Post aus Kairo

Ungewollte Grobheiten

Von Götz Nordbruch
22.09.2006. Der Tod von Nagib Mahfus, der Jahrestag der Anschläge vom 11. September und nun die Rede des Papstes. Ägyptens Medien haben in der letzten Zeit eine Menge Diskussionsstoff bekommen.
Nicht alle Debatten sind grenzüberschreitend. Auch der ägyptische Alltag selbst füllt wenige Tage vor Beginn des Fastenmonats Ramadan um den 24. September so manche Kommentarspalte. Der Freispruch eines Mannes aus Mangel an Beweisen, der der bestialischen Ermordung von zehn Bewohnern eines oberägyptischen Dorfes beschuldigt wurde, hat die Öffentlichkeit ebenso beschäftigt wie das Zugunglück im Norden Kairos, bei dem - keine zwei Wochen nach einem ähnlichen Unglück ebenfalls im Norden der Hauptstadt - erneut zahlreiche Menschen umkamen. Weder bei dem überraschenden Urteil im sogenannten Beni Mazar-Prozess noch bei dem wiederholten Zugunglück handelt es sich um individuelle Schicksalsschläge, die in den Medien unter "Vermischtes" abgehandelt würden. Während in dem Mord-Prozess haarsträubende Ermittlungsfehler deutlich wurden, machten die Zusammenstöße der Züge den maroden Zustand des öffentlichen Transportwesens sichtbar. In der Öffentlichkeit stehen beide Fälle für eine ineffektive und korrupte staatliche Bürokratie, deren Mängel sich in solchen Ereignissen auf dramatische Weise offenbaren.

Um nicht weniger grundsätzlichere Fragen geht es jüngst in einer Kampagne, die von der ägyptischen Oppositionsbewegung Kifaya iniitiert wurde. Der Name bedeutet "Es ist genug!" und bezieht sich auf die langjährige Amtszeit von Präsident Hosni Mubarak. Kifaya gilt als breite Grassroot-Bewegung, die seit mittlerweile fast zwei Jahren mit Demonstrationen und Protesten auf sich aufmerksam macht. Anlass für die Entstehung der Bewegung war die weitverbreitete Verärgerung über den Stillstand im politischen Reformprozess, die abermalige Verlängerung der Notstandsgesetze und vor allem die 2005 anstehende Wiederwahl Mubaraks. Als demokratische Hoffnung wurde die Bewegung lange vor allem in den USA und in Europa geschätzt, mit ihrer neuen Kampagne könnten diese Sympathien nun auf dem Spiel stehen. Eine Million Unterschriften will die Bewegung sammeln, mit denen die Forderung nach einer Annullierung der Friedensverträge von Camp David mit Israel unterstützt werden soll. Während solche Positionen in den halbstaatlichen Medien noch immer selten sind, ist die Debatte im Internet dafür umso kontroverser. Forderungen nach einem offenen Konflikt mit Israel wird von den Befürwortern des Friedensvertrages vor allem die relative Stabilität entgegengehalten, welche die ägyptische Gesellschaft im Vergleich zu seinen arabischen Nachbarländern genießt. Bei aller Problematik der Beziehungen, so die Argumentation dieses immer kleiner werdenden Friedenslagers, würde eine Kündigung der Verträge mit Israel unabsehbare ökonomische und politische Auswirkungen haben. Nach den jüngsten Ereignissen in Gaza und im Libanon erleben Forderungen wie jene von Kifaya allerdings erneut spürbaren Auftrieb.

Lebendig ist auch ein Streit, der die Öffentlichkeit direkt betrifft, bisher aber weitestgehend unter Journalisten allein ausgetragen wurde - dafür aber mit umso größerer Schärfe. Vorläufiger Höhepunkt war eine Fernseh-Talkshow des Senders Orbit TV, in der der Leiter des staatlichen Verlagshauses Ruz al-Yusuf mit seinem Gegenüber, dem Leiter des oppositionellen Verlagshauses al-Karama aneinander geriet. Während sich der eine als "Agent der Polizei" beschimpfen lassen musste, kam es für den anderen nicht besser: "Er sei ein Agent anderer Staaten, zum Beispiel des Iraks oder Libyens" hallte es zurück. Hintergrund dieses Streits, der nun schon seit Wochen auch innerhalb des Presseverbandes ausgetragen wird, ist die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Presserechtes. Bis heute drohen Journalisten und Verlegern, die sich beleidigend über den Präsidenten äußern, empfindliche Strafen. Gerade oppositionelle Zeitungen wurden so in der Vergangenheit Opfer staatlicher Repressionen. Schuld daran sind nicht nur repressive Gesetze, sondern auch die Existenz einer sogenannten "nationalen Presse". Diese Presse, zu der unter anderem das Verlagshaus al-Ahram, aber auch die Verlage Akhbar al-Yawm und Ruz al-Yusuf gehören, steht in direkter Abhängigkeit von der Regierung. Während dies der Berichterstattung deutliche Grenzen setzt, profitiert die "nationale Presse" von ihren Beziehungen zum Apparat. Es sind diese Zeitungen, die in der Regel detailliert über den Präsidenten und die Regierung - kurz: über maßgebliche Fragen der Politik - berichten können. Der Ausschluss vom Informationsmonopol ist so zumindest eine Ursache, der die dürftige Qualität der Oppositionszeitungen zu erklären vermag. Nach der jüngsten Eskalation des "Zeitungskrieges", wie die Auseinandersetzung mittlerweile genannt wurde, einigten sich die Herausgeber verschiedener Zeitungen am Wochenende nun auf einen "Waffenstillstand".

Und dann die Rede des Papstes. Anders als im Falle der Muhammed-Karikaturen im Frühjahr ging diesmal alles sehr schnell. Kaum zwei Tage nach der Regensburger Vorlesung des Papstes riefen die ägyptischen Muslimbrüder auf ihrem Internetportal Ikhwan-Online zum Protest. Neben muslimischen Gelehrten, die ihre Wut über die Äußerungen von Benedikt XVI. zum Ausdruck brachten, kam hier auch ein führender Vertreter der koptischen Gemeinde zu Wort. Die Rede sei eine Provokation der Muslime und gebe in keinem Fall die Meinung der katholischen Kirche wieder, sagte Nabil Luqa Bibawi, der als Abgeordneter auch im ägyptischen Parlament vertreten ist. "Sie könnte das Tor zu einem konfessionellen Krieg aufstoßen." Die nationalistische Zeitung el-Osboa, die in der Vergangenheit wiederholt mit atemberaubenden Verschwörungstheorien aufmachte, titelte mit einer noch deutlicheren Überschrift "Der Vatikan spielt auf den Kriegstrommeln der Kreuzzüge".

Selbst die Zeitschrift Ruz al-Yusuf - eine traditionsreiche Zeitschrift, die sich in der Vergangenheit vor allem auch durch ihre Kritik an einheimischen Missständen einen Namen gemacht hat - griff am vergangenen Wochenende zu ähnlichen Formulierungen. Sie warnte vor "weltweiten konfessionellen Spannungen" und einer Stärkung der islamistischen Bewegungen. In einer Zeitschrift, die sich dem Kampf gegen den einheimischen Islamismus verschrieben hat, der das Land seit Jahren beutelt, ist dies kein geringer Vorwurf - zumal er hier noch durch den Verdacht verschärft wird, der Papst hätte sich durchaus bewusst zu einer solchen Provokation hinreißen lassen. Das Titelbild der Zeitschrift schmückt eine Zeichnung des Papstes, an dessen Halskette statt eines Kreuzes ein Hakenkreuz baumelt.

Im Sinne der ägyptischen Regierung ist all dies nicht. Sie sieht sich im Zugzwang, sich mit ihrem regionalen und internationalen Gewicht für die Verteidigung des Islam stark zu machen. An einer Eskalation wie im vergangenen Frühjahr ist ihr aber nicht gelegen. Die Muslimbrüder - bis heute offiziell verboten, aber de facto mit über 80 Sitzen im Parlament - könnten durch ihre Kampagne gegen den Papst noch an Popularität gewinnen. Kein gutes Omen im Vorfeld von richtungsweisenden Entscheidungen, die in der näheren Zukunft in Ägypten anstehen. Neben der Suche nach einem potentiellen Nachfolger für den 78-jährigen Präsidenten Hosni Mubarak, der seit mittlerweile fast 25 Jahren regiert, werden von der Opposition auch immer wieder grundlegende Reformen der Verfassung angemahnt. Übergriffe gegen koptische Christen, wie sie in den vergangenen Jahren mehrfach zu beklagen waren, könnten das Regime in der jetzigen Situation nur destabilisieren. In der regierungsnahen Tageszeitung al-Ahram gibt man sich daher angesichts der Rede des Papstes zwar schockiert, mahnt aber ausdrücklich zur Ruhe: "Ja, wir sind zornig und wir müssen diesen Zorn auch zum Ausdruck bringen. Aber wir sollten nicht auf die Straße gehen, wir sollten nicht demonstrieren", heißt es in einem Kommentar unter dem Titel "Oh Gemeinde des Islam!" Es gelte eine Lösung für die beständigen Beleidigungen des Islam zu finden, aber mit "Ruhe, Vernunft, und Ausgewogenheit."

Ein ähnlicher Tenor prägte schon die Kommentare, die sich anlässlich des Jahrestages der Anschläge in New York und Washington mit der Gefahr des Islamismus und dem von den USA ausgerufenen "Krieg gegen den Terror" beschäftigten. Während die oppositionellen Medien vor allem auf die einseitige Haltung der USA im israelisch-palästinensischen Konflikt hinweisen, in der die wesentliche Ursache für die weltweite Eskalation liege, betonten die regierungsnahen Medien einen weiteren Aspekt. Wichtig sei, hieß es beispielsweise in einem Artikel in al-Ahram vom 11. September, dass es sich beim Problem des Terrors nicht allein um ein Problem des Westens, sondern auch um ein Problem der arabischen Länder selbst handele. Schließlich sei Hosni Mubarak der Erste gewesen, der vor der Bedrohung des Terrorismus gewarnt habe, schreibt Abd al-Rahim Ali. Schon 1986 habe Mubarak in einer Rede gegenüber dem Europarat eine internationale Konferenz gefordert, die die Bekämpfung von Terrororganisation, aber vor allem auch die Bekämpfung der gesellschaftlichen Ursachen des Terrors angehen müsse. Unausgesprochen, aber doch deutlich, ist dabei die Kritik, dass die USA und auch Europa in jener Zeit von einer Gefahr des Islamismus nichts hören wollten. Schließlich waren es die westlichen Länder, die die Mudschaheddin im Afghanistan der 1980er gegen die UdSSR unterstützen und damit erst jene Gruppierungen stärkten, die sie heute verzweifelt bekämpfen.

In all dies platzte die Nachricht vom Tod Nagib Mahfus'. Mit dem Tod des 94-jährigen ägyptischen Literaturnobelpreisträgers geht eine Ära zu Ende. Der Romancier prägte die ägyptische Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie kein Zweiter. "Der letzte Liberale" titelte die Literaturzeitschrift Akhbar al-Adab, von der "Hirtenrolle" Mahfus' für die Generation der 1960er Jahre schrieb ein anderer Autor in der gleichen Zeitschrift. Angesichts der zahlreichen Brüche, die die ägyptische Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten durchmachte und Mahfus dennoch nicht zum Schweigen bringen konnten, gerät sein Erbe zwangsläufig zu einem Politikum. Nicht nur in seiner Literatur, sondern in seiner Biographie selbst lässt sich diese Geschichte des modernen Ägyptens verfolgen.

Ausgerechnet Sayyid Qutb, der sich mit seinen Theorien über den Verfall der Gesellschaft und den notwendigen Kampf gegen die Juden und andere vermeintliche Feinde des Islam in den 1950er Jahren zum radikalen Vordenker der islamistischen Bewegung entwickelte, zählte zu den ersten, die in den 1940er Jahren auf die frühen Schriften Mahfus' aufmerksam wurden. Trotz einer Freundschaft, die beide zunächst verband, war es das Denken Qutbs, welches den Attentäter inspirierte, der Mahfus 1994 mit einem Messer lebensgefährlich verletzte. Die Kulturzeitschrift al-Qahira brachte vor diesem Hintergrund nun einen langen Auszug aus einem Gespräch mit Mahfus, in dem er den Wandel seines Verhältnisses zu Qutb beschreibt. "Was bringt eine Diskussion mit einem Mann, der ein solches Stadium des fanatischen Denkens erreicht hat", gibt Mahfus seine damalige Enttäuschung nach seinem letzten Treffen mit Qutb in den 1960er Jahren wieder. Aber schon lange vor dem Anschlag hatte Mahfus guten Grund, vor einem zunehmend repressiver werdenden Verständnis von Religion zu warnen. Bereits 1959 wurde eine Veröffentlichung seines Werkes "Die Kinder unseres Viertels" wegen vermeintlicher Gotteslästerung verboten.

Angesichts der fortwährenden Bedeutung Mahfus' als Literat konnten sich auch diese Kreise, die seinem Denken bis heute feindlich gegenüberstehen, seinem Renommee nicht vollständig verwehren. Nach seinem Tod reiht sich nun auch die Muslimbrüderschaft energisch in die Reihe der Trauergäste ein. Auf ihrer Website erinnern sie an den Besuch eines Mitglieds aus ihrem Führungsgremium, der Mahfus bei einem seiner legendären wöchentlichen Treffen mit engen Freunden im Dezember 2004 aufgesucht hatte. Der Anschlag auf Mahfus durch einen Islamisten habe lange Zeit "ungewollte Grobheiten zwischen Literaten und Kulturschaffenden auf der einen und Islamisten im Allgemeinen auf der anderen Seite" provoziert, heißt es jetzt von Seiten der Muslimbrüder. Das Treffen mit Mahfus anlässlich seines 93. Geburtstages habe daher "eine wertvolle Gelegenheit geboten, so manchen Schutt beiseite zu schaffen, den säkulare wie religiöse Fanatiker gleichermaßen verstreut" hätten.

Ähnliche Versuche einer posthumen Annäherung kamen aber auch aus einer anderen Ecke - und stießen auf heftigen Widerspruch. Zahlreiche Kommentare von Vertretern der Opposition brachten ihre Verärgerung über das vereinnahmende staatliche Zeremoniell zum Ausdruck, das dem Schriftsteller bereitet wurde. Dass gerade Mahfus, der "sein Leben lang in Cafes mit Intellektuellen und Armen" verbracht hatte, nun in Anwesenheit von Präsident Mubarak und anderen staatlichen und religiösen Würdenträgern mit einer militärischen Bestattung bedacht würde, sei eine Komödie, hieß es in der Zeitung Sawt al-Umma. Während Hunderttausende Ägypter ausgeschlossen blieben, dienten die Trauerfeiern letztlich nur als Bühne für einen fünfminütigen Auftritt Mubaraks - "von dem man weder in einer Rede, noch bei einer Konferenz, noch in einem Zeitungs- oder Fernsehinterview" jemals auch nur "einen Satz oder ein Wort aus der Literatur von Nagib Mahfus" vernommen habe.

Eine Chance, seinen Ruf zu verbessern, bietet sich Mubarak diese Woche. Bei dem dreitägigen Parteitag der regierenden National Democratic Party, der an diesem Dienstag beginnt, soll es erneut auch um grundlegende politische Reformen gehen. Das Motto der Veranstaltung ist vielversprechend: "Neues Denken und ein zweiter Sprung in Richtung Zukunft".