Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.01.2004. In der NZZ bekennt Peter von Matt seine Verachtung für Verächter von Schillers "Tell". Die FR feiert fünfzig Jahre Soul. Die taz wurde Zeuge der Rückkehr des Gegenstands in die Malerei. Die FAZ staunt über den Ausdrucksreichtum der Triangel. In der Welt verteidigt Ulrike Ackermann ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin.

NZZ, 03.01.2004

Peter von Matt (mehr hier) legt einen wunderschönen, historisch ausgreifenden Essay über Schillers "Tell" vor, der im März vor 200 Jahren uraufgeführt wurde. Unter anderem preist er Schillers Formsinn und wendet sich damit auch gegen eine weit verbreitete Tendenz, sich über das Stück nur zu mokieren: "Kein anderes Stück wurde so oft parodiert und verdümmlicht. Ihm gegenüber regredieren auch heute noch erwachsene, intelligente, künstlerisch erfahrene Leute zu kichernden Gymnasiasten, die sich auf dem Niveau von Maturazeitungen bewegen und darüber begeistert sind. Die berechtigte Kritik an der innenpolitischen Funktionalisierung des Stücks hat die gewaltsamen Vereinfachungen, statt sie der Analyse zu unterziehen, weitergeführt."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann glossiert die genetische Unfähigkeit der Franzosen, auch nur einen ausländischen Namen richtig zu schreiben. Peter Hagmann gratuliert dem Basler Musikwissenschaftler Ernst Lichtenhahn zum Siebzigsten. Hanno Helbling analysiert die Textsammlung "Glaube und Kultur" die vom päpstlichen Rat für Kultur vorgelegt wurde und in der es weitgehend um Auseinandersetzung mit Nichtgläubigen geht.

Besprochen werden ein Buch über den Städtebau in Stalin, der dritte Band der "Dits et ecrits" von Foucault und Arthur Phillips' Roman "Prag" (mehr hier).

Literatur und Kunst eröffnet eine kleine Reihe über Perspektiven der Lyrik, die von Lyrikern selbst aufgewiesen werden sollen. Heute beginnt Lutz Seiler ("vierzig kilometer nacht") mit einem "Versuch zu einer Antwort auf die Frage, wohin das Gedicht heute unterwegs ist". Sein Text ist sehr persönlich. Er schreibt, dass er beim Militärdienst in der NVA ohne Vorwarnung anfing zu dichten - während seine Kameraden Holzsägearbeiten in thüringischer Tradition ausführten. "Mir gelang nur ein einziges Stück, ein dreikalibriger Kerzenhalter, für den ich im Laufe mehrerer Tage die Reserve-Sägeblätter aller meiner Kameraden zerbrach, es war nicht mein Medium."

Auf der italienische Lyriker Alberto Nessi antwortet auf die Frage "wohin die Dichtung geht". Sein erster Satz: "Die Dichtung geht dorthin, wo die Prosa der Welt sie hinführt." Zum Dossier gehört außerdem Roman Buchelis Besprechung einer Neuausgabe von Walter Höllerers "Theorie der modernen Lyrik" (mehr hier).

Besprochen werden auch einige Neuübersetzungen englischer und amerikanischer Klassiker, darunter Jane Austens Roman "Stolz und Vorurteil" (mehr hier) bei Manesse, Henry James' Erzählung "The Aspern Papers" (mehr hier)im Triptychon-Literaturverlag und Salingers Roman "Fänger im Roggen" (mehr hier) bei Kiepenheuer und Witsch.

SZ, 03.01.2004

Das deutsche Architekturbüro Fink und Jocher baut eine Stadt in China. Tobias Timm nennt erstaunliche Zahlen: "Nicht nur der Name der neuen Stadt ist so lang, dass die Architekten mit der Abkürzung HGNT arbeiten: 250 Quadratkilometer umfasst das riesige Planungsgebiet, von dem derzeit noch ein gutes Stück unter Wasser steht. Zum Vergleich: Die größte neu beplante Fläche im München der letzten Jahre war der Messeneubau bei Riem. Ein Großprojekt auf immerhin 0,5 Quadratkilometer. Das Gebiet um den Potsdamer Platz in Berlin misst nicht einmal 0,2 Quadratkilometer."

Zum neuen Jahr schreibt Ulrich Raulff einen großen Besinnungsaufsatz zum Thema Toll-Collect, inklusive Erörterung der deutschen Autobahn und des unfassbar umfassenden Straßennetzes. Feuilletonismus at its ..., naja, entscheiden Sie selbst: "Das Interessante an dem Unternehmen liegt ja nicht in seinen kuriosen Anlaufschwierigkeiten, sondern darin, dass es - in seiner Potenz als bundesweiter Bewegungsmelder - zwei große utopische und gegenläufige Projekte der Moderne verschmilzt, das Projekt Freiheit und das Projekt Sicherheit. Dass sich dies in Deutschland auf Grundlage der Autobahn vollzieht, ist von einer fast unheimlichen Folgerichtigkeit." In einem artverwandten Artikel gratuliert Axel Rühle der deutschen Parkuhr zum fünfzigsten Jahr der Einführung.

Weitere Artikel: Aus Spanien berichtet Annette Knetsch, dass der Nationaldichter Federico Garcia Lorca exhumiert werden soll - eventuell. Auch aus dem Süden, aus Konstanz genauer gesagt, vermeldet Jürgen Berger, dass es dem dortigen Theater dank Intendantin Dagmar Schlingmann vergleichsweise gut geht. Simone Kaempf verabschiedet sich von der Performance-Truppe Nico & the Navigators (Website).

Besprochen werden Ideenentwürfe von Peter Paul Rubens in der Courtauld Gallery, der Film "Kalender Girls", Rolf Schübels Melodram "Blueprint" und Bücher, darunter eine Neuedition von Thomas Manns "Lotte in Weimar" und Stefan Beuses Roman "Meeres Stille" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.)

In der SZ am Wochenende erzählt der Schriftsteller Martin Z. Schröder (mehr) aus seiner Familiengeschichte: "Viele Männer aus meiner Familie waren Handwerker - ich bin auch einer. Der Nebel der Geschichte verzieht sich, das Bild eines Berliners wird klar: Ich bin Sohn ostpreußischer Hugenotten und Salzburger Protestanten, ein Einwandererkind also wie jeder Berliner Türkensohn. Wir sind nur ein wenig länger hier."

Aus New York berichtet Lars Jensen von Ben Evidente, der Schuhe verkauft, aber nicht einfach so: "An einem normalen Samstag wie diesem verkauft Evidente zwischen 100 und 150 Paar Schuhe, die Hälfte davon sind telefonische Bestellungen. Das macht etwa 200 000 Dollar Umsatz. Wie hoch seine Provision ist, will er nicht sagen, aber er gibt zu, dass er der bestbezahlte Schuhverkäufer auf dem Planeten ist."

Außerdem: Nochmal ein Abgesang auf Michael Jackson, ein recht wohl meinender, von Ingo Mocek. Juan Moreno macht sich Gedanken zum Neuen Jahr, über Speed-Daten und Kontakt-Börsen. Im Interview gibt der Hirnforscher Hans Joachim Markowitsch guten Rat: "Alles, was dem körperlichen und seelischen Wohlbefinden dient, ist auch gut für das Gehirn."

FR, 03.01.2004

Ein Geburtstagsartikel der etwas anderen Art. Adam Olschewski feiert fünzig Jahre Soul: "Es war um die Mitte der fünfziger Jahre, als Sam Cooke über eine Grenze schritt und Ray Charles ihm knapp dahinter folgte - vielleicht aber war es umgekehrt: Charles schritt und Cooke folgte (dann war "I Got a Woman" von 1954 der erste Soulhit). Plötzlich, es dürfte dunkel um sie gewesen sein, standen beide im unerforschten, sumpfigen, noch unwirtlichen Gelände irgendwo zwischen Gospel und Rhythm & Blues, mit einem Fuß im Sakralen (die Kapelle, der Reverend, der Chor, ein Gott), mit dem anderen auf profanem Grund (die Tanzveranstaltung, der Trieb, das Gel im Haar), doch nirgendwo richtig zugehörig."

Weitere Artikel: Abgedruckt wird eine gekürzte Fassung der Rede, die die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises an Norbert Gstrein (mehr) hielt. Vom Streit um die Bremer Stadthalle und dem "geplanten Umbaufrevel" berichtet Oliver Herwig. Renee Zucker erzählt in ihrer Zimt-Kolumne post-weihnachtlich von Haschgebäck und anderen Plätzchen. Daniel Kothenschulte hat nichts dagegen, dass Dai Sije in der Verfilmung seines eigenen Bestsellers "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" Mao nicht von der Bettkante stößt. Gemeldet werden der Tod der Opernsängerin Sieglinde Wagner und der Choreografin Francine Lancelot und die Vergabe des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung an Herta Müller (derselbe Preis im übrigen, den, wie auf der Website nachzulesen, vor drei Jahren der diesjährige Johnsohn-Preisträger Norbert Gstrein erhielt).

Im Magazin erzählt der polnische Komponist Krzysztof Penderecki im Interview über seine Jahre unter der Sowjet-Herrschaft und die Einsamkeit großer Künstler.

Welt, 03.01.2004

Ulrike Ackermann plädiert in einem Essay für ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin und verteidigt die Absichten von dessen Betreibern: "Ein Zentrum in Brüssel oder Straßburg, gar europäisch verwaltet, quotiert und homogenisiert - wie es die Kritiker des Berliner Projekts vorschlagen -, würde die endlich begonnene europäische Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Erfahrungen der Vertreibungen im Kontext der Totalitarismen des letzten Jahrhunderts ersticken. Es wäre die Aussiedlung der Erinnerung ins europäische Niemandsland."

TAZ, 03.01.2004

Benno Schirrmeister wurde Zeuge der Rückkehr des Gegenstands in die Malerei. In Delmenhorst. "UnHEIMlich" heißt die Ausstellung: "Nein, das ist beileibe keine triumphale Auferstehung. Im Gegenteil. Die visionärste Position, das sind die Arbeiten Armin Boehms. Sie scheinen ihre Kraft direkt aus dem Wissen darüber zu beziehen, dass von Duchamp bis Beuys die herrschende Avantgarde für Pinselschwinger bestenfalls Spott übrig hatte: Wahnwitzige Farben, aufgetragen scheinbar in explosiver Wut und doch komponiert nach ultraklassischen Prinzipien."

Weitere Artikel: Zur großen Fotoreportage aus Tschetschenien von Sylvie Francoise gibte s einen kurzen Text. Besprochen werden der neue Film der Brüder Farelly "Unzertrennlich" und - im tazmag - jede Menge Bücher, unter anderem mit Fotografien von Arno Schmidt, mit Erzählungen von Don und John Fante, mit Neuem von Ror Wolf (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Für die tazzwei war Christian Semler mit Aristoteles Einkaufen, und zwar bei Kaiser's um die Ecke, wo es "das gute Leben günstig" gibt: "Praktizieren wir eigentlich Muße, wenn wir in Kaisers/Tengelmanns Supermarkt herumschlendern, stets bereit, dem Versprechen des guten Lebens unsere schwachen Finanzressourcen zu opfern? Für Aristoteles wäre das eine lächerliche Frage gewesen. In Ruhe und bedachtsam, umrahmt von interessanten Erörterungen und ab und zu von einem Schluck Rotwein unterbrochen, sich über einen Rehbraten herzumachen, mag gerade noch den Anforderungen der Muße genügen. Aber Einkaufen? Treten wir bei Tengelmann etwa ins Reich der Wahlfreiheit ein, wo die schönen, wahren und guten Produkte unserer begründeten Auswahl harren? Keineswegs."

Im tazmag berichtet Thomas Winkler recht, nein: sehr ausführlich von der von einem Getränkehersteller gesponsorten Music Academy im südafrikanischen Kapstadt: "Dreißig Auserwählte treffen sich für zwei Wochen in einem renovierten und von südafrikanischen Künstlern eingerichteten Lagerhaus in Kapstadt, hören Vorträge über Musikgeschichte und übers Musikmachen, downloaden Musik, reden über Musik, mixen Musik, machen Musik und legen schließlich in den örtlichen Clubs Musik auf."

Uwe Rada war in ähnlich exotischen Gefilden unterwegs: im nahen und nächsten Osten des deutsch-polnischen Grenzgebiets. Sein Bericht über Basarstädte beginnt etwas rätselhaft so: "Die Geschichte der europäischen Stadt ist die ihrer wundersamen Wandlung vom Marktplatz zur Marktwirtschaft. Ihre Schönheit und Anmut verdankt die europäische Stadt dabei den Kräften des Ausgleichs und der Vernunft, kurzum: der erzwungenen Zivilisiertheit des Kapitalismus. Ausnahmen sind zugelassen, sofern sie diese Regel aus dem Lehrbuch der europäischen Stadtwerdung nicht in Frage stellen."

Schließlich Tom.

FAZ, 03.01.2004

Auf der Schallplatten-und-Phonoseite würdigt Achim Heidenreich den Cage-Schüler Alvin Lucier, der schon mal ein "opernhaftes Solo für Triangel" schrieb: " Bei Luciers grandios monströsem Versuch über den Triangel kann nicht nur die mehr als Fetisch denn als Gebrauchsartikel fungierende Hi-Fi-Anlage zeigen, was in ihr steckt, und der Besitzer von zigfach schräg gegen die Maserung verleimtem Boxenholz samt bassreflexiver Membran darüber staunen, mit wie viel fein unterschiedenen Graden das auf keine exakte Tonhöhe festgelegte Schlagzeuginstrument klangräumlich und dynamisch abgebildet wird." Die Platte ist bei Wergo erschienen, auch auf der Homepage des Schlagzeugers Matthias Kaul darf man gar nichts hören.

Weitere Artikel: Dirk Schümer meldet nach dem Besuch eines dementsprechenden Kolloquiums in Venedig: "Goldoni erfand das Sprechtheater." G. P. freut sich in der Glosse, dass die amerikanische Raumsonde Stardust Staubteilchen in der Nähe des Kometen Wild 2 (unweit vom Mars) aufnahm und nun zur Erde zurücktransportiert. Heinrich Wefing beklagt in seiner amerikanischen Zeitschriftenschau mit Autor Cullen Mrphy aus Atlantic Monthly (hier sein Artikel) den "Verlust der Standards". (Man kann kein Latein mehr, man trägt braune Schuhe am Abend, und außerdem haben "die Vereinigten Staaten seit 1945 keinen Fahnenflüchtigen mehr hingerichtet, nicht einmal im Krieg unter dem strengen Regiment der Regierung Bush, obwohl jedes Jahr etwa fünftausend Männer und Frauen in Uniform desertieren"). Gerhard Stadelmaier würdigt Hellmut Karasek in einem Artikel zu dessen siebzigstem Geburtstag als "publizistisch schillernden Turbokarpfen im Teich der grauen Hechte". Hd schreibt zum Tod der Sängerin Sieglinde Wagner. Lorenz Jäger gratuliert dem Religionswissenschaftler R. J. Zwi Werblowsky zum Achtzigsten

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage versucht Thomas Wagner fünf Annäherungen an den Künstler Dieter Roth: "Er ließ Zwerge, Motorradfahrer und Nippes in Schokolade versinken, schichtete Gewürze zu Bildern und betrieb mit der 'Literaturwurst' radikale 'Textverarbeitung', als er Werke von Grass, Andersch, Böll und am Ende gar Hegels 'Gesammelte Werke' zerfleischte, würzte und verwurstet in einen Darm steckte." Albrecht Schöne, Herausgeber des 2.000seitigen "Faust" im Deutschen Klassikerverlag erklärt in einem Essay, warum man vor Goethe keine Angst haben soll.

Auf der Medienseite eröffnet Frank Kaspar eine kleine Reihe über "Stimmen" mit einem Artikel über die Stimme Erich Honneckers ("ein fistelndes Gurgeln, das Stärke und Entschlossenheit symbolisieren sollte, aber nur Enge und Krampf ausdrückte")

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es, neben Luciers Triangel-Solo, um "Hammerhartes von Tigerbeat", um eine neue CD von John Potters "The Dowland Project", das Alte Musik mit Saxophon verbindet, um eine CD-Box mit einer Werkauswahl von Bruce Springsteen, um eine CD des Country-Punks (was es alles gibt!) Steve Earle und um ein Requiem von Franz von Suppe.

Auf der Literaturseite bespricht Urs Widmer eine Neuausgabe (aber nicht -übersetzung) von Joseph Conrads Erzählung "Ein Lächeln des Glücks" bei Suhrkamp. Außerdem werden Bücher von Johan Peter Hebel und William Trevor rezensiert.

Besprochen werden die China-Ausstellung "Schätze der Himmelssöhne", die nach ihrer Station in Berlin, für Bonn neu konzipiert wurde, Rolf Schübels "hölzerner Problemfilm" "Blueprint" mit Franka Potente und die Ausstellung eines Teils der berühmten Fotosammlung Gernsheim in Mannheim.In der Frankfurter Anthologie stellt Norbert Mecklenburg ein Gedicht von Ernst Jandl vor: "die morgenfeier, 8. sept. 1977 für friederike mayröckereinen fliegen finden ich in betten ach, der morgen sein so schön erglüht wollten sich zu menschens wärmen retten sein aber kommen unter ein schlafwalzen finden auf den linnen ich kein flecken losgerissen nur ein zartes bein..."