Ralph Dutli

Mandelstam

Meine Zeit, mein Tier. Eine Biografie
Cover: Mandelstam
Ammann Verlag, Zürich 2003
ISBN 9783250104490
Gebunden, 635 Seiten, 28,90 EUR

Klappentext

Ossip Mandelstam ist ein Mythos. Er gilt in Russland und weltweit als Märtyrer der Poesie, der für seine Dichtung mit dem Leben bezahlte. Vor allem bekannt ist er als politisch Verfolgter und als Autor eines scharfen, den 'Seelenverderber' Stalinentlarvenden Gedichts. Sein Tod unter entwürdigenden Umständen 1938 in einem Zwangsarbeiterlager bei Wladiwostok beförderte entscheidend seinen Ruhm. Mandelstam als Gulag-Häftling, als Opfer totalitärer Macht im 20. Jahrhundert: Dies ist oft das gängige Bild dieses Schriftstellers. Der stolze und selbstbewusste, scharfzüngige und streitlustige, sinnliche, lebensfrohe und witzige Mandelstam, der durchau kein Märtyrer sein wollte, wird aus dem Mythos meist ausgeblendet. Das vorliegende Buch ist die international erste Werkbiographie Ossip Mandelstams.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 02.01.2004

Marion Lühe ist begeistert von dieser Biografie des russischen Dichters Ossip Mandelstam, der zu Stalins Zeiten in ein Arbeitslager in den Ural deportiert wurde und dort starb. Ihrer Meinung nach nähert sich Autor Ralph Dutli auf differenzierte, unaufdringliche und sensible Weise dem mythenumrankten Dichter. Einer der Mythen, den Dutli dekonstruiert, ist beispielsweise der des aus Prinzip rastlosen Asketen, der sich nirgendwo niederließ und verwurzelte. Nach Dutlis Erkenntnissen war es die schiere Not, die den Dichter, der oft als "Märtyrer der Poesie" wahrgenommen wird, immer wieder an neue Orte getrieben hat. Trotzdem hat der Dichter nicht nur eine tragische und von seiner Umgebung missverstandene Seite. Dem Biografen gelingt es nach Lühes Meinung, "den lebensfrohen, sinnlichen, witzigen Mandelstam zum Vorschein zu bringen". Zudem ordnet Dutli Mandelstams dichterisches Schaffen auf anschauliche und gelungene Art in die literarische Traditionen seiner Zeit ein, lobt unsere Rezensentin.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 01.12.2003

Rezensent Christoph Bartmann ist begeistert von Ralph Dutlis "eindrucksvoller Mandelstam-Biografie", die er als "Krönung" der von Dutli herausgegebenen Werkausgabe des Dichters feiert. Dank Dutlis Leistung "als Übersetzer und Biograf", lobt Bartmann, habe das deutsche Publikum nun "den denkbar besten Zugang" zu Mandelstams epochalem Werk. Das Buch, so erfährt man vom Rezensenten, bietet außerdem nicht allein die Geschichte von Leben und Werk des 1891 in Warschau geborenen und 1938 im Archipel Gulag an Entkräftung gestorbenen Dichters, der unter anderem Mitbegründer der "akmeistischen" Bewegung war, einer Art "Konter-Avantgarde", wie der Rezensent sie nennt, und von der Mandelstam selbst, wie man erfährt, einmal sagte, sie sei vor allem "Sehnsucht nach Weltkultur". Ralph Dutli hat darüber hinaus, berichtet Bartmann, am Ende seiner Biografie auch "Stimmen von Dichtern über Mandelstam" gesammelt, unter denen die "vielleicht bemerkenswerteste" für den Rezensent diejenige Pier Paolo Pasolinis war: "Leichtfüßig, klug, geistreich, elegant, ja sogar exquisit, fröhlich, sinnlich, immer verliebt, redlich, hellsichtig und glücklich, selbst noch im Dunkel seiner Nervenkrankheit und des politischen Schreckens, jugendlich, ja fast jungenhaft, bizarr und kultiviert, treu und erfinderisch, lächelnd und geduldsam, hat uns Mandelstam eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts geschenkt."
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 26.11.2003

Renate Wiggershaus kann Ralph Dutlis "einfühlsame wie präzise" Mandelstam-Biografie ohne Einschränkung empfehlen. Das Hauptanliegen des Autors sei, zu erklären, wie der russische Dichter trotz all des Leids, des stalinistischen Terrors, der Isolierung und schließlich der Verbannung seinen Wagemut, seine geistige Heiterkeit und visionäre Klarsicht behielt. Dutli schildere Mandelstam als einen Menschen voll scheinbarer Widersprüche: der Weltbürger, der vielen Orten und Regionen zugetan war, und der nomadisierende Wanderer, die geistige Verwurzelung im Russischen wie im Römisch-Hellenistischen. Der grundlegende Wesenszug Mandelstams aber sei seine "Weltzugewandtheit" und "Bereitschaft zur Versöhnung" gewesen. Dutli stützt sich für sein Porträt auf die Autobiografie von Mandelstams Frau Nadeshda ("Das Jahrhundert der Wölfe"), Tagebuchaufzeichnungen und Essays von Zeitgenossen sowie auf Verhörprotokolle und Untersuchungsberichte der sowjetischen Geheimpolizei. Herausgekommen ist eine gelungen Biografie, lobt die Rezensentin, "mit viel Empathie, dabei aber nüchtern und kenntnisreich" geschrieben.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 28.10.2003

Als mustergültige Dichterbiografie preist Ulrich M. Schmid die lebensgeschichtliche Deutung des Mandelstam-Übersetzers Ralph Dutli, der wie kein anderer dazu berufen sei, weil er bereits die zehnbändige Werkausgabe im Amman-Verlag betreut habe und alle Facetten seines Werkes genauestens kenne. Schmid legt Wert auf das Wörtchen "alle", denn Paul Celan, der als erster Mandelstam-Gedichte ins Deutsche übertragen und damit das Werk des Russen hierzulande überhaupt bekannt gemacht hatte, hat seines Erachtens einen nicht unerheblichen Teil des Mandelstam'schen Oeuvres ausgeblendet. Celan bevorzugte den tragischen, elegischen Mandelstam, schreibt Schmid, wohingegen der fröhliche, sinnliche, manchmal auch alberne Dichter keine Beachtung fand. Damit wurde aber, findet Schmid, die Rezeption Mandelstams von dessen ohnehin tragischen Leben noch weiter ver- oder überschattet. Mandelstams Martyrium war die Folge und nicht etwa die Ursache seines Schreibens, betont Schmid. Auch auf Mandelstams wohl schwieriges Verhältnis zum Judentum gehe Dutli ein und räume mit dem noch heute gängigen Vorurteil auf, Mandelstam sei ein typischer Repräsentant des jüdischen Selbsthasses gewesen.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 25.09.2003

Glücklich ist Andreas Isenschmid, wenn auch nicht wunschlos. Dennoch stellt er Ossip Mandelstams qualvollen Tod im Gulag an den Anfang seiner Besprechung: "Noch nie ist einem deutschen Publikum dieser Tod und jede Einzelheit des Weges zu ihm so genau und taktvoll, so kenntnis- und ideenreich beschrieben worden wie in Dutlis Biografie." Mandelstams Leben habe auf diesen Tod hingesteuert, Verzweiflung und Glück lagen dicht beieinander und ergaben seinen "Willen zur Intensität und zu ihrem lyrischen Ausdruck", dem sein Übersetzer und Herausgeber Dutli "hellhörig und mit spürbarer, aber nie überschießender Empathie" folge. Aber warum eigentlich? Fand nicht Mandelstam, dass die Erinnerung an einen Lebenslauf rein gar nichts zum Erfassen der Welt beitrage? Wozu eine Biografie, wenn wir seine Gedichte haben, hat sich Isenschmid erst gefragt. Doch dann folgten die über 600 Seiten "von Dutlis schneller, muskulöser, warmer und farbiger Sprache" und die Bedenken sind vergessen, zumal der Autor Mandelstams Lyrik und sein Leben so fruchtbar und abseits kleingeistiger methodologischer Regeln zusammenführe, dass man das Werk des Dichters hinterher anders lese - klüger. Und warum ist unser Rezensent nicht wunschlos glücklich? Weil sich Dutli "etwas zu sehr von Mandelstams Unruhe" habe anstecken lassen und zu selten innehalte, "um ein Detail länger leuchten zu lassen". Isenschmid findet alles gut, was in diesem Buch drinsteht, aber er hätte gern noch mehr davon, so wie er nicht genug von Dutlis Mandelstam-Übersetzungen kriegen kann: "Der Rezensent hat übrigens eine leise Tendenz, die Sprachkunst des Übersetzers Dutli (...) höher zu stellen als das meiste, was uns derzeit als deutsche Literatur erreicht."