Vorgeblättert

Peter-Andre Alt: Franz Kafka. Teil 3

11.08.2005.
In seinem Büro hat Kafka ein kompliziertes Abfangsystem ersonnen, das es ihm erlauben soll, Felices Antworten, die während der Wochentage an die Versicherungsanstalt geschickt werden, ohne Zeitverlust zu erhalten. Ein Bürodiener, der Leiter des Postversands und eine Aushilfsbeamtin haben Anweisung, ihm Briefe aus Berlin unverzüglich auszuhändigen. Erst Mitte November ändert Kafka die Organisation der Korrespondenz, weil ihm das bisherige Verfahren zu umständlich erscheint. Felice schickt jetzt ihre Briefe nicht mehr an sein Büro, sondern an die Privatwohnung in der Niklasstraße. Das führt zwar dazu, daß Kafka ihre Schreiben ab dem frühen Nachmittag rascher als zuvor erhält, birgt jedoch auch Risiken. Schon Mitte des Monats liest Kafkas Mutter unerlaubterweise einen Brief Felices, der sich in seinem nach der Rückkehr aus dem Büro im Zimmer aufgehängten Jackett befindet (in Berlin wird Anna Bauer wenige Wochen später mit derselben Unbefangenheit ein ganzes Konvolut der aus Prag eingegangenen Briefe unter die Lupe nehmen). Die neugierige Julie Kafka schreibt nur einen Tag später selbst an die ihr unbekannte Berlinerin. Als Motiv gibt sie an, daß sie sich für ihre Indiskretion entschuldigen wolle -ein rhetorischer Trick, der auch von Kafka selbst hätte stammen können. Felice ist so irritiert, daß sie zunächst Max Brod einschaltet, der Kafka am 21.November vom Verhalten seiner Mutter informiert. Zwar muß er Brod geloben, die Sache nicht allzu schwer zu nehmen, doch kommt es noch am selben Abend zu "einem fast gänzlich unbeherrschten Ausbruch" gegenüber der Mutter. Die erregte Emotion, die sich hier Bahn bricht, bezeichnet Kafka als erstes wahres Gefühl, das er nach Jahren kühler Freundlichkeit inmitten seiner Familie geäußert habe.
     Zwischen Ende Oktober und Ende Dezember 1912 schickt Kafka Felice Bauer knapp 90 Briefe. Nicht selten werden sie 'express' aufgegeben, zuweilen als Einschreiben ('rekommandiert'), gelegentlich von Telegrammen begleitet, die nach ausbleibender Post fragen. Der Briefverkehr selbst gerät zum zentralen Gegenstand von Kafkas Schreiben. Die Unpünktlichkeit der Zustellung, sich überschneidende Sendungen und - als Gipfel möglicher Katastrophen - der Briefverlust bilden ständigen Anlaß zur ausführlichen Klage: "Liebste es gehn, es gehn Briefe verloren, oder ich leide an Verfolgungswahnsinn (?)". Ende November 1912 unterstreicht Kafka solche Paranoia ironisch, indem er die fünf Bogen seines ausführlichen Sonntagsbriefs in gesonderten Umschlägen verschickt, um zu gewährleisten, daß zumindest einer von ihnen sein Ziel erreicht. In manchen Fällen befassen sich seine Briefe einzig mit dem Risiko, welches das Absenden bedeutet, da es die Gefahr des Textverlusts einschließt: "Schrecklich ist es, daß unsere Korrespondenz sich so durch Katastrophen weitertreibt." Der Brief gerät zu einem Medium, das sich selbst beobachtet. Kafkas Träume beglaubigen das, denn auch sie sprechen seit dem Winter 1912 immer wieder von der zirkulären Logik des Schreibverkehrs: von der Sehnsucht nach Briefen , der Beschleunigung des Nachrichtenstroms, der Furcht vor Zustellungsfehlern der Post.
     Kafkas Informationsbedürfnis ist grenzenlos, jedoch bleibt es auf den Schriftverkehr beschränkt. Wenn er genaue Berichte über Felices Leben verlangt, so heißt das nicht, daß er diese Bereiche mit eigenen Sinnen erfahren möchte. Bedingung seiner Neugier ist die Konzentration auf die Sprache, die sich in den Zeichen der Schrift wie eine stetige Anspannung auf das ferne Ziel der Aussage ausbildet. Die Ordnung der Schrift ist für Kafka mit der Form vergleichbar, die er Felice verliehen hat, weil beide in ähnlicher Weise Abwesenheit und Nähe bezeichnen; sie repräsentieren die Erwartung einer Erfüllung, die nie eintritt, und gewähren derart eine zweifelhafte Präsenz des Vorläufigen, Unerreichbaren. Über solche Präsenz sagt Kafka selbst: "Wir peitschen einander mit diesen häufigen Briefen. Gegenwart wird ja dadurch nicht erzeugt, aber ein Zwitter zwischen Gegenwart und Entfernung, der unerträglich ist."
     Der Brief erschafft eine eigene Wirklichkeit, läßt jedoch das Bewußtsein aufsteigen, daß noch etwas anderes jenseits der Schrift existiert. So verwandelt Kafka Felice in jene 'Sphinx ohne Geheimnis', die Oscar Wilde hinter den Frauenbildern der Jahrhundertwende entdeckte. Die Aura, die er ihr im Wortsinn zuschreibt, verliert sich in dem Moment, da sie selbst spricht. Ihr handfester Pragmatismus, ihre bürgerlichen Kunstideale, ihr triviales Literaturverständnis, ihr spießiger Geschmack, ihr Vergnügen an Revuen, Bällen, Schmuck und Schokolade durchkreuzen Kafkas Phantasiebilder. Als sie ihm rät, er solle seine Pflichten im Büro und in der Fabrik ernster nehmen, die Nächte zum Schlafen nutzen und - mit einer symptomatischen Wendung - beim Schreiben "'Maß und Ziel' verfolgen, reagiert er daher ungewöhnlich energisch, indem er ihr solche Formulierungen höflich, aber entschieden untersagt. Wenn die Sphinx zeigt, daß sie kein Geheimnis birgt, sondern die Banalität des Konventionellen verkörpert, muß sie zum Schweigen verpflichtet werden.
     Umgekehrt mag auch Felice Bauer bisweilen den Eindruck gewonnen haben, als paßten Wirklichkeit und Einbildung nicht mehr zusammen. Der charmante junge Mann, der mit ihr über den Zionismus stritt, schmiedete, Tatkraft und Entschlossenheit ausstrahlte, verwandelt sich nach dem ersten Werben in einen von Skepsis zerfressenen Pessimisten, der sich permanent selbst anklagt und sein bisheriges Leben lustlos als 'gescheitert' bilanziert. Zionistische Themen, die Felice außerordentlich beschäftigen (sie lernt zu dieser Zeit Hebräisch), schneidet er in seinen Briefen nicht mehr an. Ihre Fragen nach seiner Bürotätigkeit beantwortet er ausweichend, meist nur unter Hinweis auf die völlige Bedeutungslosigkeit dessen, was er leiste. Sogar die Bemerkungen über die literarische Arbeit, die er in seine Briefe einfließen läßt, bleiben sparsam und knapp. Da er fast nichts veröffentlicht hat, bleibt ihr Bild vom Autor Kafka gänzlich unscharf (die Betrachtung scheint sie Mitte Dezember 1912 ratlos aufgenommen zu haben). Eine annähernde Vorstellung von den ungeheuren Erzählprojekten, die er in den Winternächten 1912/13 wälzt, hat Felice kaum gewonnen. Vor allem aber sind es seine scharfen Attacken gegen das eigene Ich, die sie verwirren müssen. Die unaufhörliche Selbstverkleinerung, die er wütend betreibt, paßt schwerlich zu dem konventionellen Männerbild, mit dem sie aufgewachsen ist. Daß sie die Korrespondenz trotz solcher irritierenden Eindrücke fortsetzt, hat zwei Gründe: sie findet Kafka attraktiv (was sie ihm gegenüber auch durch vorsichtig eingesetzte Komplimente bekräftigt); und sie kann sich der Magie seiner rhetorischen Kunst mit ihren überraschenden Bildern, dem musikalischen Periodenbau, dem Gleiten der Töne nicht entziehen.
     Kafkas Briefwechsel mit Felice setzt in jener Lebensphase ein, da er sich der Singularität seiner Junggesellen-Rolle, welche die Texte der Betrachtung noch spielerisch durchleuchteten, klar bewußt wird. Max Brod steht kurz vor der Eheschließung mit Elsa Taussig, plant den Umzug in eine größere Wohnung und gibt sich bürgerlich-saturiert. Die Schwester Elli hat am 8.November 1912 ihr zweites Kind - die Tochter Gerti -geboren; einen Monat zuvor verlobte sich Valli mit Josef Pollak, einem böhmischen Juden aus dem ländlichen Cesky Brod (wobei wiederum die Anbahnung durch ein Heiratsinstitut vorausgegangen war). Selbst Ottla befindet sich auf dem Weg in eine feste Bindung; 1911 hat sie den zwei Jahre älteren Tschechen Josef David kennengelernt, einen katholischen Jurastudenten aus ärmsten Verhältnissen, der sich mit Tatkraft und Willensstärke bald eine feste Position im bürgerlichen Erwerbsleben erkämpfen wird; die Ehe schließen beide erst im Sommer 1920, jedoch sind sie zu diesem Zeitpunkt längst ein Paar. Der Verlust der Schwestern schmerzt Kafka, denn nur im Verhältnis zu ihnen kann er als Liebender agieren, ohne den Part des Sohnes preiszugeben. Gegenüber anderen Frauen ist ihm diese Koinzidenz nicht erlaubt, weil die erotische Beziehung hier von ihm verlangt, daß er seine Identität als Sohn auslöscht.
     In den Briefen an Felice übernimmt Kafka verschiedene Rollen, die einander auf paradoxe Weise widersprechen: er präsentiert sich als notorischer Junggeselle und als Werbender, als Charmeur und als Mißvergnügter, als Sohn und als erwachsener Mann. Der Wunsch, ein "Mädchen" durch den intellektuellen Eros der "Schrift" an sich zu binden, den Kafka im Juli 1912 gegenüber Max Brod im Blick auf den Weimarer Flirt mit Margarethe Kirchner formuliert, erzeugt ein kaleidoskopisches Spiel mit Identitäten, die einzig in einem imaginären Raum existieren. Der Brief ist das Medium, das den Liebenden und die Geliebte zuallererst hervorbringt; nur im Schreiben kann Kafka Felice, die er erotisch kaum attraktiv findet, begehren. Das Moment des Authentischen löst sich in der Sprache der Briefe auf, indem es seinerseits zu einem Bestandteil der Kommunikation wird. Die Leitdifferenz, die zwischen 'wahr' und 'falsch' eine deutliche Grenze zieht, ist, wie Niklas Luhmann gezeigt hat, für die Liebesauffassungen der Moderne nicht mehr zuständig. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts organisiert sich der soziale Austausch der Liebenden verstärkt im Medium der Schrift. Entscheidend ist hier, daß die Verständigung in einer Tonlage abläuft, die individuelle Nuancierungen erlaubt. Eine 'falsche' Liebesneigung, die rhetorische Mittel nutzt, um 'Wahrheit' nur zu suggerieren, kann in diesem Kommunikationssystem nicht vorkommen. Die Liebe, von der im Brief gesprochen wird, ist allein in den Ordnungen der Schrift aufgehoben. Die radikale Offenheit, die Kafka Felice gegenüber seit dem Beginn ihrer Korrespondenz ohne jede Verstellung praktiziert, bahnt daher nicht den Weg ins Arkanum seiner letzten Geheimnisse, sondern bleibt nur ein Element aus dem Register dieser Schrift. Der tägliche Brief erschließt nichts und erklärt nichts, denn er steht für sich selbst, ohne auf eine tiefere Wahrheit zu verweisen. Das Schreiben bildet keinen Ersatz, ist vielmehr die einzige Form, in der Kafka Felices Anwesenheit erträgt. So wird der Brief zu einer 'Passage' im Sinne Walter Benjamins: zu einem Übergang zwischen Orten, die nicht dauerhaft verbunden werden können, weil sie keine Einheit bilden.
     Das Nachdenken über die paradoxe Logik des Briefschreibens führt immer wieder zu Formulierungen, die mit sexuellen Bedeutungsnuancen gesättigt sind. Am 23.November 1912 bemerkt Kafka, er wolle sich in seinem nächsten Brief über den einzigen "schwarzen Punkt", der ihn verdüstere, "ordentlich" vor ihr "ergießen" und sie solle "die Hände im Schoos die große Bescherung ansehn." Der 'schwarze Punkt' wird dann am folgenden Tag durch ein Gedicht des chinesischen Dichters Yan-Tsen-Tsai (1716-1797) dokumentiert, das Kafka aus der 1905 veröffentlichten Anthologie Hans Heilmanns kannte. Es beschreibt einen Gelehrten, der über seiner Arbeit "die Stunde des Zubettgehens vergessen" hat und durch seine "schöne Freundin" daran erinnert werden muß, daß es "spät" ist. Das scheint eine Urszene für Kafka zu sein, die er Felice vorführt, um anzudeuten, was sie von ihm erwarten kann. Er, der sich in Briefen 'ergießt', findet seine nächtliche Lusterfüllung beim Schreiben, nicht im Beischlaf: "Ich bin noch knapp gesund für mich, aber nicht mehr zur Ehe und schon gar nicht zur Vaterschaft."
     Hier spricht wieder der Sohn, dessen Identität durch die Figur des Aufschubs erzeugt wird, wie sie der Proceß-Roman später als Mittel der "Verschleppung "des Rechtsverfahrens anführt. Jacques Derrida hat in ihr ein wesentliches Strukturelement der Psychoanalyse Freuds erkannt: das Zeichen des niemals schließbaren Abstands zwischen Wunsch und Erfüllung, Ursprung und Präsenz, Subjekt und Objekt. Kafka bedient sich dieser Figur des Aufschubs, indem er sie als Mittel zur Verzögerung der 'Präsenz' - der Bindung und Vaterschaft - einsetzt. Wenn er Felice räumlich auf Distanz hält, kann er der werbende Sohn bleiben, ohne belangt zu werden. Diese Konstruktion bildet den fragilen Rechtsgrund, auf dem sich die gesamte Korrespondenz entwickelt. Für die 'Vaterschaft' reicht die - hier in einem rein psychischen Sinn gemeinte -Gesundheit nicht aus, weil sie die Identität des Sohnes zerstört.
     Das Gegenstück zum Motiv des Sich-Ergießens bleibt der Topos des Blutsaugers, der die Lebensfülle der Geliebten nutzt, um sich selbst neue Energien zuzuführen. Das von Deleuze und Guattari aufgebrachte, oft wiederholte Bild des Vampirs Kafka, der die Vitalität Felices aus ihren Briefen trinkt, um "Kraft zum Schaffen" zu gewinnen, ist jedoch problematisch, weil es dem Repertoire seiner eigenen Argumentationsformen entstammt und daher das Element einer rhetorischen Strategie darstellt. Wenn er am 22. Juni 1913 betont, er "sauge" sein Leben aus ihren Briefen, so ist das ein Kunstgriff, der wiederum darauf abzielt, den Bannkreis des Schreibens zu befestigen. Das wahre Leben, besagt die Formulierung, haust nur in den Räumen des Imaginären, welche die Schrift aufzeichnet. Zur Logik der Fiktion, die Kafkas Briefe regiert, gehören die Identitätsentwürfe, die er sich selbst und Felice zuweist. Ihnen entsprechend ist er schwach und schuldig, während die Berliner Freundin kräftig und schuldlos erscheint. Nicht der Vampir, der der Frau die Lebensenergie raubt, sondern der Pygmalion, der sie neu schafft, steht im Mittelpunkt seiner Briefe.
     Die rhetorische Maschinerie scheint frühzeitig ausgebildet und läuft während des Winters 1912/13 mit geringfügigen Variationen ab. Kafka klagt sich an, indem er behauptet, Felice mit seinen launisch-egoistischen Briefen zu peinigen, rückt sie anschließend in die Rolle der Richterin ('urteilen' solle sie, so heißt es häufig),weist ihr aber zugleich den Status der Anwältin zu, die ihn selbst zu verteidigen hat. "Mein Leben ließe ich für Dich", schreibt er am 2. Dezember 1912, "aber das Quälen kann ich nicht lassen." In diesem ungemütlichen Dreieck von Selbstanklage, Projektion und Rechtfertigung findet der Briefstil Kafkas seine spezifische Ordnung. Daß Felice hier unterzugehen droht, liegt auf der Hand. Mit ihrem praktischen, auf klare Oppositionen fixierten Verstand kann sie seine Advokatenrede nicht erfassen. Wenn sie im Herbst und Winter 1912/13 immer wieder von neurasthenischen Beschwerden -Weinanfällen, Kopfschmerzen -heimgesucht wird, so ist das auch die Folge des psychischen Drucks, den Kafka durch sein Wechselspiel der Launen auf sie ausübt. Hinzu kommt eine höchst spannungsgeladene familiäre Situation, in deren Schatten sich ein bürgerliches Drama abspielt, von dem der Wortmagier in Prag nichts ahnt.
     Felices um ein Jahr ältere Schwester Erna war in Dresden eine Liaison mit einem offenbar verheirateten Mann eingegangen und im Sommer 1912 schwanger geworden. Mit großer Mühe gelang es Felice, diesen Umstand der Familie gegenüber zu verheimlichen. Im Februar 1913 siedelte die Schwester, durch Felice tatkräftig unterstützt, nach Hannover über, wo sie am 30. April 1913 von einer Tochter entbunden wurde. Das Kind, das den Namen Eva erhielt, wuchs bei Pflegeeltern auf und kam erst 1917 zu seiner Mutter, die inzwischen in Berlin geheiratet hatte. Im Streit um die Unterhaltszahlungen, die der fest gebundene Geliebte verweigerte, suchte Felice die Schwester zu beraten, indem sie Textstellen aus Briefen sammelte, in denen er seine Vaterschaft indirekt eingestand. Kafka selbst war über die prekäre Situation der Schwester nicht informiert. Zwar sprach Felice im Februar 1913 von einem "Unglück", das sie sogar dazu zwinge, die Eltern zu "belügen", jedoch beließ sie es bei Andeutungen. Den Zweck der Dresdner Reise, die sie Ende Februar unternahm, um den Wohnungswechsel der Schwester zu organisieren, verschleierte sie ihm gegenüber. Die bürgerliche Ordnung mußte um jeden Preis nach außen gewahrt und durch beharrliches Verschweigen des 'Fehltritts' verteidigt werden. Zur Logik von Felices Vertuschungsmanövern gehörte es übrigens auch, daß sie Kafka niemals von den Eheproblemen ihrer Eltern berichtete. Der Vater hatte zwischen 1901 und 1904 mit seiner Geliebten zusammengelebt und war erst nach deren Tod in die Familienwohnung zurückgekehrt, um den äußeren Anschein einer intakten häuslichen Existenz zu wahren. Das Verhältnis der Eltern wurde von massiven Spannungen regiert, die den Alltag oftmals zur Qual machten; Kafka hat auch von diesem dunklen Fleck in der Familienlandschaft nichts gewußt.
     In den Prager Nächten spielen ohnehin nicht die realen, sondern die erdachten Familiendesaster die entscheidende Rolle. Die großen Texte, die im Herbst 1912 entstehen - Der Verschollene, Das Urteil und Die Verwandlung - behandeln Ereignisse, die aus dem Bodensatz jener bürgerlichen Konflikte aufsteigen, von denen Felice zur selben Zeit beherrscht wird. Die Katastrophen, die sie beschreiben - uneheliche Schwangerschaft, Auswanderung, Selbstmord, gesellschaftliche Ächtung -, siedeln sich jedoch jenseits der sozialen Wirklichkeit inmitten einer archetypischen Seelenlandschaft an, die Kafka in diesen Herbsttagen mit einer Souveränität auszuleuchten lernt, wie er sie vorher noch nicht an den Tag gelegt hatte. So sind die Briefe an Felice stets auch Kommentare zu den Texten, die während des Winters 1912/13 wachsen. Als im Frühjahr 1913 das literarische Schreiben versiegt, nimmt zugleich die Frequenz der Berliner Korrespondenz ab: der Eros bleibt an die Literatur gebunden, die ihm erst Existenz und Sinn verschafft.
     Die Liebe vermag sich für Kafka nur in den Ordnungen der Sprache zu entfalten, jenseits der Enge der Wirklichkeit. Der Briefwechsel mit Felice vermittelt ihm daher dieselbe Erfahrung, die auch die literarische Arbeit offenbart: sein Ich ist gefesselt an die Schrift, ohne die es dauerhaft wie ein dunkler Schatten wirken muß, leer und eigenschaftslos. Derrida bemerkt über diesen Zusammenhang: "Schreiben heißt wissen, daß das, was noch nicht im Schriftzeichen erzeugt ist, keine andere Bleibe hat (?)". Kafkas spätere Texte handeln von der Sehnsucht, den Körper, der seine Heimat verlor, in der Schrift zu vergegenwärtigen und das Wort wieder Fleisch werden zu lassen. Erst das Schreiben schafft das Subjekt und seine Beziehungen zur Welt: die "Ansicht des Lebens", wie es 1920 im Tagebuch heißt.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages C.H. Beck


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