Efeu - Die Kulturrundschau

Der Skater nimmt sein Board

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17.08.2020. Die SZ blickt in Chemnitz zur Abwechslung mal auf den Darm von Karl Marx. In der Berliner Zeitung widerspricht René Pollesch der Vorstellung, Theater beruhe auf Nähe und Körperkontakt. In der Berliner Zeitung fragt Lisa Eckhart, ob es eigentlich auch soziale Aneignung gibt. Die NZZ hört in Lucerne den schockierend unkonventionellen Beethoven. Klaus Lemke erzählt in der Jungle World von der Völkerverständigung am Sowjetischen Ehrenmal.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.08.2020 finden Sie hier

Kunst

Der "Wandelgang" der niederländischen Künstlergruppe Observatorium. Bild: Observatorium

Wirklich spannend findet Ulrike Nimz in der SZ die Stadtkunstschau "Gegenwarten" der Kunstsammlung Chemnitz, die erfolgreich am Selbstverständnis des "sächsischen Manchester" arbeite: "Auf einer Wiese unweit der Oper ruht der Darm von Karl Marx. Ein wulstiges Gebilde aus Glasfaserkunststoff, 3 Wochen Fräsarbeit, Maßstab 1:24. Wie der monumentale Bronzekopf, der es zum Wahrzeichen brachte, ohne dass Marx je zu Besuch war, im ehemaligen Karl-Marx-Stadt. Relikte der sozialistischen Vergangenheit in der kapitalistischen Gegenwart - das ist das Thema der tschechischen Künstlerinnen Anetta Mona Chişa und Lucia Tkáčová. Warum, fragen sie, wird immer der Kopf von Menschen dargestellt, wenn doch auch andere Organe Einfluss auf Stimmung, Ideen, Glücklichsein haben? "Der Darm" ist ihr ironischer Kommentar zur oft patriarchalen Heldenverehrung im öffentlichen Raum."


Andy Warhol: Red Race Riot, 1963


In seiner taz-Reihe zur Polizei in der Kunst widmet sich Sebastian Strenger heute Andy Warhols Bild "Race Riot", das in der Werkserie "Death and Desaster" Charles Moores Aufnahme von Polizisten zeigt, die auf Bürgerrechtler einprügeln: "Indem Andy Warhol für den Titel seines Siebdrucks den Begriff 'Riot' (Ausschreitung, Aufstand) wählt, nutzt er einen mit Gewalt assoziierten Begriff zur Beschreibung der Proteste und wiederholt als weißer Künstler eine Bezeichnung, die der gewaltfreien Bürgerrechtsbewegung ein negatives bis illegitimes Image verleiht. Letztlich lag die Gewalt jedoch aufseiten des US-amerikanischen Staates und seiner rassistisch strukturierten Institutionen, und Warhol machte durch Vervielfältigung im Bild das Trauma einer ganzen US-Gesellschaft sichtbar. Und dieses besteht ja nach Freud gerade darin, dass nicht die primäre Erfahrung das eigentliche Problem ist, sondern die Verdrängung, die stattfindet, wenn man mit dem Trauma explizit wieder konfrontiert wird."

Weiteres: Jede Menge Ironien entdeckt FR-Kritiker Hanno Hauenstein in der Ausstellung "Down to Earth", die im Berliner Gropiusbau die Klimabilanz des Kunstbetriebs unter die Lupe nimmt. Besprochen werden Aby Warburgs "Bilderatlas Mnemosyne" in der Berliner Gemäldegalerie (FAZ) sowie Arbeiten von Thomas Demand & Friends in der Berliner Galerie Sprüth Magers (Tsp).
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Bühne

Im Interview mit Ulrich Seidler erklärt der Regisseur und neue Volksbühnenintendant René Pollesch, wie demokratisches Theater funktioniert, warum man Bühnenbildnern nicht erklärt, wie sie ihre Arbeit machen sollen und warum Corono vielleicht den Theaterbetrieb einschränkt, aber nicht die Kreativität: "Wir waren nie so ein Blut- Tränen- Schweißtheater. Wir sitzen eher so auf der Couch, und die muss jetzt eben ein bisschen größer sein... Also wenn ich von Intendant*innen als Kommentar höre, dass man es mit den Corona-Regeln gleich lassen könne, weil Theater auf Nähe und Körperkontakt beruhe, dann muss ich widersprechen. Nein, tut es nicht! Es gibt ja einen Begriff von Theater, mit dem selbst ich ein paar Kleinigkeiten teile, aber das sicher nicht. Irgendwie schwingt da auch die Fantasie mit, dass es hinter der Bühne ebenfalls um Nähe und Körperkontakt geht. Und das teil ich schon gar nicht."

In der Welt trägt Manuel Brug zusammen, Gerüchte zusamen, denen zufolge im Petersburger Mariinski-Theater bereits fünfzig Ensemblemitglieder erkrankt sein sollen. Theresa Luise Gindlstrasser berichtet im Standard vom Theaterfestival Hin & Weg in Litschau. Im Theaterpodcast der Nachtkritik sprechen die Potsdamer Intendantin Bettina Jahnke und dem Regisseur Antú Romero Nunes über die Coronoa-Krise als Brennglas.
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Film

Ein Klaus Lemke füllt verlässlich jedes Sommerloch. Jetzt hat der Münchner Außenseiterregisseur, der im Juni und Juli gerade wieder auf Berlins Straßen gedreht hat, der Jungle World ein knappes, aber markiges Interview gegeben, in dem er unter anderem gesteht, dass er sich am liebsten von seinem Film auffressen lassen würde, und von einer Szene schwärmt, die er eingefangen hat und zwar am "sowjetischen Ehrenmal in Treptow, wo eine ältere russische Dame mit Hilfe eines Dolmetschers einen vielleicht schon 13jährigen Skater bittet, den Höllenkrach bitte zu lassen. Ihr 1945 in Berlin damals 19jähriger Sohn liegt hier unter den Steinen. Der Skater nimmt sein Board. Und geht. Und sagt im Gehen noch, dass sicher auch ihr Sohn viel lieber als im Panzer viel lieber mit Interrail und einem Skateboard nach Berlin gekommen wäre. Als der Dolmetscher das ins Russische übersetzt hat - weint die Dame. Glücklich. Und umarmt den Jungen."

Karl Fluch schreibt im Standard einen Nachruf auf die Schauspielerin Linda Manz, die als junge Frau für Terrence Malick und Dennis Hopper vor der Kamera stand, dann wieder weitgehend in der Versenkung verschwand und nun offenbar in einigermaßen verarmten Verhältnissen starb: "Für Filmfreaks war Manz eine fast mythische Figur. ... Die Generation Punk verliebte sich in Manz als trotzig-renitente Identifikationsfigur - doch die, kaum 20, wandte sich vom Filmbusiness ab. Erst der Underground-Filmer Harmony Korine entriss sie für sein 1997 erschienenes Drama 'Gummo' dem Vergessen." Hier einige Szenen aus Dennis Hoppers Pop-Ballade "Out of the Blue":



Außerdem: Die Filmemacherin Bettina Böhler spricht im Dlf Kultur über ihren Kino-Dokumentarfilm über Christoph Schlingensief. In der SZ empfiehlt Sofia Glasl die drei Filme von Jean-Pierre Melville, die in diesem Monat auf Mubi laufen.

Besprochen werden die HBO-Serie "Lovecraft Country" über den US-Rassismus der 50er (ZeitOnline), Alon Gur Aryes Agentenkomödie "Mossad" (Jungle World) und Kenneth Branaghs auf Disney+ gezeigte Verfilmung von "Artemis Fowl" (SZ).
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Literatur

Sehr ausführlich spricht Ute Cohen in der Berliner Zeitung mit der Kabarettistin und Schriftstellerin Lisa Eckhart unter anderem über Aspekte des Fäkalen im Österreichischen, aber auch darüber, ob sie ihre Privilegienlage auch regelmäßig überprüfe, was sie bejaht und sich entsprechend kleide: "Ich finde es viel verwerflicher, wenn sich betuchte Künstler auf die Bühne stellen in einer seltsamen folkloristischen Proletarisierung mit dem Gestus 'Ich bin einer von euch'. ... Es wird so viel über kulturelle Aneignung in puncto Rassismus gesprochen, weniger aber, was die verfemten Klassen betrifft. Da passiert das aber gut und gerne. Weiße privilegierte Frauen - wie ich nun einmal auch eine bin - stilisieren sich dann im Beisl mit Bier, daneben sitzt der Arbeiter. Also ein alter weißer Mann, auf den sie ohne Unterlass schimpfen, wenn er nicht gerade als Kulisse herhalten muss. Das ist ungehörig."

Weitere Artikel: Die NZZ hat aus ihrer Samstagsausgabe René Scheus Gedanken darüber, ob Adalbert Stifter womöglich "Food Porn" begründet hat, online nachgereicht. In der FAZ erinnert der Literaturwissenschaftler Elmar Schenkel an den 1944 beim Löschen eines in Flammen stehenden Hauses verstorbenen Dichter Hermann Kükelhaus, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre: "Ein religiös-christlicher, aber auch universal-spiritueller Grundzug durchzieht seine Worte und seine Lebensart."

Besprochen werden unter anderem Sally Rooneys "Normale Menschen" (taz), Nell Zinks "Das Hohe Lied" (Standard), Dorothee Elmigers "Aus der Zuckerfabrik" (NZZ), Thilo Krauses "Elbwärts" (FR), Anne Tylers "Der Sinn des Ganzen" (Standard), Jonas Eikas Novellenband "Nach der Sonne" (SZ), Ronya Othmanns Debüt "Die Sommer" (Tagesspiegel) und Max Goldts' "Die Toilette bleibt weiß" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über Ilse Aichingers "Triest":

"Ich sah in den Blätterschatten
den Umriß geharnischter Länder,
..."
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Musik

Geistesgrößen spenden in Krisen Halt und Trost, wodurch "das Beethoven-Jahr unversehens einen existenziellen Beiklang und damit eine innere Notwendigkeit bekommen hat", freut sich Christian Wildhagen in der NZZ zum Auftakt des Lucerne Festivals mit Martha Argerich und Herbert Blomstedt, die einen souveränen Beethoven spielten: Argerich stürze sich "derart leichtfüßig, ja fast übermütig in den Solopart des 1. Klavierkonzerts, dass die Musik sofort zu leuchten und zu schweben beginnt". Auch die Musiker lassen sich "immer souveräner auf das rhapsodisch freie, dabei jedes starre Takt- und Rhythmusschema transzendierende Spiel von Argerich ein. Das Ergebnis ist ein frecher, manchmal grimmig-vorlauter, manchmal, wie im Mittelsatz, himmlisch entrückter Beethoven. Und plötzlich wird wieder greifbar, wie schockierend unkonventionell, ideenreich und fortschrittlich dieses kaum dreißigjährige Genie aus der kurkölnischen Provinz auf seine Zeitgenossen gewirkt haben muss." Eine Aufnahme gibt es bei Arte:


Weiteres: Eckart Hübner, Professor an der Udk Berlin, spricht in der Berliner Zeitung über das Musikstudium unter Coronabedingungen. In der Zeit spricht Frank Heer mit dem Schweizer Popstar Stephan Eicher. Gerrit Bartels hat sich für den Tagesspiegel mit dem Berliner Clubbetreiber Reimund Spitzer getroffen, der seine Branche vor den Trümmern ihrer Existenz sieht und seinen eigenen Club derzeit als behelfsmäßigen Biergarten betreibt. Wolfgang Sandner schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Gitarristen Julian Bream.

Besprochen werden ein von Riccardo Muti dirigiertes Beethoven- und ein von Kent Nagano dirigiertes Mahler-Konzert bei den Salzburger Festspielen (SZ), ein von Daniel Barenboim dirigiertes Konzert im Pierre Boulez Saal (Tagesspiegel), zwei Beethoven-Aufnahmen von Quatuor Ébène und des Kuss Quartetts (Tagesspiegel), ein Buch des Dirigenten Franz Welser-Möst (Standard) und das Debüt von Another Sky (FR).
Archiv: Musik