Vorgeblättert

Irene Heidelberger-Leonard: Jean Amery, Teil 1

09.02.2004.
1. Kapitel
Dorfidylle (1912-1924)

Bad Ischl und die Magie des Waldes

Im Anfang war der Name, und der Name war Hans Maier, oder Mayer, oder Hanns Mayr oder Johann Mayer oder Johannes Maier. (1) Schon der Knabe hadert mit seinem Namen, er war ihm zu "gewöhnlich". Gewöhnlich war aber auch seine Kindheit, d.h. gewöhnlich im besten Sinne, - man könnte fast von idyllisch sprechen. Ein unveröffentlichter Rückblick, eine autobiographische Skizze aus dem Jahre 1957, gibt Auskunft(2) "Erinnerungsbücher zu schreiben", leitet der Fünfundvierzigjährige seine Memoiren ein, "ist das Privilegium bedeutender Menschen: Ich bin kein solcher." Die Besinnung auf seine Kindheit will uns nahelegen, daß der "wirkliche" Amery in seinen Anfängen zu suchen ist: "Die Stunden, da die trübselige Geschichte ­meines Lebens noch gar nicht trübselig war, und da der triste Ausgang noch nicht feststand, ja tatsächlich kaum erwartet werden konnte - sie sind meine Ehrenstunden", trium­phiert er, "und es ist mein Gescheiterten-Recht, mich ihrer zu erinnern. Nur im Abgelebten erkenne ich mich wieder."

Hohenems: Heimatschein und Scheinheimat

Hier also zum Abgelebten: Geboren ist - Hans Maier (sic!) - am 31.Oktober 1912 in Wien, aber... 'fast durch einen Zufall' in Wien, denn die Familie stammt väterlicherseits aus Hohenems in Vorarlberg. "Mein Großvater war sehr stolz auf seinen Stammbaum (...), der bis ins 17.Jahrhundert reichte. Mir ist das völlig gleichgültig, woher ich stam­me"(3), behauptet er 1978 in einem Gespräch mit Ingo Hermann. 
So mag er am Ende seines Lebens gedacht haben, in den dreißiger Jahren war ihm die Bestätigung seiner Herkunft alles andere als gleichgültig. Und die launische Handhabung der Rechtschreibung seines Familiennamens wird, als es darauf ankam, zu einer Sache von Leben und Tod. Die Germanistin Petra Zudrell hat vor kurzem zwei Ansuchen von Hans Mayer um einen Heimatschein ausfindig machen können, die sich im Archiv der Stadt Hohen­ems erhalten haben. Den ersten Antrag stellt er 1931. "Da ich am 20. d.M. verreise, benötige ich einen Paß, zu dessen Ausstellung ich aber einen Heimatschein dringend benötige."(4) Den Brief unterzeichnet er mit "Hanns Mayer" und bemerkt zur Rechtschreibung seines Namens in einem Postskriptum: "Ich bitte höflichst zu beach­ten, daß der Familienname 'Mayer', nicht wie im Geburtsschein fälschlich 'Maier' ist." Die Markt­gemeinde Hohenems entspricht seinem Wunsch, der Heimatschein von 1931 wird tatsächlich auf Mayer mit 'y' ausgestellt.
1938 stellt sich dem Juden die Situation ungleich dramatischer dar: Weil seine anderen Identitätspapiere den Fa­miliennamen Maier mit "i" zeigten, muß er nun das so kostbar errungene "y" widerrufen, denn nur mit einem "i" kann er seine Haut retten.
"Da ich zum Zwecke meiner Auswanderung aus Deutsch­österreich", heißt es da am 4.11.1938 im besten Beamtendeutsch, "und zur Beschaffung des Passes einen Heimatschein benötige, wende ich mich, da ich nicht in der Lage bin, in meine Heimatgemeinde zu reisen, an dieselbe um Übersendung eines Heimatscheins." Zwar sei er schon im Besitz eines solchen aus dem Jahre 1931, doch sei dieser nicht gültig, "da er meinen Namen, Maier, mit 'y' anstatt richtig mit 'i' schreibt. (...) Ich bitte, um mir als Nichtarier die Möglichkeit einer beschleunigten Auswanderung zu geben, ergebenst um eine baldige Übersendung des Heimatscheins". Diese tödlichen Verwirrspiele wird er bis zum Jahre 1955 treiben.

Als man Jean Amery knapp zwanzig Jahre später die "Ehrengabe des Landes Vorarlberg" anträgt(5), schlägt er nicht ab, aber es eilt ihm auch nicht, die Ehrung entgegenzunehmen. 1977 schließlich, ein Jahr vor seinem Tod, pilgert er ein letztes Mal nach Vorarlberg, "dem Land der Väter", wie in einer Karte an Hans Paeschke zu lesen ist. (J.A. an H.P. 12.2.77)(6). Gleichgültig war ihm der Urprungsort seines Vaters nie. Tatsächlich gibt es in der Mitte des 19.Jahrhunderts in Hohenems eine rege jüdische Gemeinde, deren Aktivitäten 1881 im Bau einer Synagoge gipfeln. Schon 1617 stellt Graf Kaspar den Juden einen ersten Schutzbrief aus, sie mögen mit Geld und Waren die Wirtschaft beleben. "Trotz der günstigen Bedingungen fanden sich zunächst keine ­Interessenten. Erst um 1630 flüchteten Juden vor den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges in die Reichsgrafschaft Hohenems."(7) "Assimiliertes liberal gesinntes Bürgertum kennzeichnete die Hohenemser Juden, die für die Einrichtung des landesweit ersten Kaffeehauses Anfang des vorigen Jahrhunderts verantwortlich waren. Die Juden wollten sich im kulturellen Leben der Stadt ebenso integrieren wie im politischen", schreibt Anton Legerer in der Jüdischen Rundschau Maccabi. "1878 wurden vier Juden in die Hohenemser Gemeindevertretung gewählt."(8)

Die Familie

So kann das jüdische Museum in Hohenems, das 1991 eröffnet wurde(9), eine Ahnentafel vorweisen, die noch das Geburtsjahr von Jean Amerys Ururgroßvater - Bernhard Mayer, geb. 20.5.1815 - dokumentiert.(10) Der Großvater, Siegfried Maier - "Franz Joseph-bärtig und auch sonst staatserhaltend" -, am 15.8.1856 auch in Hohenems geboren, war dort Besitzer einer Fabrik für Spitzen, Vorhänge und Kleider. Er heiratet Helene Krakauer, mit der er vier Söhne hat: Julius, der jung starb, Hans, Karl und Paul, Jean Amerys späterer Vater. Paul war der älteste der vier Brüder, er wurde am 21.7.1883 nicht mehr in Hohenems, sondern schon in Wien geboren.

Siegfried Maier wird seinen Sohn Paul überleben. Der Großvater spielt, im Gegensatz zum Vater, der bei Amery nur als Toter Erwähnung findet, eine gewisse Rolle. Als mahnende Instanz wird er evoziert, als jemand, der auf die gute Erziehung seines Enkels sehr bedacht ist. Eines Tages wird er den Neunjährigen in Bad Ischl mit einem Besuch überraschen. Bei der Gelegenheit wird er Zeuge, wie der kleine Hans im tiefsten österreichischen Dialekt mit einem "Dirnderl" konversiert. "Dies", erinnert sich Amery im Jahre 1957, "führte zu unangenehmsten Weiterungen." Als vornehmer Herr, der auf das Bauernvolk von Bad Ischl herabsieht, hat der Großvater sich dem Autor eingeprägt: "Er trug einen schönen weißen Bart und führte stets einen Stock mit goldenem Knauf bei sich. Daheim hatte er sein Arbeitszimmer mit Auszeichnungen und Anerkennungsschreiben sowohl der kaiserlich-königlichen als auch der republikanischen Behörden tapeziert. Er runzelte streng die Stirn, als ich ihm erklärte, ich müsse hoamgehen, und machte meiner Mutter würdige Vorhaltungen. Die Arme brach darob in Tränen aus und ich selber schämte mich." (11)
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(1)Jean Amerys Geburtszeugnis ist auf den Namen Hans Maier ausgeschrieben, im "Klassenkatalog" der Volksschule von Bad Ischl erscheint er im Schuljahr 1920/1921 als Hans Mayer, im Schuljahr 1922/23 als Hans Maier. In den Klassenbüchern des Gymnasiums in Gmunden erscheint sein Name 1923/24 und 1924/25 als Johann Mayer. Anfang der dreißiger Jahre, als Herausgeber der Brücke z.B., zeichnet er als Hanns Mayer. Jean Amery selber legt die Schreibart "Hans Mayer" nahe, die ich im folgenden benutzen werde. 
(2) Das 21seitige Manuskript ist im Besitz von Frau Maria Amery, trägt die Überschrift "Gasthof zur Stadt Graz" und ist datiert "Januar 1957". Es ist das einzige Dokument, in dem Amery sich auf die ersten Jahre seines Lebens besinnt. Der Bericht bricht Januar 1925 ab, als Amery noch keine 13 Jahre alt ist. 
(3) In: Jean Amery. Der Grenzgänger. Gespräch mit Ingo Hermann (September 1978) in der Reihe "Zeugen des Jahrhunderts", hrsg. von Ingo Hermann, Lamuv Verlag, Göttingen Dezember 1992, S.21. 
(4) Archiv der Stadt Hohenems. 
(5) Jean Amerys Brief an Franz Bertel in Bludenz (30.4. 1973), Deutsches Literaturarchiv: "Ich (...) hatte, solange es noch Heimatscheine gab, einen auf den Namen Hans Mayer lautenden Heimatschein der Gemeinde Hohenems."
(6) Vgl. auch das Interview mit Leo Haffner, das bei dieser Gelegenheit aufgenommen wurde, in dem er sich amtlich als Vorarlberger bezeichnet; sein Urgroßvater sei Wirt und Metzger in Hohenems gewesen. Er sei aus St.Gallen "herübergekommen".
(7) Auszug aus dem Schutzbrief von 1617, den mir Johannes Inama aus dem Jüdischen Museum Hohenems freundlicherweise zukommen ließ. Vgl. auch Aron Tänzer, Die Geschichte der Juden in Hohenems, Verlagsbuchhandlung H.Lingenhöle & Co., Bregenz 1982 (unveränderter Nachdruck).
(8) Anton Legerer, "Geisterstadt unter Denkmalschutz" in: Jüdische Rundschau Maccabi, 12.Mai 1999. "Jüdisches Leben in Hohenems war vielschichtig: Fabrikanten (vor allem im Textilbereich), Kaufleute, Hausierer und Handwerker lebten bis zum Aufkommen anti­semitischer Hetze um die Jahrhundertwende in großteils freundschaftlicher Kooperation mit der christlichen Mehrheit."
(9) Jüdisches Museum Hohenems.
(10) Zu danken ist dem Jüdischen Museum in Hohenems, das mir die Recherchen zu Jean Amerys Ahnentafel ermöglicht hat.
(11) "Gasthof zur Stadt Graz", S.18.

Teil 2