Vorgeblättert

Habib Tengour: Der Fisch des Moses. Teil 2

07.09.2004.
Ab und zu bricht ein Streit los. Und immer fließt Blut. Ausfluß uralter Antipathien zwischen den Rassen, tiefster Diskrepanzen in den religiösen Anschauungen von Nation zu Nation: Die Sudanesen glauben an die baldige Wiederkunft des Erlösers, des Vorherbestimmten, der alles Böse in der Welt auslöschen wird; diesen Glauben teilen sie mit Marokkanern und Algeriern. Die Ägypter werfen der iranischen Revolution vor, im eigenen Saft zu schmoren, statt Gottes Partei überall auf der Welt zu inspirieren. Die Chinesen wollen die Geburtenkontrolle abschaffen und zur Vielweiberei zurückkehren, ohne aber mit dem Kollektivismus a la Mao zu brechen. Die Türken möchten das Kalifat in Istanbul neu beleben und die islamischen Völkerschaften unter ihrer Oberhoheit einen. Die Tunesier befürworten eher eine islamische Republik mit einem kleinbürgerlichen Gelehrtenkolleg an der Spitze. Die Jemeniten und Malier halten das Stammessystem für den besten Garanten der Menschenrechte, da es den selbstmörderischen Exzessen des Individualismus einen Riegel vorschiebt. Die Indonesier kritisieren die Hegemonie der Araber, und die Usbeken und Albaner stimmen mit den Tschetschenen in der harschen Kritik an den Doktrinen von Ibn Taymiyya überein. Die Jugendlichen aus der Emigrantenszene aber träumen davon, ihren Stadtteil zu islamisieren, um dort allmächtig als Emir zu herrschen. Unter ihren Afghanenkutten tragen sie T-Shirts mit Malcolm-X-Porträt und kennen ganze Passagen seiner flammenden Anti-Amerika-Reden auswendig.
Und dann ist da noch eine neue Strömung, die sich quer durch alle Ethnien zieht und diese unter der Fuchtel von Theologen vereint, die sich selbst als Reformisten bezeichnen. Das Grundprinzip der Doktrin ist die Übereinstimmung von Wissenschaft und Prophetenwort. Ein schlichtes Dogma, aus dem sich die kategorische Ablehnung des "Irrwegs der Mystik" - so die Gelehrten wörtlich - bei der Lektüre des Korans ergibt. Jedes Verstehen ist streng positivistisch, und die Offenbarung somit rein wissenschaftlich. Diese Tendenz zieht Fanatiker und Doktrinäre an, jene, für die "die Mutter des Buches" seit aller Ewigkeit die Geschichte der Welt enthält, und wenn deren Verlauf dem gemeinen Menschenverstand undurchsichtig erscheint, so ist das nur die Frucht unvorhersehbarer Umstände und der Unfähigkeit des Menschen, sein Herz der Klarheit der Zeichen zu öffnen, den leuchtenden Wegmarken der Botschaft des Heils.
Manch Temperament ist besonders aufbrausend. Da ist jeder Vorwand recht, einen Krawall zu provozieren. Eine Gruppe Kabylen, die voll Eifer den theologischen Lektionen lauscht, ist über die Maßen erregbar und rachsüchtig. Die Mitglieder dieser Gruppe legen heftige Arroganz an den Tag. Sie behaupten, als einzige in der Lage zu sein, den heiligen Text korrekt zu interpretieren. Mehr als einmal sind durch ihr Verschulden tödliche Gefechte im Lager entbrannt. Der Anblick des Bluts schürt in ihnen die wilde Männlichkeit der Horde.
Ken, der amerikanische Ausbilder, und Sharif Shah, der pakistanische Verantwortliche im Camp, müssen oft eingreifen. Sie schaffen es nur mit Mühe, die tiefsitzenden Rivalitäten unter Kontrolle zu halten, die das Lager spalten.
Mourad sagt sich, wer weiß, vielleicht ist es wie im alten Rom, und die amerikanischen und pakistanischen Geheimdienste sind über diese Unruhen gar nicht so unglücklich, schüren sie vermutlich sogar insgeheim.

3

Sie finden sich wieder in tiefschwarzer Nacht, inmitten eines panischen Durcheinanders. Monströses Getöse. Totale Finsternis. Wahrscheinlich wurden die Stromgeneratoren vor dem Angriff absichtlich sabotiert. Verstreute Kleingruppen innerhalb des Lagers beschießen einander mit MGs, Maschinenpistolen und Selbstladegewehren. Blindlings, nonstop, kreuz und quer. Die Salven hören auf kein Kommando. Vergeudung von Material. Das reinste Chaos. Ein makabres Spektakel. Das Geheul der Verwundeten vermischt sich mit den ins Dunkle gebrüllten Flüchen und Befehlen. Große Konfusion rings um die Baracken und im Hof. Eine Leuchtkugel erhellt die Örtlichkeiten. Mourad, im ersten Moment geblendet, gewöhnt sich schnell ans Licht und erkennt in der Nähe der Kantine die Bande der Angreifer, die wie die Krebse am Strand von Canastel bei Mondschein herumwuseln. Die spielen Krieg, diese Blödmänner, sagt er sich in einem Anflug von Ekel. Plötzlich muß er niesen. Bei ihm ist das Niesen eine Art Alarmsignal. Kaum hat er Zeit, sich instinktiv flach auf den Bauch zu werfen, da zerfetzt schon eine Rakete die Nebenbaracke. Die Atmosphäre ist pulver-, blut- und schweißgeschwängert. Der faulige, erregende Gestank des Todes! Un-wandelbar gleichbleibend, denkt Mourad angewidert. Und doch sind die Gefechte des heutigen Abends nur eine Farce! Niesend richtet er sich wieder auf. 

Der Helikopter taucht das Lager in grelles Licht. Er kreist über den Baracken, die Scheinwerfer auf den Bereich gerichtet, wo das Scharmützel stattfindet.
Plötzlich wird das schrille Chaos von einer autoritären Stimme aus dem Megaphon übertönt. Wie ein Theaterdonner, der auf das Publikum niedergeht und in die entlegensten Winkel dringt, als würde er durch den Lichtkegel reflektiert. Die Stimme befiehlt, das Feuer einzustellen:
"Hier spricht Ken, euer Ausbilder. Stellt das Feuer ein! Verdammte Scheiße! Feuer einstellen! Hört auf mit eurem Schwachsinn! Sofortiger Rückzug in die Unterkünfte. Kommando marsch!"
Gewehrsalven und Feuerstöße verdoppeln sich, begleitet von einem Hagel an Flüchen, eine Art trotzig-ungestümes Du-kannst-uns-mal, als wollten die Kämpfer demonstrativ ihre zartbesaitete Verachtung militärischer Disziplin zur Schau stellen. Sie können es nicht leiden, wenn sie einer zur Ordnung ruft wie ordinäre Landser. Sie empfinden sich allesamt als autonome Rebellen, die niemandem Rechenschaft schuldig sind außer der eigenen Organisation. Sie haben sich schließlich nicht in irgendeiner Fremdenlegion verdingt, sondern sind als freie Männer in den Kampf gezogen, als Mudschaheddin, und legen Wert darauf, das allzeit in Erinnerung zu rufen.
Nach und nach hören die Schüsse auf. Ganz junge Männer, nur halb bekleidet, kommen mit verschreckter Miene in dichten Trauben aus sämtlichen Baracken. Sie laufen auseinander, um den Opfern beizustehen, die sich hilferufend am Boden winden. Alle haben ihre Taschenlampen dabei, um sich im Lager, das noch immer in tiefer Finsternis liegt, zurechtzufinden. Stöhnen und gellende Schreie zerschneiden die Luft und helfen den Rettern, die Überlebenden zu finden. (...)

4 

Mourad und Hasni sitzen Schulter an Schulter in ihren Betten. Die anderen Betten im Raum mit Schlafenden belegt, die komplett in ihre rauhen Decken gewickelt sind, aus denen verdreckte Rangerstiefel ragen. Wer sich im Schlaf aufgedeckt hat, gibt den Blick auf Brustriemen mit prallgefüllten Patronentaschen frei. Zwei Betten in der Mitte sind noch gemacht, ihre Inhaber liegen seit dem gestrigen Angriff vermutlich auf der Krankenstation.
Man hat den Fall zu den Akten gelegt, ohne Aufklärung, um jede Beschuldigung, jedes Rachegelüst im Keim zu ersticken. Ken hat beschlossen, in jeder Einheit einen Mann auszulosen und ihm eine Woche Strafarrest aufzubrummen. Die Nacht war für alle aufreibend gewesen. Kaum war nach der überraschenden Vollversammlung der Befehl zum Abmarsch in die Unterkünfte ertönt, hat sich jeder in voller Montur ins Bett fallen lassen, ohne zu versuchen zu ergründen, was eigentlich los war. Die Bestrafung ist verdient. Offensichtlich kennt kein Mensch den Grund der Schießerei. Es ist nicht das erste Mal, daß man im Camp übereinander herfällt. Die Akteure finden sich nach ethnischen Banden oder Zugehörigkeit zu einer Bewegung zusammen. Sie gehorchen ihren Anführern, ohne Fragen zu stellen. Wenn die Gefechte vorüber sind, feuern die Überlebenden ihre letzten Patronen in die Luft, um Gott zu danken, daß sie noch einmal davongekommen sind, dann vergessen sie den Zwischenfall und leben wieder wie gehabt mit den anderen vor sich hin. Ob man einander die Kehle aufschlitzt oder sich an derselben Tafel den Bauch vollschlägt, ist höherer Ratschluß. Daran kann man nichts ändern. 

In der Ecke neben der Steckdose kauert ein junger Bärtiger und versucht angestrengt, aus zwei Rasierklingen und einem Elektrodraht einen Tauchsieder zu basteln, um in einem Blechnapf Wasser zu erhitzen. Er kocht Kaffee.
Ein Sonnenstrahl dringt durch das vergitterte Fenster in den Raum, zerteilt ihn im Nu und bildet einen funkelnden Fächer zwischen Mourad und Hasni. Rötliche Reflexe tanzen auf den Gesichtern der beiden Freunde, die noch die Spuren der Erschöpfung des Vorabends tragen.
Hasni stopft eine dicke Tonkopfpfeife. Als er fertig ist, wiegt er bedächtig sein Haupt, dann zündet er sie an. Er macht mehrere tiefe Züge, einen nach dem anderen, und stößt dichte Rauchwolken aus, die ihn mit flauschigem Blau umhüllen.
Mourad reibt sich die Augen, schnuppert und verzieht das Gesicht. So früh am Morgen kann er diesen Geruch noch nicht ertragen. Er spürt ein Brennen tief im Hals. Er wendet sich an seinen Freund, der den blutigen nächtlichen Zwischenfall schon vergessen zu haben scheint: "Kein Wunder, daß sie dich den Afghanen nennen! Das paßt wirklich perfekt zu dir. Kaum bist du wach, hast du dir schon die Birne vollgekifft! Wie schaffst du das nur, daß dir davon nicht übel wird? Ist doch ungesund auf nüchternen Magen!"
Hasni darauf, leicht gekränkt: "Das stimmt doch gar nicht! Ich kannte in Paris einen Arzt, und der war kein Scharlatan! War sogar ein richtiger französischer Doktor! Der hat genau das Gegenteil gesagt. Er verschrieb es als Antispasmodikum. Das Wort habe ich von ihm. Shit hilft bei Magenschmerzen und Migräne. Hat er gesagt. Ist gut gegen Angst und Unruhezustände. Eine hervorragende Arznei. Den aus Afghanistan habe ich schon immer gemocht, vor allem den aus Balkh und aus Kandahar, der ist spitzenmäßig! Wie Kaugummi."
"Du weißt schon, daß das verboten ist, wie alles, was den Verstand und die Sinne des Menschen benebelt?" Mourad beneidet Hasni um sein Talent, über den Dingen zu stehen und alles, was den normalen Ablauf stören könnte, einfach auszublenden.
Hasni versichert, ohne Mourad anzusehen: "Nein, nur mißbilligt wird es! Und in manchen Fällen ist es sogar erlaubt; das ist eine Frage der Schule. Die Araber haben das Kraut sogar in der Küche verwendet; das ist eine gute Würze. Es ist kein Betäubungsmittel, im Gegenteil: eine Gaumenfreude. Und wie bei allem im Leben gibt es die Genießer und die Verklemmten! Empfiehlt Gott uns nicht, rückhaltlos die Wohltaten zu genießen, die er für uns bereithält? Der malekitische Ritus ist der beschissenste. Die Hanefiten sehen das viel lockerer. Die verstehen wenigstens zu leben! Ich habe Imam Mâlik ibn Anâs im Verdacht, mal einen üblen Trip gemacht zu haben. Das ist vermutlich der wahre Grund, der ihn dazu gebracht hat, den Konsum von Rauschgift zu verbieten. Er war zwar ein Quell der Gelehrtheit, aber er hatte von nix keine Ahnung. Muß man natürlich nicht über alle Dächer schreien!"
Mit amüsiertem Kopfschütteln betrachtet Mourad seinen Freund, halb bewundernd, halb vorwurfsvoll. Hasni hat immer überraschende, manchmal himmelschreiende Sprüche drauf. Was hat ihn nur hierherverschlagen, mit seinen losen Sitten, seiner Gerissenheit und seinem ziemlich anarchistischen Gedankengut? Das fragt Mourad sich oft. Hasni ist nicht aus dem Stoff gemacht, aus dem die Gläubigen sind. Kadirou auch nicht! Und doch sind seine zwei Freunde, die im selben Stadtteil wie er zur Welt gekommen sind, hier bei ihm. Unzertrennlich sind sie. Einander verbunden jenseits aller Worte, weit über das Schweigen hinaus. Dieses gemeinsame Viertel ist es, das sie eint. Sie müssen einander nicht ihr Leben erzählen, trotz ihrer endlosen raunenden Zusammenkünfte. Sie bezähmen die Zeit?
Mourad hatte seinen Onkel, den Bruder seiner Mutter, damals dazu gebracht, Hasni als Automechaniker in seiner Werkstatt am Plateau einzustellen. Kadirou war nur ein dummer Junge. Ab und zu erledigte er mal was für sie.
Damals war Religion kein Thema. Sie lebten in Unwissenheit, ohne sich ums Jenseits zu kümmern. Sie trafen sich täglich mit den Jungs aus der Nachbarschaft vor der Kneipe von Si Ahmed, dem Frisiersalon von Daho oder auf irgendwelchen Bordsteinkanten. Ob einer redete, ob er den Mund hielt, war völlig egal. Jeder kam und ging, wie er gerade wollte ? Sie hatten sich aus den Augen verloren seit der Zeit, da Hasni übers Meer war. Per Zufall treffen sie sich wieder in Afghanistan. Es war ihnen vermutlich einprogrammiert. Die wohlverwahrte Tafel. Was tu ich selbst eigentlich hier, fragt Mourad sich. Was ist das, ein Gläubiger? Warum ein Muslim tut, was er tut, übersteigt jedes Vorstellungsvermögen! Mourad ist perplex. Er verscheucht seine Gedanken, um nicht am frühen Morgen schon Trübsal zu blasen, dazu hätte er den Tag über noch Zeit genug, und statt sich weiter zu martern, fällt er in seine morgendliche Leichtigkeit zurück und beginnt, Hasni zu necken:
"Nanu, ich hatte keine Ahnung, daß du im theologischen Streitgespräch so beschlagen bist. Aber dein Standpunkt kommt mir etwas wacklig vor. Du führst an, was dir gerade in den Kram paßt. Auf keinen Fall sieht es die gesamte Gemeinschaft der Gläubigen so wie du."

Teil 3