Roberto Calasso

Das unnennbare Heute

Cover: Das unnennbare Heute
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
ISBN 9783518428665
Gebunden, 222 Seiten, 25,00 EUR

Klappentext

Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider. Roberto Calassos Essay ist in drei Kapitel gegliedert. Das dritte, zwei Seiten lang, beschreibt einen Traum Baudelaires als Präfiguration der zusammenstürzenden Zwillingstürme (9/11). Das zweite, "Die Wiener Gasgesellschaft", durchläuft die Jahre 1933 bis 1945. Es präsentiert Zitate deutscher und ausländischer Autoren, die damals ihre Eindrücke von Nazi-Deutschland festgehalten haben (Louis-Ferdinand Céline, André Gide, Simone Weil, Klaus Mann, Walter Benjamin, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Arthur Koestler, Curzio Malaparte, Virginia Woolf, Samuel Beckett u. a.). Erläuternd führt der Autor durch ein Panoptikum, in dem Naivität immer mehr dem Entsetzen weicht. Es sind Blicke auf Deutschland außerhalb der Leitlinien deutscher Erinnerungskultur, Blicke der unmittelbaren Erfahrung."Touristen und Terroristen", das theoretisch grundlegende erste Kapitel, nimmt gesellschaftskritische Motive aus Calassos letztem Buch "Die Glut" auf und spitzt sie zu. Gesellschaft überhaupt ist ein Gegner von metaphysischem Rang, nur metaphysische Waffen sind gegen ihn tauglich. Deren Arsenale jedoch hat die säkularisierte Gesellschaft geplündert. Sorge, in der Immanenz zu ersticken, prägt Das unnennbare Heute. Alles, was über die Gesellschaft hinaus auf ein Anderes, Jenseitiges wies, hat sie sich in pervertierter Form dienstbar gemacht: Ritus, Theologie, Metaphysik, selbst das Denken und die Sprache. Als ein Symptom dieser Situation, des "unnennbaren Heute" also, interpretiert Calasso den Terrorismus - den heutigen, insbesondere islamistischen, und den von früher. "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt."

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 04.12.2019

Rezensent Thomas Steinfeld entdeckt nicht immer den Sinn hinter den "verschwörerischen" Gedankenschwüngen des Verlegers und Schriftstellers Roberto Calasso. Gelingt der mäandernde Gang von einer Idee zur nächsten, springt für den Rezensenten allerdings ein plötzlicher Sinn heraus, eine Einsicht, etwa in die Analogie von Terrorist und Tourist. Unakademisch, wie der Autor sich dem Phänomen Gesellschaft annähert, Religion, dem Nichts, den Gewaltverbrechen des Zweiten Weltkriegs, wechselt der Text laut Steinfeld vom Theoretischen zur Anschauung und weiter zum Historischen.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 31.05.2019

Unbeeindruckt beginnt Dorothea Dieckmann ihre Kritik, abgestoßen beendet sie sie. Was sie an Calasso nervt, ist die häufiger vorkommende Kombination aus dünkelhaftem konservativem Eliteduktus mit einer Oberflächlichkeit, die Calasso offenbar immer nur bei anderen aber nicht auch - dafür haben wir dann ja Dieckmann - bei sich selbst diagnostiziert. Drei Essays lege er hier vor. Überall wird über die Säkularen gemeckert und der Verlust des Heiligen, besser noch des Numinosen, beklagt. Aber dann folgen "platte, abstruse Analogien" wie etwa die zwischen den Touristen und den Säkularisten. Und damit er den Säkularisten alles Böse unterstellen kann, zählt er die islamistischen Terroristen mal so einfach dazu! Am Ende geht's nochmal um Baudelaire, über den Calasso einen bekannten Band verfasst hat: In einem Traum Baudelaires brechen Türme zusammen. Calasso sieht darin eine Vorahnung des 11. September. Dieckmann findet derartigen Tiefsinn verzichtbar.