios und Manuel Kämpfers "Keinzigartiges Lexikon" (NZZ) und A.L. Kennedys "Süßer Ernst" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Thomas Schacher resümiert in der NZZ die Tage für Neue Musik in Zürich, deren Highlight für ihn die Aufführung von Cornelius Cardews Komposition "The Great Learning" aus dem Jahr 1970 war, dessen neun Stunden einfach via räumlicher Auffächerung eingedampft wurden, was mitunter zu komischen Szenen führte: "Klamauk, Provokation, Kritik am elitären Kunstbegriff? Von allem ein bisschen, denn Cardew, Achtundsechziger, Antiimperialist und Marxist, bezweckt mit diesem Werk die Demokratisierung der Kunst, die Auflösung des Gegensatzes zwischen musikalischem Werk und sozialer Aktion, die Überführung des Ästhetischen in das Ethische."

Marlen Hobrack berichtet in der Reihe "10 nach 8" auf ZeitOnline von den Genüssen und Vorzügen eines Metal-Moshpits und wie sich in der Szene ganz nebenbei Gender-Rollen aufbrechen, zumal gerade in den krasseren Spielarten des Genres immer mehr Frauen sich das Mikrofon schnappen: "Während die Kerle hart aussehen, aber gerade dadurch softe Seiten offenbaren können, borgen sich die Frontfrauen Elemente männlicher Geschlechterperformanz und kombinieren sie mit einem hyperweiblichen Look. Der Effekt ist erstaunlich. Es offenbart sich eine ganz neue Seite von Weiblichkeit, die hart und feminin zugleich ist. Wer hätte gedacht, dass all das in der vermeintlich hypermännlichen Metalwelt möglich ist? Whoo-oaa-arrghhh."

Weitere Artikel: Die Zeit kommt heute mit einer Beilage zu klassischer Musik: Im Aufmacher porträtiert Holger Noltze die Geigerin Franziska Pietsch. Christian Schachinger (Standard) und Michael Pilz (Welt) verabschieden sich von Heino, dessen neues Album sein letztes sein soll. Besprochen werden  Georges Gachots Kino-Dokumnentarfilm über Bossanova-Erfinder João Gilberto (taz), ein Auftritt des Vision String Quartets (Tagesspiegel), ein Konzert von Christiane Karg (FR) und ein Konzert des Alexander Schlippenbach Trios (FAZ).
Archiv: Musik