Efeu - Die Kulturrundschau

Die Kisten leben

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11.07.2015. Dichter in die Galerien, ruft Zeit online. Das Gedicht muss "sein Schweigen im Gelärm der Jetztzeit" behaupten, forderte dagegen laut NZZ der Dichter Henri Meschonnic. Viktor & Rolf hängen Haute Couture an die Wand. In Vice spielt Ai Weiwei mit seinen Überwachern. Die Welt verzweifelt an der Allzuständigkeit der allerneuesten Kunst. Die FR stellt die beste Fernsehserie vor, die niemand sieht. Die taz schildert die Lage von Musikern im Iran.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.07.2015 finden Sie hier

Literatur

Dass man Lyrik in Büchern verkauft, mag darin begründet sein, dass sie so überhaupt verkaufbar wird - doch selbst dies gelingt mit Blick auf die Verkaufszahlen höchstens im Falle Jan Wagners, meint Thomas Böhm auf Zeit online. Er plädiert daher für eine Rückkehr zum Gedicht als vereinzelte Sprachmeditation - oder gleich für das Gedicht als Exponat. Denn Lyrik sei "genau das: Sprachkunstwerk, Sprachinstallation, Sprachperformance. Der Einzug der Lyrik in die Kunstgalerien - oder in noch zu gründende Lyrikgalerien - würde von den Rezeptionsroutinen der Bildenden Kunst profitieren. ... [Man] wäre offen für die Begegnung mit der Kunst, wäre bereit, sich für eine gewisse Zeitspanne von schätzungsweise 45 bis 60 Minuten etwas Unvertrautem auszusetzen und hätte Lust am Austausch mit anderen Besuchern. Bei der Vernissage neuer Gedichte."

Henri Meschonnic hätte diese Idee verabscheut! Das Gedicht muss "sein Schweigen im Gelärm der Jetztzeit" behaupten, zitiert Felix Philipp Ingold in der NZZ den 2009 verstorbenen französischen Dichter und Dichtungstheoretiker, Sprachphilosophen und Bibelübersetzer: "Die Frage nach dem Gedicht (wie auch die allfällige Antwort darauf) schließt bei ihm - noch eine Provokation! - den Dichter und sogar die Dichtung aus: Das Gedicht, so betont er stets aufs Neue, entsteht im Gegenzug zur Dichtung und auch im Gegenzug zum Willen des Dichters. Es entsteht, um für sich selbst einzustehen, und es selbst ist die Gesamtheit dessen, was jeweils in ihm verwahrt ist und aus ihm spricht: ein "Ich - hier und jetzt", mithin ein geschichtlicher Moment, aber auch eine "poethische" Qualität, in der ethische und poetische Komponenten zu einem (zu seinem) "Wert" fusionieren: "Unaufhebbare Interdependenz und Interaktion von Sprache, Wirklichkeit und Ich.""

Weitere Artikel: Im Aufmacher der Literarischen Welt freut sich Richard Kämmerlings über den Büchner-Preis für Rainald Goetz, auch wenn er etwas zu spät kommt: "weil der literarische Ansatz, für den Goetz jetzt allerorten gefeiert wird, durch die rasante Medienevolution endgültig obsolet geworden ist. Gegenwartsmitschrift? Dann meld" dich doch bei Twitter an". Und Marc Reichwein bekennt, dass er erst mit Goetz zum Feuilletonleser wurde: "Goetz war für uns einige Jahre lang ein regelrechter Feuilletondiskursmitschnittdienst. Eine Art Perlentaucher in manisch. Wann immer Goetz sich zu irgendeinem Thema oder irgendeiner Person geäußert hatte, schien es auch uns relevant." Online nachgereicht ein Gespräch in der Zeit mit dem Lyriker Uwe Kolbe und dessen Sohn, dem Rapper Mach One. In der FR empfiehlt Sabine Vogel Vögel-Bücher. In ihrer Wochenendausgabe bringt die SZ das erste Kapitel aus Harper Lees bislang als verschollen gegoltenem Roman "Gehe hin, stelle einen Wächter". In der Welt erzählt Wieland Freund die deprimierende Geschichte eben dieses Romans.

Besprochen werden Otto A. Böhmers Novelle "Calwer Frühling" (FR), Felix Francis" Krimi "Schwesterherz" (taz), Volker Hages "Die freie Liebe" (taz), Paul Hardings "Verlust" (FR), Alain Mabanckous Roman "Morgen werde ich zwanzig" (NZZ), Andrzej Stasiuks Reiseprosa "Der Stich im Herzen" (Welt), Ulla Lenzes Roman "Die endlose Stadt" (Welt), Ulrike Almut Sandigs Erzählband "Buch gegen das Verschwinden" (Welt), Paul M. Cobbs islamische Geschichte der Kreuzzüge "Der Kampf ums Paradies" (Welt), Victor Klemperers Tagebuch über die Münchner Räterepublik von 1919 (Welt) und Barbara Lehmanns "Eine Liebe in Zeiten des Krieges" (FAZ).
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Design

"Tragbare Kunst" nennen Viktor & Rolf ihre neue Haute Couture Kollektion. Das ist wörtlich zu verstehen: Die Kleider bestanden aus unbemalten und bemalten Leinwänden samt Bilderrahmen, die die beiden Couturiers auf dem Laufsteg um die Models drapierten:



Weiteres: Für die FR begeht Christian Thomas eine Ausstellung des Frankfurter DAM mit Galina Balaschowas Entwürfen für die Interieurs sowjetischer Raumstationen und -kapseln. Mitunter erlebt er dabei "die Raumfahrt als religiös motiviertes Sendungsbewusstsein". Bereits im Januar hatte sich Jana Simon für das ZeitMagazin mit Balaschowa über deren Arbeiten unterhalten.

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Kunst

Jamie Fullerton interviewt für Vice Ai Weiwei, der plötzlich in Peking eine - scheinbar oder tatsächlich - unpolitische Ausstellung machen darf. Illusionenen macht er sich nicht - und spricht auch über das Spiel mit der Überwachung: "Ich habe zu ihnen gesagt: "Ich habe nichts zu verbergen, ihr habt nichts zu verbergen." Deshalb lud ich sie auch in mein Büro und in meine Wohnung ein. Ich habe auch mal selbst eine Kamera in meinem Schlafzimmer über meinem Bett installiert, um mich für mein Projekt "WeiweiCam" zu zeigen. Ich habe dann ganz vergessen, dass das Gerät noch da war, und bekam schließlich einen Anruf von der Polizei: "Weiwei, entferne die Kamera." Ich fragte, ob das eine Bitte oder ein Befehl sei. Es war ein Befehl."

Unter den argwöhnischen Augen des "Prof. Dr. h.c. mult. Peter Weibel" zieht Hans-Joachim Müller für die Welt tapfer durch das Globale genannte "Fest der Allzuständigkeit" des ZKM Karlsruhe und schämt sich dafür, dass es ihm "partout nicht gelingt, an "die Vielfalt und den Reichtum der gegenwärtigen Kunst" zu glauben, die der "Globale"-Prospektor jenseits der Markt- und Auktionskunst entdeckt hat. Jedenfalls könnte diese Markt- und Auktionskunst die bescheidenere Variante darstellen. In der Karlsruher Innenstadt hängt ein Mehrfamilienhaus mit Wurzelballen an einem Baukran. Für die "Globale". Derweil ist der Aktionskünstler HA Schult mit einem Toyota Hybrid unterwegs von Paris nach Peking. Höhepunkt wird eine Weltpressekonferenz an einem Wasserloch in der Wüste Gobi!"

Besprochen wird eine Ausstellung im Berliner NGBK mit Kunst von den türkischen Gezipark-Protesten (Tagesspiegel).
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Bühne

Manuel Brug lädt die Wagner-Sängerin Waltraud Meier für die Welt zu einem Teller Penne all"arrabbiata ein. In der NZZ gratuliert Thomas Baltensweiler dem Tenor Nicolai Gedda zum Neunzigsten. Besprochen wird Luigi Nonos am Staatstheater Darmstadt aufgeführter "Prometeo" (FR, FAZ).
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Film

Nach drei Staffeln wurde die exquisit morbide NBC-Serie "Hannibal" vom Sender eingestellt. Sehr schade, findet Patrick Schlereth in der FR, handelte es sich dabei doch um "eine meisterhaft inszenierte Reflexion über die Regeln der Gewaltdarstellung. Die Serienmörder verstehen sich hier als Künstler. ... Die Stärke der Serie liegt in der surrealen Bildsprache irgendwo zwischen David Lynch und Stanley Kubrick, die immer wieder nach den Grenzen zwischen Ethik und Ästhetik fragt." Als Ersatz könnte man Schlereth vielleicht die Serie "Rectify" empfehlen. Die geht zwar gerade in die dritte Staffel, hat aber jeden Zuschauer bitter nötig, wie ein dennoch völlig enthusiastischer David Sims beim Atlantic schreibt: "No television product wants the title "Rectify" has now claimed for two years in a row: the best show nobody"s watching. Toiling away on the Sundance Channel, the Southern Gothic tale of a man freed from death row after 19 years has received the kind of rave reviews that keep a show on the air despite desperately low ratings."

Zum Tod von Omar Sharif schreiben Fritz Göttler und Sonja Zekri in der SZ, Hanns-Georg Rodek in der Welt, Patrick Straumann in der NZZ, die dem ägyptischen Schauspieler außerdem eine schöne Bildstrecke widmet. Hier kann man ihn sehen als jungen Schauspieler zusammen mit seiner Geliebten Fatin Hamama in dem ägyptischen Film "The Love River" von 1960 (englische Untertitel über den Einstellungs-Button aktivieren):



Weitere Artikel: Auf critic.de empfiehlt Lukas Foerster den Berlinern eine Reihe mit Filmen von Don Siegel im Kino Arsenal. In Israel zieht ein Dokumentarfilm über Jigal Amir, den Mörder Jitzchak Rabins, Kontroversen auf sich, berichtet Hans-Christian Rössler in der FAZ.

Besprochen werden Dietrich Brüggemanns Nazi-Komödie "Heil" ("höchstens halbsmart", beklagt sich Matthias Dell in der taz), Asif Kapadias Filmbiopic "Amy" (NZZ), "Terminator: Genisys" (NZZ), Jochen Alexander Freydanks Kafka-Verfilmung "Der Bau" (Welt) und die Bundeskanzlerinnen-Komödie "Die Eisläuferin" mit Iris Berben (FAZ, hier in der arte-Mediathek).

Und eine Stöberanregung zum Wochenende: Auf dem Blog Eskalierende Träume hat der Mainzer Filmkritiker Sano Cestnik die mit vielen weiterführenden Links versehene Liste seiner aktuellen 100 Lieblingsfilme veröffentlicht - darunter erfreulich wenige Kanonfilmen, dafür umso mehr lockende Entdeckungen.
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Musik

Seine Versprechen, die iranische Kulturpolitik und insbesondere die rigorose Handhabe von Musikveranstaltungen zu lockern, hat Präsident Rohani seit seinem Amtsantritt kaum einlösen können. Der Grund liege im noch immer starken Einfluss konservativer und islamistischer Kräfte im Land, bis hin zu Ordnungskräften, die bereits genehmigte Konzerte eigenmächtig unterbinden, wie Bahman Nirumands Bericht in der taz zu entnehmen ist. "Zu den wenigen Pluspunkten, die das Kulturministerium im Bereich der Musik für sich buchen kann, gehört aber immerhin die Wiedereröffnung des Teheraner Symphonieorchesters. ... Doch die populären iranischen Musikgruppen stehen besonders unter Druck. Viele Auftritte werden von den Ordnungskräften und der Justiz von vornherein untersagt. Als Vorwand dienen dafür oftmals von den Islamisten inszenierte Protestkundgebungen, die im Vorfeld aggressiv auftreten und mit Störungen drohen."

Der Musiker Michal Matlak vom Analog Roland Orchestra pflegt ein sehr inniges Verhältnis zu seinen originalen Analogsynthesizern, wie sich dem Tagesspiegel-Gespräch mit Andreas Hartmann entnehmen lässt: "Schon wenn man sie anmacht, merkt man, dass die Kisten leben, das sind richtige Persönlichkeiten. ... Die Maschinen werden alt und das merkt man ihnen an und trotzdem hängt man an ihnen. Über eine meiner Maschinen scheint mal ein Auto gefahren zu sein ... Bis heute macht sie immer wieder Probleme, aber für mich ist sie wie so ein Hund mit drei Beinen, man pflegt ihn und mag ihn trotzdem." Hier gibt es einige Hörproben:



Für Mass Appeal unterhält sich Christian Hernandez mit dem allseits gefeierten Jazzsaxofonisten Kamasi Washington über den Einfluss von Hip-Hop auf dessen Musik: "I would say of any rapper, Busta Rhymes has the most effect on me directly as a rapper. Like, I used to just straight up kinda transcribe Busta Rhymes" raps and try to play them on the saxophone."

Milena Fee Hassenkamp trifft sich für den Freitag mit den Humorrappern von K.I.Z.. Die Spaßigkeit ist ihrem neuem Album allerdings gründlich ausgetrieben worden, berichtet Jeanne Bindernagel in der Jungle World: Vielmehr suchen sie die "harte Konfronta­tion mit einer unerträglichen Wirklichkeit voller Stumpfsinn und Zweckrationalität". Hier die erste, um eindeutige Statements nicht verlegene Singleauskoppelung:



Weitere Artikel: Meaghan Carvey (Pitchfork) porträtiert Soulja Boy. "In ihrer Sache haben die Fans immer Recht", denkt sich Thomas Mauch (taz) nach Besuch der Ausstellung "Passion - Fan-Verhalten und Kunst" im Berliner Künstlerhaus Bethanien. Eine schlicht "Disco" betitelte Box mit den ersten drei, noch in den 70ern aufgenommenen Alben von Grace Jones gibt Sylvia Prahl (taz) als "gut gealtertes Werk keinen Anlass, an das Ende der Party zu denken." Den obligatorischen "Streaming entwertet die Musik"-Artikel bringt diese Woche die FAZ: Philipp Krohn hat sich dafür auf einer kleinen Weltreise, die ihn von Frankfurt bis nach Nashville brachte, von Sammlern und Musikern erzählen lassen, dass Musik überhaupt nur auf physischen Tonträgern wertgeschätzt werden könne.

Besprochen werden das neue Album der Sleaford Mods (Pitchfork), die Veröffentlichung von Duke Ellingtons bei Krautrock-Produzent Conny Plank aufgenommener Session (Pitchfork), eine Werkschau des Decoder Ensembles (die den überfäligen Beweis dafür erbringt, "wie aktuell und geil zeitgenössische Musik sein kann", jubelt Curt Cuisine von Skug) und ein Konzert von Mary J. Bilge (FR).
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