Essay

Das Richtersche Rakel-Treatment

Von Wolfgang Brauneis, Hans-Jürgen Hafner
07.07.2016. Ein abstrakter Werkzyklus des großen Malers Gerhard Richter, der jüngst in Baden-Baden ausgestellt wurde, heißt "Birkenau". In der Ausstellung hingen auch Reprografien von vier Bildern, die von Häftlingen des Lagers unter Lebensgefahr aufgenommen und der Anlass von Richters Zyklus waren. Über Strategien, die aus einem "Bild", ein "Mahnmal" und dann ein "Hauptwerk" machen. Und über eine Öffentlichkeit, die diese Strategien flankiert und verstärkt.
Wem wäre es zu verdenken, dem im Zusammenhang mit Werk und Bedeutung Gerhard Richters der Maßstab nicht durcheinandergeriete. Gleichermaßen vom Markt wie von der Kunstgeschichte sichergestellte doxa ist, dass Richter der bedeutendste lebende Maler wenigstens aus Deutschland, sein Werk eines der wichtigsten dieses und des letzten Jahrhunderts sei. Angesichts der, wie es landläufig heißt, wahnsinnigen Beträge, die seine Bilder etwa bei Auktionen erzielen, kann es dem Ausnahmekünstler selbst schon mal passieren, dass er den Überblick oder zumindest das rechte Maß verliert. Wiederholt hat er in, übrigens keineswegs seltenen, Statements und Interviews der letzten Zeit geäußert, er könne sich die Preise, die seine Bilder erzielen, nicht wirklich erklären. Wohlgemerkt, die Preise. Die Bedeutung, der ästhetische und kulturelle Wert, der seinem Werk in toto und davon abstrahlend - und gleichermaßen von Markterfolg und journalistischem wie kunsthistorischem Nachrichtenwert flankiert - mittlerweile nahezu jeder seiner künstlerischen Äußerungen zugeschrieben wird, steht dabei nicht zur Diskussion. Das macht die Gleichung in der Tat schwer zu lösen: Richter ist gleich bedeutendster Maler ist gleich unbezahlbare Bilder ist gleich gute Kunst oder anders herum. Qua unbestimmbarer Variablen zwar unmöglich auszurechnen, geht die Gleichung selbsterklärend auf: Richter - und zugleich alles was er anfasst - ist Kunst; und da auch schon die beste, nachdem - ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv in seinen öffentlichen Äußerungen - die "Alten", Stichwort Tizian, heute ohnehin nicht mehr erreicht werden können.

Von dieser jegliche Verhandelbarkeit beinah a priori ausschließenden Formel profitieren Ausstellungs- und Auktionsbetrieb nicht weniger als Kunstversicherer und -historiker, wird die Bank zum Kanon und vice versa. Mit der Unbestechlichkeit eines Uhrwerks vollzieht sich Richters Kunst auf allen ihren Austragungs- und Verwertungsebenen als autonomisierte "Ästhetik der Administration", um eine berühmte, freilich aus der konzeptuellen Kunst der 1960er Jahre abgeleitete Formel seines langjährigen Leib-und-Magen-Interpreten Benjamin H. D. Buchloh heranzuziehen.

Dabei ist Gerhard Richters Kunst ums rechte Maß, um das illusionslose Aus- und Vermessen der Spielräume zwischen Bild und Malerei bemüht wie sonst kaum eine andere. Als Maler hat Richter mit regelrecht 'deutscher Gründlichkeit' den Raum der Malerei konzeptuell eingerichtet und diesen entlang der Trassen seiner verschiedenen Haupt- und Diffusionslinien eingeteilt: vom Gemälde zur Edition, vom Original zur Reproduktion, vom Bild zum Objekt, vom Produkt zum Diskurs, von dem im Werkverzeichnis kodifizierten Narrativ des 'Oeuvres' zu der im "Atlas" ausgebreiteten Erzählung vom 'Autor'. Kein Genre, ja kaum ein Thema, das er dabei unberührt gelassen hätte. Ob Porträt, Landschaft, Zeit- oder Historienbild; ob Abstraktion, Monochromie, Geste oder Aleatorik; ob Motive von hochgradig öffentlichem Interesse oder aus seinem engsten Privatleben - all das hat Richter in seine ständig expandierende Versuchsanordnung hineingezogen, mit der er über Malerei und Bild gleichermaßen zu verfügen versteht.

Bis Ende Mai zeigte er im Museum Frieder Burda in Baden-Baden eine vierteilige Serie neuer Bilder. Das alleine müsste nicht automatisch eine Sensation bedeuten. Denn obwohl es sich, wie Burda im Katalogvorwort schreibt, um einen der für ihn "wichtigsten Künstler" handelt und dieser zugleich einen seiner "Sammlungsschwerpunkte" darstellt, ist es halt doch nur "wieder einmal eine Ausstellung" dort. Und auch die Präsentation der neuen, ohne Zögern als "Hauptwerk des Künstlers"1 angekündigten Bilderserie sieht nicht weiter sensationell aus - vielleicht mit der einen kleinen Ausnahme, dass die vier 'Originale' direkt mit formatgetreuen fotografischen 'Reproduktionen' konfrontiert werden. Die formale Besonderheit der Reproduktionen ist, dass sie ihrerseits in jeweils vier Bildtafeln zerteilt und so installiert sind, dass ein kleiner Abstand zwischen den Tafeln eine negative Kreuzform entstehen lässt. Allerdings wendet der Künstler solche und vergleichbare Reproduktionsverfahren seit kurzem durchaus öfters an, wie um der nachfragebedingten Verknappung von 'Originalware' (und womöglich auch ihrem drohenden Entzug aus dem öffentlichen Ausstellungswesen) ein Schnippchen zu schlagen. Richters Entscheidung ist vielleicht am ehesten im Zusammenhang mit seinen Editionen zu sehen. Gleichzeitig reagiert er so auf kuratorische Initiativen, wie etwa für die vor drei Jahren mit buchstäblichen Reproduktionen realisierte Düsseldorfer "Reproduktion" der zwischen 1963 und 1966 mit Manfred Kuttner, Konrad Lueg und Sigmar Polke realisierten Manifestationen unter dem Label des so genannten "Kapitalistischen Realismus". Das Manöver wäre an sich schon diskutabel, da diese Praxis die Kluft zwischen gemaltem und fotografisch oder sonst wie produziertem Bild ja relativiert, wie sie für Richters eigenen Begriff von 'Bild' konstitutiv ist. Dies wäre im Hinblick auf Richters regelmäßige Einlassungen zu seinem Stellenwert im internationalen Auktions- und Kunstmarkt durchaus zu diskutieren. Immerhin scheint dieses Manöver einen Ausweg für den (zumal öffentlich subventionierten) Ausstellungsbetrieb zu offerieren, der aufgrund der außerordentlichen finanziellen Herausforderungen, die die Einrichtung einer Richter-Gemäldeausstellung unvermeidlich darstellt, zwangsläufig ins Hintertreffen geraten muss.

Baden-Badener Erfolge

Was die Burda-Schau im für aktuelle bundesrepublikanische Verhältnisse immer noch unerhört saturiert aussehenden Baden-Baden sensationell und genau deshalb brisant macht, sind gerade nicht die zuvor bereits in ähnlicher Konstellation im Dresdener Albertinum und in der Whitworth Gallery in Manchester gezeigten vier abstrakten Bilder, und auch nicht die ihnen beigesellten Reproduktionen. Die Sensation, worauf die Ausstellung zielt, und die damit verbundene Brisanz hängen an ihrem ebenso spektakulären wie spektakulär kommunizierten Titel.

"Birkenau" heißt der Bildzyklus, ganz offensichtlich nach dem berüchtigt gewordenen größten Vernichtungslager der Nationalsozialisten benannt, das 1941 an das Stammlager Auschwitz angeschlossen wurde und im Januar 1945 von Soldaten der Roten Armee befreit worden war. Bis dahin waren dort 1,1 Millionen Menschen ermordet worden. Der Bildtitel gibt der Schau aber nicht nur ihren Namen, er verordnet ihr zudem eine Bedeutung.

Über die vier zum Zyklus zusammengefassten Gemälde samt ihrer Reproduktionen hinaus, die in Baden-Baden mit dem Titel "Vier Reproduktionen CR 937 B" ausgestellt sind, geht es auch noch um die weiteren in ihrem Kontext entstandenen Diffusionslinien, Kommentarapparate und Merchandiseartikel. So ist "Birkenau" beispielsweise auch in Form eines eigenen Künstlerbuchs im Verlag der Buchhandlung Walther König zu haben. Es heißt "Gerhard Richter: Birkenau. 93 Details aus meinem Bild 'Birkenau'". Außerdem liefert eine Auswahl aus diesen Detailansichten seither bereits Covermotive für das im Januar dieses Jahres bei Suhrkamp veröffentlichten Kompendium "'Mit meiner Vergangenheit lebe ich.' Memoiren von Holocaust-Überlebenden".2 Und entsprechend wenig überrascht es, wenn das originale, Handwerksspuren aufweisende Layout des Künstlerbuches die Präsentation der "Birkenau"-Bilder flankiert; und wenn an die Hängung der Reproduktionen auch gleich eine Vitrine angeschlossen ist mit der schön in Szene gesetzten Suhrkamp-Publikation. Schließlich haben wir es doch mit nichts weniger als mit Bildern von Gerhard Richter zu tun, eben in verschiedenen Aggregatszuständen und Verfügbarkeiten. Was die Baden-Badener Schau lancieren will, wird unterm Strich zu einem regelrechten "Birkenau"-Paket, praktischerweise mit dem O-Ton von KZ-Überlebenden als Bonustrack im schönen Sammelschuber inklusive: einmal im Sinne musealer Aura vitrinisiert, das andere Mal als kulturindustrielles Produkt vielfach im Museumsshop verfügbar. Und als wäre damit nicht genug, wird das "Birkenau"-Paket gleich zweifach in konzeptionell-kuratorisch trockene Tücher gepackt.

Rakel und Handlanger

Das Entree zu "Birkenau" bildet nämlich eine in Kooperation zwischen Richter und Burda-Intendant sowie langjährigem Richter-Experten Helmut Friedl ausgearbeitete thematische Präsentation, die das angeblich kontinuierliche inhaltliche Interesse Richters an der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust mit einer Genealogie seines formalen Verfahrens der Reproduktionen und Detailaufnahmen von dem 1998 entstandenen "128 Fotos von einem Bild (Halifax 1978) II" bis zu seinem "War Cut"-Projekt (2004) synthetisieren will. Und als wäre der Sache so noch nicht genug gedient, mochte es sich der Hausherr offenbar nicht nehmen lassen, noch die Ausstellung "Große Abstraktion" mit so genannten Meisterwerken abstrakter (Nachkriegs-)Kunst von u. a. Carl Andre, Willem de Kooning, Blinky Palermo und Andy Warhol daran zu koppeln. Große Abstraktion, so wird hier suggeriert, kann gar nicht nichts bedeuten. Dabei inszeniert die Schau Richters Position als deutschen Sonderweg zwischen den Polen der amerikanischen Kunstströmungen Abstrakter Expressionismus, Minimal Art und Pop Art, die der Meister demnach sozusagen 'verrichtert' hätte. Diese arg vergröbernde Genealogie beiseite gelassen, ist Abstraktion unterm Strich allerdings vor allem deshalb bedeutend, weil sie sowieso "groß" und damit offenbar schwer zu messen ist. Wir erinnern uns: Hinter dem Titel "Birkenau" verbergen sich eigentlich vier abstrakte, relativ große Bilder im Hochformat. Sie kommen - gemessen an anderen Exemplaren der Gruppe "Abstrakter Bilder" - mit einer vergleichsweise sparsamen Palette aus: Da treffen, komplementär aufeinander zu gebürstet, ein tiefsattes Rot und ein fast industrielles Grün aufeinander, die wie verschleiert erscheinen - und sozusagen manuell eingetrübt durch das bekannte Richtersche Rakel-Treatment - durch ein brüchiges schwarz-weiß-graues Layer, das aus der Überlagerung weißer mit schwarzer Malmasse entstanden ist. Die Bilder, deren Grau ihren Interpreten Helmut Friedl im Katalog zur Ausstellung "Ascheregen" assoziieren lässt,3 sind in Richters genau geführtem Werkverzeichnis mit den Nummern 937/1-4 versehen.

Wir wissen natürlich und durften auch vor der Baden-Badener Schau schon 'aus der Zeitung' erfahren, was es mit diesen Bildern auf sich hat. Ihr Making-of, vor allem aber ihr Anlass und Thema wurden bereits ein Jahr lang über verschiedene Kanäle - vor allem aber im Feuilleton der F.A.Z. -, sagen wir, kolportiert. Richters "Birkenau"-Bilder handeln von Bildern aus dem gleichnamigen Vernichtungslager. Genauer gesagt nehmen sie sich vier Bilder zum Vorbild, die unter abenteuerlichsten Umständen 1944 von einem bis auf seinen Vornamen und die griechisch-jüdische Herkunft unbekannt gebliebenen Lagerinsassen und Mitglied eines so genannten, für die Vergasung und anschließende Leichenverbrennung zuständigen Sonderkommandos namens Alex aufgenommen worden waren; von Mitgliedern des polnischen Widerstands entwickelt, kursierten sie seit 1947 öffentlich, ohne noch bis Anfang der Nullerjahre recht beachtet worden zu sein. Die Bilder waren beispielsweise, wenngleich in angeschnittener Form, in der wichtigsten deutschsprachigen Quelle zur bildlichen Repräsentation des Holocaust, in Gerhard Schönberners "Der gelbe Stern" enthalten, dessen erste Auflage zum Jahresende 19604 erschien. Erst 2000 avancierten sie zum Gegenstand einer wissenschaftlich-publizistischen Debatte.

Ohne diese - zumal in Frankreich mit großer Schärfe um die grundsätzliche (Un-)Möglichkeit einer dem Holocaust gegenüber angemessenen Politik der (visuellen) Repräsentation geführte - Debatte hier auch nur auszugsweise wiedergeben zu können, berührt sie doch einen ebenso springenden wie problematischen Punkt. Mittlerweile wurde ausführlich berichtet und gehört es sozusagen zum Kernbestand der 'Legende' des "Birkenau"-Projekts, dass Richter in einer Rezension der deutschen Ausgabe des von Georges Didi-Huberman im Zuge der erwähnten Kontroverse vorgelegten Buchs "Images Malgré Tous" (2004)5 offenbar erstmals Notiz von den besagten Fotos genommen hatte. Dabei bleibt meist nicht unerwähnt, dass diese - im Übrigen ausführlich den damaligen Debattenstand kommentierende - Buchbesprechung von Helmut Lethen am 11. Februar 2008 in der F.A.Z. abgedruckt war. Sie markiert damit den inoffiziellen Startpunkt von "Birkenau"

In einer erneut in der F.A.Z. vom 28. Februar 2015 erschienenen Rezension ist anlässlich der ersten öffentlichen Präsentation der vier damals noch unter dem reichlich unspektakulären Titel "Abstrakte Bilder (937/1-4)" gezeigten Bilder erstmals öffentlich von Birkenau die Rede. Zwar hatte der Pressetext des Albertinum betont unaufgeregt auf die in den Bildern hinterlegte Referenz verwiesen und die Museumskommunikation wahrscheinlich in Absprache mit dem Künstler den Ball bewusst flach gehalten.6 Dagegen inszeniert der von Julia Voss verfasste Beitrag - frappierenderweise in zeitlicher Nähe zum medial entsprechend aufmerksam begleitenden 70. Jahrestag der Befreiung des Lagers - den konzeptionellen Zusammenhang zwischen Bildern und Produktionskontext als mittlere Sensation und spricht - an der ursprünglichen Werkintention womöglich vorbei - bereits im Titel von einem "Mahnmal für die Häftlinge von Auschwitz". Es ist dieser Text, der die öffentliche Wahrnehmung der Bilder als Mahnmal eichen will und dabei zumindest ihren künftigen Deutungs- und Bedeutungshorizont vorgibt. Seitdem liegt die Messlatte - auch für Richter selbst - hoch.

Dabei ist er, auch davon spricht der Text ausführlich, an den Bildern selbst, der zugleich konzeptionellen Über- wie ihrer malerischen Umsetzung der vier Motive aus dem Sommer 1944 gescheitert. Der ursprünglich gefasste - und ausführlich im Katalog zur Ausstellung dokumentierte - Plan die Fotografien vergrößert zu malen ist nicht aufgegangen. Nach Fotovorlage mittels Malerei ein, im Richterschen Sinne, schlüssiges Bild7 von den in den Fotografien angedeuteten Schrecken des Vernichtungslagers herzustellen ist nicht geglückt. Das könnte eine gute Nachricht sein. Didi-Huberman wertet Richters Projekt in seinem in - reichlich fragwürdig - persönlicher Briefform gekleideten Katalogtext zu "Birkenau" als "Aporie"8, die es im Sinne des Aporetischen erfolgreich nur weiter zu entwickeln, bewusst auszubauen gälte. Nach einem kritischen Blick auf die Bilder selbst bräuchte Richters Scheitern am selbst gestellten Thema allerdings nicht einmal eine Meldung wert sein. Die tatsächlich schlechte Nachricht ist nun, dass Richters - individuelles - Scheitern als Maler dennoch als künstlerischer Erfolg verbucht werden kann, dass er als solcher offenbar um jeden Preis öffentlich gemacht, zu diesem Zweck maximal verallgemeinert werden muss. Freilich macht Richter selber nur Bilder, die Headlines machen, ob er will oder nicht, andere.

Das wird man wohl noch malen dürfen

"Birkenau" ist zwar nach wie vor ein Bild, zusammengesetzt aus vier abstrakten Bildern, oder besser Gemälden, aus dem Atelier Gerhard Richters. Es sind zusammengenommen 20,8 Quadratmeter ungegenständlich-farbig überzogener Leinwand, konfrontiert von noch einmal 20,8 Quadratmetern fotografischer Reproduktion, in den Editionen CR 937/A und CR 937/B gut gesichert hinter geviertelten Plexiglas-Tafeln. Es sind 93 fotografierte Details aus einem auch auf den dritten Blick banalen Bild, das bei der Verwendung der Details für das Künstlerbuch - nicht zu Unrecht - als "sein", Richters eigenes Bild ausgewiesen wird. Aber es sind diese in ein Layout gebrachten Fotografien, die ihrerseits eben in ein eigenes Buchobjekt münden, auf andere Buchcover disseminieren, zugleich Schritte in dem Prozess, über das 'Bild' Richters zwangsläufig auch seinen 'Namen' immer weiter zu verbreiten. Und es ist die spektakuläre Dimension dieser - konzeptuell gewollten - Dissemination, die Richters ansonsten hellsichtigsten Interpreten Buchloh in seinem Essay zu "Birkenau" von den vier abstrakten, nochmals, Gemälden deshalb tatsächlich vom "Goldstandard" sprechen lassen. Selbstredend erfordert auch dieser Essay nochmals eine eigene, naheliegend betitelte Publikation.

Nun liegt es in der Tat nahe das Maß dort zu verlieren, wo selbst das Scheitern des Malers unabänderlich dennoch künstlerischen Erfolg bedeutet; wenn dieses Scheitern den institutionell-kritisch-kommerziellen Komplex auf Basis der Gleichung Richter-gleich-Kunst nur noch zusätzlich mit sympathisch-beschädigtem Heroismus - der alte Mann und das Bild, fakultativ der weltberühmte Maler und der Holocaust - zu befeuern versteht.

Einerseits haben wir ein Bild, 20,8 Quadratmeter Leinwand, geteilt durch vier Gemälde. Anderseits ein Wort, den Titel "Birkenau". Ein Wort, das - wie Bilder nun mal Bilder neben zahllosen anderen sind - halt ein Wort unter vielen ist. Es gibt viele Birkenaus, nicht nur das polnische Dorf Brzezinka, in dessen Nähe 1944 ein Vernichtungslager errichtet wurde. Nicht nur für hiesige Ohren hat Birkenau gleichwohl einen besonderen Klang. Zum Vergleich: Wie "Abstrakte Bilder (937/1-4)" wurde auch "Halifax" (1978) im Laufe der Zeit umbetitelt. Es ist jenes ungegenständliche Gemälde, das die Vorlage für Richters erste ausführliche Beschäftigung mit der fotografischen Detailreproduktion eigener Werke bot, die zu den in Baden-Baden gezeigten "128 Fotos von einem Bild (Halifax 1978) II" zusammengefasst wurden. Heute heißt es "Abstraktes Bild (432/5)".

Bild darf aber eben nicht Bild, Wort nicht Wort bleiben. "Birkenau" soll und will offensichtlich gar nicht erst als - gemaltes - Bild wirken. Richter, seine Handlanger, die Baden-Badener Schau argumentieren mit einem regelrechten Komplex "Birkenau". Der soll und will gleichermaßen durch spektakulär-progressive "image power" und im konservativ-kunsthistorischen Paket, als Ausstellung, funktionieren.

Auf der sicheren Seite

Darum wird das Bild "Birkenau" in eine regelrechte Genealogie von Richters "Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus"9 gebracht, mit "Birkenau" als kausaler Apotheose. Erstmals resultiert diese Auseinandersetzung nämlich in einem gemalten Bild. Als traute man dem Frieden nicht, werden dennoch eifrig Daten, Materialien, Bilder geliefert, Presse-, Katalog- und Zeitungstexte geschrieben, Interviews geführt und Anekdoten kolportiert, Kunstgeschichte auch mit ihren Versäumnissen weit eher rekapituliert als, was vielleicht anstünde, gründlich revidiert. Und mit untrüglicher Gewähr werden sich natürlich die immer schon passenden Seiten im "Atlas" finden lassen. Man könnte sagen: Spielte die Malerei die Hauptrolle im Stück 'Kunst', so wäre das Stück 'Wahrheit' mit dem "Atlas" nicht sehr viel schlechter besetzt.

Einmal mehr lesen wir von der gemeinsam mit Konrad Lueg konzipierten Ausstellung "Sex und Massenmord" bei dem Buchhändler und Galeristen Hans-Jürgen Niepel, in der 1966 in Düsseldorf pornografische Bilder mit Aufnahmen aus Konzentrationslagern gegenübergestellt werden sollten - ausgerechnet solchen, die das Vorführen und demonstrative Erniedrigen von Häftlingen in Szene setzen. Richter und Lueg, der 1967 unter seinem bürgerlichen Namen Konrad Fischer seine zumal bei der Durchsetzung amerikanischer Minimal Art äußerst erfolgreiche Galerie gründen wird, schraken damals vor möglichen Konsequenzen zurück und nahmen Abstand von dem Projekt. "Die Zusammenstellung hat auch etwas schrecklich Spektakuläres", sagt Gerhard Richter heute.10 Gleichzeitig war 'Nichts verkommen' zu lassen eine bis weit ins Jetzt hinein zu hörende Devise aus der Nachkriegszeit. Und so sehen wir wohl deshalb seit Jahrzehnten die entsprechenden Tafeln aus dem "Atlas", Nr. 16 bis 20, die bis heute bemüht wirkenden Versuche mit Auf- und Anschnitten, Filzstiftkolorierung oder Unschärfefiltern künstlerische 'Bilder' aus den Fotografien vom Terror der KZs zu machen. Kaum eine Präsentation des "Atlas" in letzter Zeit verzichtete zudem auf jene Anordnung, die im Anschluss die Tafeln 21 bis 23, mehr oder weniger 'scharf', pornographische Szenen zeigt. Zumindest letztere fanden in zahlreichen, 1967 entstandenen Akt-Gemälden reichlich Verwendung.

Zum Vergleich: zwischen 1959 und etwa 1964 realisierte der von Wolf Vostell auch in Deutschland propagierte NoArt!-Initiator und Holocaust-Überlebende Boris Lurie Collagen, die Pornografie und KZ-Fotografien direkt konfrontieren - so in der Collage "Buchenwald" oder "Saturation Painting" (1959-1964), wo er auf einer abgespannten Leinwand verschiedene Ansichten eines Pin-up-Girls rund um ein Zeitungsfoto arrangiert, das hinter einem Stacheldrahtverhau hervorschauende Häftlinge zeigt. Luries bekannteste Arbeit "American Railroad" (oder "Railroad Collage", 1963) setzt ein in Rückenansicht zu sehendes Pin-up direkt über die vergrößerte Fotografie von auf einer offenen Ladefläche aufgeschichteten Leichen. Als politisierte und dezidiert auf Provokation setzende Bewegung verstand sich NoArt! auch und gerade in Opposition zur affirmativen und selbstverständlich nicht nur ikonografisch sondern auch konzeptionell mittels adäquater Produktlinien und Vetriebsweisen vollzogenen Konsum- und Wohlstands-Mimese der Pop Art amerikanischer Provenienz. Anhand der, auch in Düsseldorf verfügbaren, Ausgabe des amerikanischen Kunstmagazins Art International vom Januar 1963 konnte man sich von der amerikanischen Avantgarde, von so genannten neo-dadaistischen Tendenzen wie der kritischen NoArt! bis zur gängigen Pop Art gleichermaßen ein Bild machen. Trotz zeitgleichen Interesses am Anti-Künstlerischen, das sich in den eigenen Publicity-Stunts des "Kapitalistischen Realismus"-Flirts mit der lokal (zumal durch Joseph Beuys' problematische Einflussnahme auf das "Festum Fluxorum" an der Düsseldorfer Kunstakademie) eher verzerrt wahrgenommenen Fluxus-Bewegung widerspiegelte, stellten sich Lueg und Richter im Frühjahr 1963 im Rahmen einer Paris-Reise bei Iris Clert und Ileana Sonnabend bereits als "deutsche Pop-Art Künstler" vor. Man wählt die sichere Seite, ist im Grunde immer schon 'dafür', nicht 'dagegen'. Und Malerei wirft, auf Kunst und Karriere bezogen, nunmal sehr viel sicherere und in jedem Fall größere Bilder ab, als es die Fotografie damals vermocht hätte.

Der zweifelhafte Erfolg von "Birkenau" beruht darauf, dass das Bild gemalt, das Wort belastet ist. Dass es einerseits ein Werk der Malerei ist und ausgerechnet von Richters Hand stammt, dass es von ihm andererseits diesen Titel empfing, ist tatsächlich das Spektakuläre daran. Diese Entscheidungen lassen in der Summe sogar noch die "Auseinandersetzung mit dem Holocaust" wenn nicht völlig in den Schatten gedrängt, so doch hinter den Reproduktionen, Editionen, "Atlas"-Fotografien, Katalogen, Reviews und Interviews in die dritte Reihe verbannt erscheinen. Das reale Birkenau als Standort eines Vernichtungslagers, dessen Horror bei aller Inadäquatheit dennoch unheimlich manifest und an den vier 1944, unter ebenso unvorstellbaren wie nur mühsam rationalisierbaren Bedingungen entstandenen Bildern spürbar gemacht wird, die Geschichte und Kritik einer visuellen Repräsentation des Holocaust, ja generell die historische und ästhetische Auseinandersetzung damit - alle diese Aspekte schrumpfen zu parerga des Richterschen "Birkenau", der sich dank Rakel und Helfeshelfern zum Komplex auswachsen konnte. Vielleicht mag "Birkenau" eine außerordentliche künstlerische Karriere krönen. Sicher macht es ein zentrales Kapitel des Holocaust zur Privatangelegenheit eines deutschen Mannes, Beruf Maler. Und trotz der Tatsache, dass die Überlebenden des Holocaust von Jahr zu Jahr weniger werden, wird der deshalb um so wichtigere Versuch seiner historischen Bewältigung und ästhetischen Erinnerung zu einem - öffentlich ausgetragenen - closed job.

Zu spektakulär, so Richter, wäre die Zusammenstellung der Fotografien für "Sex und Massenmord" 1966 geworden. Ist es dann wenigstens spektakulär genug, dass die vier Fotografien des griechischen Juden Alex aus dem Sommer 1944 in Baden-Baden offenbar hängen... müssen? Wir können es längst nicht mehr 'spektakulär' finden, sondern es erscheint uns geradezu obszön, dass dort vier digitale Prints, gerahmt, vergrößert, pixelig, laut Wandlegende zwar anonym und entsprechend nicht autorisiert aber gleichwohl aus "Privatbesitz", hängen, um die eigentliche Legende von "Birkenau" zu stützen. "Birkenau" ist laut dem Künstler nur ein "Bild", nach seinen Interpreten womöglich sogar ein "Mahnmal", aber aus Sammlersicht in jedem Fall immer schon ein "Hauptwerk". Die Zeiten sind günstig um zwischen öffentlichen und individuellen Interessen gründlich aufzuräumen. Profite werden nicht erst seit gestern gern privatisiert, Schulden sozialisiert. Richter ist ein Maler des Westens und seinen noch in der DDR entstandenen Illustrationen zum "Tagebuch der Anne Frank" bleibt die Aufnahme ins Werkverzeichnis naheliegenderweise versagt.11

Das rechte Maß kann, Stichwort "Goldstandard", schon einmal verloren gehen, Prioritäten würden dann fast zwangsläufig falsch gesetzt werden. "Beschäftigt Sie die Frage, was passieren würde, wenn es hieße: ein neuer Rekordpreis für 'Birkenau'?" fragen Geimer und Voss. Macht Größe wirklich solch einen Unterschied, dass Maß und Ziel gänzlich verloren gehen?

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1 alle Zitate aus: Frieder Burda: Vorwort, in: Helmut Friedl (Hg.) Gerhard Richter. Birkenau (AK, Museum Frieder Burda), Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2016, S. 5
2 Ivan Lefkovits (Hg.): 'Mit meiner Vergangenheit lebe ich.' Memoiren von Holocaust-Überlebenden, 15 Hefte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016. Der Verlag vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass jedes dieser "einzigartigen Zeugnisse" von einem Bild von Gerhard Richter begleitet wird: "15 Hefte. 15 Bilder".3 Helmut Friedel: Gerhard Richter. Aufgehoben im Bild - Zum Birkenau-Bild, in: a. a. O. S. 7-20, S. 7
4 Georg Schönberner: Der gelbe Stern, Hamburg: Rütting & Loening, 1960
5 Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2007 (Übersetzung Peter Geimer)6 vgl. Staatliche Kunstmuseen Dresden zur Ausstellung "Gerhard Richter im Albertinum", letzter Zugriff am 11. April 2016
7 In Richters Sprachgebrauch klingen gerne Aspekte des in der angelsächsischen Diskurs-Landschaft sehr geläufigen painting/picture-Diskurses an.
8 Georges Didi-Huberman: Die Malerei in ihrem aporetischen Moment, in: Friedl, a. a. O., S. 31-54, S. 33
9 In dem von Peter Geimer und Julia Voss geführten Interview mit Gerhard Richter in der F.A.Z. vom 26. Februar 2016 werden, sobald es um Richters "Auseinandersetzung" mit etwas geht, die Wort "Nationalsozialismus" und "Holocaust" bemerkenswerterweise nahezu synonym gebraucht.
10 ebd.
11 Einzig Kathrin Hoffmann-Curtius beschäftigt sich in ihrer verdienstvollen Publikation "Bilder zum Judenmord", die 2014 (in zweiter Auflage 2015) erschien und den "Birkenau"-Komplex noch nicht berücksichtigen konnte, mit Richters Illustrationen von 1957.