9punkt - Die Debattenrundschau

Der bleibende Naturgrund

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2015. Die Flüchtlingskatastrophe treibt die Medien weiter um. Der Zeit ist sie - wie es für dieses Institut nun mal typisch ist - ein Pro und Kontra wert. Slate.fr erinnert an die Boat People, die es vor 35 Jahren noch schafften, die Intellektuellen und die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren. In einer Grundsatzrede zur Digitalisierung verschluckt sich Monika Grütters am Internet - bei ihr kommt nur noch Aber Aber Aber raus. In Kanada gibt es noch Widerstand gegen die Verlängerung von Copyright-Schutzfristen. Und die wirklichen Debatten finden sowieso auf Facebook statt, behauptet die Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.04.2015 finden Sie hier

Europa

Kenan Malik kommentiert die Flüchtlingskatastrophe für die New York Times: "Die Europäische Union sollte aufhören, Migranten als Kriminelle zu behandeln. Es muss die Festung Europa schleifen, die Immigrationspoltiik liberalisieren und Migranten legale Wege öffnen. Manche sagen, dass dies zu eine Flut von Migranten führen würde, aber die aktuelle Politik hält die Migranten nicht ab, sie bringt sie nur um."

Die Zeit räumt für die Flüchtlingskatastrophe den gesamten Politik-Teil frei und diskutiert auf 8 Seiten die - durch verschiedenfarbige Überschriften gekennzeichneten - Positionen "alle hereinlassen" und "Grenzen setzen". Gelernt haben am Ende beide Lager etwas: "Wir räumen ein, dass es, irgendwann, einen Moment geben könnte, dass zu schnell zu viele Menschen zu uns kommen... Aber von diesem Moment, davon sind wir überzeugt, sind wir noch Jahre und Millionen Menschen entfernt." Und auch die andere Seite hat etwas kapiert: "Nicht ihr Fundis seid das größte Problem in der Flüchtlingsdebatte. Sondern diejenigen, die bewusst Angst schüren vor den Fremden."

Europa könnte durchaus mehr Flüchtlinge aufnehmen, meint Welt-Redakteur Thomas Schmid in seinem Blog und operiert mit dem problematischen Begriff der "Leitkultur", aber "wer das Sterben auf dem Mittelmeer schnell beenden will, der muss auch sagen, dass er bereit und willens ist, in relativ kurzer Frist ein anderes Europa hinzunehmen. Ein Europa, in dem es die rechtsstaatlich-republikanische Leitkultur schwerer als bisher haben wird, sich zu behaupten. Ein Europa, das viel mehr als heute tun muss, um die Verbindlichkeit dieser Kultur durchzusetzen."

Im Gespräch mit Johan Schloemann in der SZ widerspricht der Politikwissenschaftler Johannes Varwick der Forderung, die EU müsse die Lebensqualität in den Herkunftsländern verbessern: "Ich fürchte, alle technokratischen Ansätze - die Ideen, dass man Regionen von außen stabilisieren oder in ihrer Entwicklung fördern könne - sind mehr oder weniger gescheitert. Das gilt gleichermaßen für den Versuch, mit Blut und Schwert eine gewisse Stabilität oder gar Demokratie zu erzwingen, wie auch für die idealistische Herangehensweise, nämlich durch fairere Handelsbedingungen und die Regulierung des internationalen Wettbewerbs die Lage zu verbessern."

Vor 35 Jahren engagierten sich (in einer historischen Begegnung, die von André Glucksmann herbeigeführt wurde) Jean-Paul Sartre und Raymond Aron für die Boat People. Aber auch Yves Montand oder Michel Foucault setzten sich ein. Heute schweigen die paar übriggebliebenen Intellektuellen, schreibt Henri Tincq in slate.fr "Damals erhob sich der ganze Planet in Empörung gegen das Drama der Boat People. Seit 1975 und dem Fall Saigons hatten Medien über die miserablen Bedingungen für die Flüchtlinge berichtet. Demonstrationen, Spendensammlungen, Willkommensinitiativen, humanitäre Eingriffe: Die Welt mobilisierte sich für die Rettung dieser Menschen, Opfer eines Krieges und unmenschlicher Behandlung, die übers Meer fliehen mussten und vom Ertrinken und Verhungern bedroht waren."
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Kulturpolitik

Eine deprimierende Parade kulturkonservativer Klischees lieferte Kulturstaatsministerin Monika Grütters in einer Grundsatzrede über die Digitalisierung: "Ja, das Internet fördert Partizipation - aber in der Anonymität und im schnellen Klick eben auch die Verantwortungslosigkeit.
Ja, das Internet verbreitet Wissen und Informationen in Echtzeit - aber eben auch Unwahrheiten, Verschwörungstheorien, antidemokratische Stimmungsmache oder rassistische Hetze.
Ja, das Internet macht "Schwarmintelligenz" möglich - aber auch die Macht des Mobs." Aber Aber Aber: Der deutsche Diskurs über das Netz ist apokalyptisch, aber wäre es nicht auch mal Zeit, über die ersten Hälften der deutschen Aber-Sätze nachzudenken? Auch Sascha Lobo muss sich mit seiner "Das Internet ist kaputt"-Aussage als Kronzeuge für den Untergang des Abendlands herbeizitieren lassen.

Nicht zuletzt wegen dieser Haltung ist Deutschland in Sachen Digitalisierung zur Zeit kaum noch wettbewerbsfähig. In einem Gastbeitrag im Tagesspiegel skizziert die Netzpolitikerin Dorothee Belz ihre Vision, wie ein "digitaler Ruck durch Deutschland" gehen und ein "digitales Wirtschaftswunder" herbeiführen könnte: "Dazu gehört neben der Zusammenarbeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auch der Wille, einen ordnungspolitischen Rahmen zu schaffen, der auf kleinteilige Gesetzgebungsverfahren verzichtet, Regulierung mit Augenmaß betreibt und dadurch mehr Freiraum für Innovationen schafft."

Außerdem: Kerstin Krupp bilanziert in der Berliner Zeitung recht kritisch das Wirken des Berliner Kulturstaatssekretärs Tim Renner. Ebendort spricht Monika Grütters in abgewogenen Politikerformeln über die deutsche Theaterlandschaft.
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Urheberrecht

(Via Mediagazer) Auch in Kanada soll das Copyright auf Musikaufnahmen von 50 auf 70 Jahre verlängert werden - trotz aller Gegenargumente, schreibt Michael Geist in seinem Blog und erinnert daran, dass eine derartige Verlängerung der Rechte leider auch in Europa verabschiedet wurde (ohne dass die hiesigen Medien nur einmal muckten): "Die Europäische Union hat die Verlängerung im Jahr 2011 verabschiedet, aber es gab starken Widerstand von Mitgliedsstaaten. Acht Länder - Belgien, Tschechien, Niederlande, Rumänien, Slowakei, Slowenien und Schweden - stimmten dagegen, während sich Österreich und Estland enthielten. Schweden argumentierte, dass die Verlängerung "weder fair noch ausgewogen sei", während Belgien argumentierte, dass sie vor allem der Musikindustrie nützte und den Zugang zu kulturellen Gütern in Bibliotheken und Archiven erschwerte."

Nach dem Guardian (unser Resümee) berichtet nun auch die SZ über den Münchner Prozess von Cordula Schacht, die den Random House-Verlag auf Tantiemen für Zitate von Joseph Goebbels verklagt, wie Willi Winkler berichtet: "Random House will den Vergleich mit Cordula Schacht nicht einhalten, weil es "sittenwidrig" sei, mit den Äußerungen eines Kriegsverbrechers Geld zu verdienen. Die Verlage Hoffmann und Campe, Piper, und Droste haben gezahlt, über die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte auch die Bundesrepublik und der Freistaat Bayern. Nun will sich Random House als erster weigern... In München dürfte nun in weiteres Mal bestätigt werden, dass mit dem Kriegsverbrecher Goebbels Geld verdient werden darf. So will es das Gesetz, und das ist der Rechtsstaat." Nun ja, zum Glück ist Goebbels tot, und das bald 70 Jahre.
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Überwachung

Der Betreiber des weltgrößten Internetknotenpunktes DE-CIX will vor dem Bundesverwaltungsgericht gegen das massenhafte und anlasslose Ausspähen von Internetnutzern durch den BND klagen, meldet Zeit Digital: "DE-CIX wirft der Bundesregierung und dem BND vor, sich bei der gesetzlichen Grundlage für angeordnete und ausgeführte Überwachungsmaßnahmen auf ein nicht mehr zeitgemäßes Gesetz zu berufen. Das G-10-Gesetz sei für das digitale Zeitalter nicht präzise genug. Zudem will die Firma prüfen lassen, ob die bisherige BND-Praxis, Ausländer ohne jede Einschränkung abzuhören, mit deutschen Gesetzen vereinbar ist."

Mitch McConnell, Mehrheitsführer im amerikanischen Senat, will durch ein Gesetzesprojekt, das er einbringt, den "Patriot Act", der die Überwachungsmaßnahmen der NSA nach dem 11. September rechtfertigte und im Juni ausläuft, bis ins Jahr 2020 verlängern, berichtet Billy Steele in Engagdet.
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Stichwörter: De-Cix, Geheimdienstaffäre, NSA, BND

Geschichte

Das Ullstein-Blog Resonanzboden bringt einen Auszug aus den Memoiren des Franzosen armenischer Herkunft Charles Aznavour: "Die junge türkische Generation, die keine Verantwortung für die Vergangenheit trägt, aber ein wichtiger Garant für die Zukunft ist, hat ein Recht darauf, Bescheid zu wissen und sich frei zu machen von einem Fehler, den sie nicht begangen hat."

Michael Hanfeld wundert sich in der FAZ, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten trotz des Gedenktags am Freitag so wenig zum Völkermord an den Armeniern bringen: "Es ist bedauerlich, fast schon sträflich, dass die bedeutenderen Gesprächssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens es in den vergangenen Tagen versäumt haben, sich mit diesem Jahrhundertthema zu befassen."Immerhin kann man den Videorekorder programmieren, denn heute nacht wiedeholt die ARD Eric Friedlers große Dokumentation "Aghet" aus dem Jahr 2010.

Außerdem: Sven Felix Kellerhoff unterhält sich in der Welt mit dem Historiker Ernst Piper über die jetzt veröffentlichten Tagebücher des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg.
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Medien

Der angolanische Schriftsteller und Journalist Rafael Marques steht in Luanda wegen Verleumdung vor Gericht, weil er in seinem Buch "Blood Diamonds: Corruption and Torture in Angola" die Beteiligung hoher Generäle und der teilstaatlichen angolanischen Diamantenfirma SMC an Mord, Folter und Enteignung belegt hat, berichtet François Misser in der taz: "Aber der Prozess könnte für die Generäle zum Bumerang werden. Statt Marques zum Schweigen zu bringen, werden seine Vorwürfe jetzt erst recht bekannt. Zum ursprünglichen Prozessbeginn am 24. März, als die Eröffnung auf den 23. April verschoben wurde, ist sein Buch auf Portugiesisch ins Netz gestellt worden."
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Internet

Weil Printmedien dazu neigen, für ihre Meinungen eine letztverbindliche Deutungshoheit zu beanspruchen, finden die wirklich lebhaften Debatten längst bei Facebook statt, schreibt Ijoma Mangold in der Zeit: "So wie man früher eine Zeitung abonniert hat, ist man jetzt auf bestimmte Facebook-Hosts abonniert, weil unter ihrem Dach der Diskurs irritationsoffen und beweglich bleibt. Da hat jeder seine Vorlieben, aber gute Hosts sind schnell netzbekannt. Sie nutzen Facebook nicht einfach nur als Distributionsmedium, sondern als Ort der Selbstreflexion und Selbstirritation. Sie speisen Artikel ihrer Zeitungen ein und öffnen sie dann geschickt der Vertiefung und Ausdifferenzierung."
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Ideen

In der Zeit schreibt Thomas Assheuer einen Nachruf auf den Philosophen Michael Theunissen, der am vergangenen Samstag im Alter von 82 Jahren gestorben ist. Theunissen bezog "bis zuletzt seine philosophische Energie aus der Spannung von Metaphysik und Zeitdiagnose und nahm damit das aktuelle Gefühl der Weltverdüsterung vorweg - die Furcht vor einer globalen Anarchie, die die Gattung mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert und ein anderes Handeln erzwingt. "Die Nacht ist der bleibende Naturgrund faktischer Geschichte.""
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Gesellschaft

Im Bundestag wird diskutiert, Beihilfe zum Suizid unter Strafe zu stellen. Der BGH-Richter Thomas Fischer lehnt im Gespräch mit Heike Haarhoff (taz) eine Verschärfung ab: "Sterbehilfe würde noch stärker als bisher in eine Tabuzone gedrängt. Die Angst vor eigener Bestrafung würde steigen. Aber dass deswegen tatsächlich die Anzahl der Sterbehilfefälle zurückgehen würde, wage ich zu bezweifeln. Sie würden nur nicht öffentlich... 80 Prozent der Menschen im Land sind laut Umfragen für eine völlige Freigabe der Selbsttötung und der Sterbehilfe. Die Politik aber schaut auf die angeblich dumme Bevölkerung und meint, diese vor sich selbst schützen zu müssen. Das ist unhaltbar."

Digitaler Wandel: Könnte es sein, dass auch die deutsche Autoindustrie einen fundamentalen Bruch verschläft, nämlich den 3-D-Drucker?, fragt Don Dahlmann bei den Mobilegeeks: "Wenn man davon ausgeht, dass der 3D-Druck im Laserschmelzverfahren für Metall und Verbundstoffe schon jetzt so weit ist, dass man komplette Autos und teilweise Motoren damit herstellen kann, erkennt man, dass große Fertigungen damit überflüssig werden. Und damit auch alle Arbeitsplätze, die damit zusammenhängen, auch und vor allem in der Zulieferindustrie."
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