Efeu - Die Kulturrundschau

Irrelevant und sogar gefährlich

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20.03.2021. Die New York Times feiert den Willen zur Modernität und zur Persönlichkeit bei Alexander Calder. Der Tagesspiegel staunt, was alles ging in der Berliner Architektur der achtziger Jahre. Die FAZ beobachtet Vanessa Mai beim Proben ihres Augenaufschlags. Pitchfork porträtiert Lana Rey als Proust der Popmusik. Die taz findet den echten DDR-Menschen mit seinen Erfahrungen nirgends so authentisch beschrieben wie bei Helga Schubert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2021 finden Sie hier

Architektur

Marzahner Promenade, Café Restaurant "Zur Promenade", Entwurf: Büro Eisentraut im IHB, nach 1985, Foto: © Unbekannt / Berlinische Galerie, Digitalisierung: Anja Elisabeth Witte


Stadtgeschichte, die noch gar nicht so lange her ist, erlebt Tagesspiegel-Kritiker Bernhard Schulz beim Rundgang durch die Ausstellung "Anything Goes?" in der Berlinischen Galerie, die auf die Architektur der achtziger Jahre in Ost- und Westberlin blickt. Vor allem eins fällt Schulz in diesen müden Tagen auf: Es war "eine Zeit des Experimentierens - eines geradezu fröhlichen Ausprobierens, denn Geld spielte eine geringere Rolle als je zuvor. Im Westen lockte die anstehende IBA die Avantgarde der westlichen Architektur, und nahezu jeder, der wollte, durfte in den Gebieten von 'IBA-Neu' bauen, von Aldo Rossi über Charles Moore bis zu Rem Koolhaas - oder Álvaro Siza, der das als wütende Kritik gemeinte Graffito 'Bonjour Tristesse' an seinem Kreuzberger Eckhaus von 1984 als Markenzeichen vereinnahmte. ... Ganz ähnlich trug sich's im Osten zu; und das eindrucksvoll herauszuarbeiten, ist ein Verdienst der Ausstellung. Ursula Müller ist es gelungen, das etliche Quadratmeter große Stadtmodell der Friedrichstraße (Ost) nebst angrenzenden Bauten zu beschaffen. Es zeigt, was die Planer vom VEB Ingenieurhochbau Berlin als sozialistische Amüsiermeile erdachten." Zur Ausstellung gibt's auch eine Web-App, mit der man Spaziergänge entlang der wichtigsten Achtziger-Bauten durch die Stadt planen kann.

1988 radelte eine damals noch unbekannte Tilda Swinton die Mauer entlang um Westberlin in Cynthia Beatts knapp 30-minütigem Film "Cycling the Frame". Der Film ist Teil der Ausstellung in der Berlinischen Galerie:

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Literatur

Groß war die Freude, als im vergangenen Jahr Helga Schubert mit 80 Jahren den Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt für sich entscheiden konnte. Jetzt liegt ihr Erzählband "Vom Aufstehen" vor, den Stephan Wackwitz in der taz zum Anlass nimmt, über die Erfahrungswelt der DDR und die Rolle der Literatur im untergangenen Land nachzudenken: Die DDR-Obrigkeit störte an Helga Schubert vor allem, dass sie, anders als anerkannte Schriftsteller, über authentische Erfahrungen echter Menschen schrieb: Und diese waren "aufgrund der ihr unverlierbar eingeschriebenen Unberechenbarkeit irrelevant und sogar gefährlich für einen Literaturbetrieb, der Schriftsteller auch nach der offiziellen Entstalinisierung im Grunde immer noch als 'Ingenieure der Seele' verstand (wie die bekannte Formel des sowjetischen Diktators gelautet hatte). 31 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem rasenden Verschwinden der DDR sind die Innenansichten und das Selbstverständnis der im sozialistischen deutschen Staat eingesperrten Bürgerinnen und Bürger so gut wie verschwunden aus dem deutschen Wissen. Oder anders und genauer: Sie sind noch da, aber sie haben keinen erkennbaren Ausdruck mehr."

Für die SZ hat Renate Meinhof die Schriftstellerin in Neu Meteln besucht. Ihr "Buch ist auch das fast tröstliche Zeugnis einer Dagebliebenen, eine Genugtuung und Ermutigung für diejenigen, die in der DDR, dem 'Zwergenland', wie sie es nennt, ausgeharrt und versucht haben, aufrecht zu bleiben, sich nicht korrumpieren, sich nicht an- oder abwerben zu lassen. Die Nachteile dafür in Kauf nahmen, dass sie Haltung bewahrten, die harte Wege gehen mussten, ohne ein Ziel auch nur in Aussicht zu haben."

Weitere Artikel: In einem großen Text für die NZZ erinnert sich der Schriftsteller Michael Krüger an seine Zeit in Italien in den frühen 80ern, wo ihm als erstes gleich einmal der Schriftsteller Alberto Moravia über den Weg lief und er die Schriftstellerin Elsa Morante in einem Rollstuhl durch den Park der Villa Massimo schieben durfte. Walter Schübler plädiert in der FAZ dafür, die etwa 6000 Briefe von Liselotte von der Pfalz endlich vernünftig zu edieren. Nikolas Scholz widmet sich in der "Langen Nacht" des Dlf Kultur Franz Kafka.

Besprochen werden unter anderem Daniel Kehlmanns "Mein Algorithmus und ich" (Dlf Kultur), Hildegard E. Kellers "Was wir scheinen" (taz), Takis Würgers "Noah" (Tagesspiegel), Juli Zehs "Über Menschen" (Dlf Kultur), Peter Fabjans "Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard" (Freitag), Joachim Sartorius' Gedichtband "Wohin mit den Augen" (Tagesspiegel), Lutz Ruffatos "Sonntags ohne Gott" (Literarische Welt) und Moritz Hegers "Aus der Mitte des Sees" (FAZ).
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Musik

Es ist mit jedem neuen Album bemerkenswert, wie sich die Popkritik seit Jahren am Phänomen Lana Del Rey und ihrer nostalgischen Beschwörung der Nachkriegs-USA abarbeitet. Jetzt ist ihr neues Album "Chemtrails Over the Country Club" erschienen und Daniel Gerhardt liefert auf ZeitOnline zunächst einmal ein "Was bisher geschah" zumindest seit dem letzten Del-Rey-Album. Das neue "ist leiser und bedächtiger als sein Vorgänger und bereit zu neuen Beurteilungen der alten Mythen ... neue Songs spielen in Oklahoma und Nebraska, im küstenfernen Kalifornien und in Arkansas. 'Breaking Up Slowly' heißt ein Stück, das die Erzählerin bis nach Florida führt: Zu quietschenden Gitarrensaiten und schweren Klavierakkorden untersucht sie dort die Ehe des Countrypaars Tammy Wynette und George Jones."



"Was Proust für den Duft tat, tut Lana für die amerikanischen Weiten", meint Mina Tavakoli auf Pitchfork: "Sie wandert durch Städte, atmet deren Luft tief ein, nur um sich ihrer bewusst zu werden, und driftet dann weiter. Sie reist östlich von L.A. nach 'Yosemite'. Das erste Stück, 'White Dress', mengt ihrem Sound ein wenig Bekömmlichkeit aus dem erwachsenen Alternativ-Radio hinzu, auch ein bisschen Schmelz ins karge Schlagzeug und etwas von einer einzigartig gedrückten, heldenhaften Kopfstimme, wie man sie bislang von ihr noch nicht gehört hat. Aber da ist sie schon Orlando, eine Stadt des Übergangs und der klebrigen Hitze, und sie schmachtet in ihrem Begehren, bitte irgendwo anders zu sein. In 'Breaking Up Slowly', einem flammenden Song, gesungen im Tenor eines Geächteten, liegt Texas begraben." Hier das Video zu "White Dress":



Elena Witzeck denkt in der FAZ über die längst in den Pop diffundierte Schlagersängerin Vanessa Mai nach, die sie an einem Drehtag zu einem ihrer Videos besucht hat. "Die Geschichte, die sie erzählt, handelt vom Weg einer Künstlerin zur Selbstbestimmung, von einer Abfolge freier Entscheidungen. Dort, wo sie angekommen ist, scheint die Luft dünn. Es gibt Skripts für jeden Videobeitrag auf Instagram, Ratschläge, wie sie mit ihrem Bein wippen soll. ... Die Nähe, die Vanessa Mai ihren Zuschauern suggeriert, erscheint einem neben der Kamera wie eine unüberbrückbare Distanz" und "während sich ihre Gefolgschaft ihr Video für Video annähert, entfernt sie sich mit jedem Augenaufschlag weiter von ihnen".

Weitere Artikel: Für die SZ plaudert Andreas Kunz mit Sexpistole Johnny Rotten. Besprochen werden Maria Staggats und Timo Steins Bildband "Hush - Berliner Clubs in Zeiten der Stille" mit Fotos pandemiebedingt leerstehender Clubs (taz), das neue Album von Altın Gün (The Quietus), zwei neue Songs von Bilderbuch (Standard), das neue Album der australischen Band The Paper Kites (FR), ein neues Album von Tele Novella (FR) und Justin Biebers neues Album "Justice", das laut SZ-Kritikerin Juliane Liebert "bis in den letzten blitzblanken Winkel der klinischen Überproduktion hinein nach einem angestrengten Kampf gegen jedes Gefühl" klingt.
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Bühne

In der FAZ vermisst Gerhard Stadelmaier einen "Radikalen im öffentlichen Menschendienst" wie den Theaterregisseur Rudolf Noelte: "Er korrigierte nicht die alten Stücke von heute aus, sondern entdeckte in ihnen die Zerrissenen, Verlorenen, Unglücklichen von heute, denen ihr Leben unter den Fingern verrinnt. Wo andere urteilten, da fing er erst an zu verstehen. Seine Menschen konnten sich nirgendwo an der Gesellschaft, an der Politik, der Ökonomie, der Klasse oder einer sonstigen Alibi-Konstruktion entschuldigend schadlos halten. Sie hatten nur sich selbst, Schrecken genug."

Weiteres: In der taz verkündet jetzt auch noch Eva Behrendt das Ende des weißen, deutschen, männlichen Intendanten, mit dem alle Hierarchien an deutschen Theatern fallen würden. Besprochen werden der Struwwelpeter als "Shockheaded Peter" von Julian Crouch und Phelim McDermott im Stream des Thalia Theaters (taz) und die Uraufführung von Marco Goeckes Choreografie "The Big Crying" durch das Nederlands Dans Theater 2 (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Wenig überzeugend findet NZZ-Kritiker Jean-Martin Büttner die von HBO ausgestrahlte Dokuserie "Allen v. Farrow", die verspricht, die Kontroverse um Woody Allen und ob er seine Stieftochter Dylan Farrow sexuell missbraucht haben soll oder nicht ein für allemal zu klären. Für Regisseur Kirby Dick "stehen Schuld und Unschuld schon vor der Recherche fest. ... Abweichende Stimmen kommen nicht zu Wort, außer die von Allen selber, der aus Interviews und seiner Autobiografie sparsam zitiert wird." Wie soll er über die neue Superheldenserie "The Falcon and the Winter Soldier" vernünftig schreiben, wenn es vorab lediglich eine Folge zu sehen gab, fragt sich Axel Weidemann in der FAZ. Und Timo Frasch fragt sich ebenfalls in der FAZ, was er mit seinem Interview mit Klaus Lemke machen soll, das ihm der Münchner Filmemacher beim Autorisieren komplett zerlegt hat.

Besprochen werden Oskar Alegrías "Zumiriki" (Filmdienst), die Serie "Strike" (Freitag), Zack Synders neue Schnittversion seines Blockbusters "Justice League" (Dlf Kultur, SZ) sowie Anthony und Joe Russos "Cherry" (online nachgereicht von der FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Installation view of Alexander Calder: Modern from the Start. © 2021 The Museum of Modern Art. Photo: Robert Gerhardt


Am 22. August will die renovierte Neue Nationalgalerie mit einer großen Alexander-Calder-Ausstellung eröffnen. So ist es uns jedenfalls versprochen worden. Nicht so lange warten müssen New Yorker, für die das Moma seine Calder-Bestände durchforstet und für die große Retrospektive "Alexander Calder. Modern From the Start" zusammengestellt hat. "Der Untertitel der Schau beschwört Calders plötzliche Bekehrung zum Neuen, als er 1930 im Alter von 32 Jahren bei einem Besuch im Pariser Atelier des Malers Piet Mondrian plötzlich begriff, worum es bei Modernismus und Abstraktion ging", erklärt eine hingerissene Roberta Smith in der New York Times. Herzstück der Ausstellung ist ein "großer, locker aufgeteilter Raum, der Calders Entwicklung nach 1930 verfolgt und die verschiedenen Arten untersucht, wie er sich den Modernismus zu eigen machte. Die ersten Arbeiten hier bestehen aus Draht, Holz, bemalten Kugeln und Motoren (die leider nicht mehr funktionieren). Als frühe Beispiele für kinetische Kunst bringen sie die bisher unbekannte Verspieltheit des russischen Konstruktivismus zum Vorschein. Sie gehören zu den liebenswertesten Abstraktionen der modernistischen Kunstgeschichte, auch weil sie zu beiläufig handgemacht sind, um rein abstrakt zu sein. Sie strotzen nur so vor Persönlichkeit, wie so vieles von Calders Kunst."

Proliferating Immense Life, A Whole year per Year, teamLab 2020


Ist immersive Kunst wirklich Kunst, oder doch nur ein Spektakel, also das, was Militärmusik für Musik ist, fragt sich in der New York Times Arthur Lubow anlässlich einer vom japanischen Kunstkollektiv teamLab veranstalteten Ausstellung im Superblue Art Center in Miami. In Miami angekommen, schmilzt der Kritiker dann aber doch dahin. Und das liegt nicht nur an der fröhlichen Umgebung: "Die teamLab-Kollaboration zeigt ihr japanisches Erbe am direktesten in dem Ein-Kanal-Video 'Life Survives by the Power of Life II', das das Kanji-Symbol für 'Leben' in einen Baumzweig umwandelt, der in einem Tanz von 3D-Kalligrafien den jahreszeitlichen Wandel durchläuft. In einem anderen Raum zeigt 'Proliferating Immense Life, A Whole year per Year' eine Sequenz von gerenderten Blumen, die riesig werden und als Blütenblätter davonfliegen, wobei sie ein Gitter aus kleinen goldbraunen Wandquadraten hinterlassen - eine Anspielung auf das Blattgold, das auf die Papieroberfläche eines japanischen Paravents aufgetragen wird, sowie (zumindest für mich) auf kahle, von Wolken beschattete Winterfelder. Als meine Hand die Blumen an der Wand berührte, beschleunigte ich ihr Absterben - ein ätzender Kommentar zur Vergänglichkeit der Menschheit, aber auch eine hinreißende Wiedergabe der japanischen Ästhetik der Vergänglichkeit von Schönheit."

Ausstellungsansicht Izumi Kato, Perrotin, New York 2021
Weiteres: In der taz informiert uns Julia Hubernagel, welche Museen in Deutschland geöffnet und welche schon wieder geschlossen haben. Besprochen werden außerdem eine Retrospektive des 1993 an Aids verstorbenen brasilianischen Künstlers José Leonilson in den Berliner Kunst-Werken (taz), eine Ausstellung des abstrakten Künstlers Halsey Hathaway in der New Yorker Galerie Kristen Lorello (Hyperallergic) und eine Ausstellung des japanischen Künstlers Izumi Kato in der Galerie Perrotin in New York (Hyperallergic)
Archiv: Kunst