Efeu - Die Kulturrundschau

Wo sich die Wörter frei sonnen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2019. Zuviel Sex moniert die SZ in Tom Hoopers Filmadaption von "Cats". Design matters, bescheidet die Welt einem Dresdner Busfahrer, der sein Deutschsein in Old English ausdrückte. Hyperallergic betrachtet immaterielle Kunst aus China. Im Interview mit der FR erklärt Whitney Scharer, warum sie einen Roman über die Fotografin Lee Miller geschrieben hat. Zeit online vermisst den Humor im neuen Album von Samy Deluxe. Ungarns neues Kulturgesetz ist eine Kriegserklärung an die kritische Kunst, warnt der Freitag.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.12.2019 finden Sie hier

Film

Der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind: "Cats" grüßt aus dem digitalen Uncanny Valley.

Was sich mit dem Entsetzen im Netz über den ersten Trailer angekündigt hat, bestätigt nun Susan Vahabzadeh in der SZ: Tom Hoopers Adaption des Musicals "Cats" ist eine verstörende Kino-Karambolage, die einen ganzen Blumenstrauß an namhaften Schauspielern in bizarre Digital-Kostüme steckt, etwa im Fall der Primaballerina Francesca Hayward in der Rolle der Victoria: "Das Fell hat eine merkwürdige Textur, die irgendwie an Schlange erinnert, dazu die Beine einer Tänzerin, der Oberkörper einer Katze, obendrauf ein Katzenkopf mit Menschengesicht. Frankensteins digitales Monster." Und "sind die Viecher eigentlich alle rollig, oder warum bewegen sie sich, als würden sie sich im Stripclub an der Stange rekeln? Für den Massengeschmack in Sachen Erotik sind Katzenmutanten bei der Kopulationsanbahnung vielleicht ein wenig zu speziell."

Mit dem Ende des Monats schließenden CineStar-Kino verliert die Berlinale einen wichtigen Ankerpunkt: Zusätzliche Spielstätten wurden zwar am Alexanderplatz, in der Akademie der Künste und am Zoologischen Garten gefunden, berichtet Bert Schulz in der taz, doch "wird das Zentrum der Berlinale am Potsdamer Platz durch die Verschiebungen weiter an Bedeutung verlieren."

Besprochen werden Fernando Meirelles' "Die zwei Päpste" (ZeitOnline), die deutsch-chilenische TV-Serie "Dignity" über die Colonia Dignidad (ZeitOnline), Tyler Nilsons und Michael Schwartz' Komödie "The Peanut Butter Falcon" (Standard) und die Netflix-Serie "The Witcher" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Viel zu verkniffen findet Daniel Gerhardt auf ZeitOnline das neue Samy-Deluxe-Album, dessen Titel "Hochkultur" programmatisch zu verstehen ist: Es geht darum, die Standards im Deutsch-Rap zu verteidigen. Das ist einigermaßen humorbefreit: "Niemand muss gut finden, dass Teile der jüngeren Konkurrenz einen Binnenreim nicht mehr von einem Mittelreim unterscheiden können. Wenn Samy Deluxe aber resümiert, dass 'die hohe Sprachkunst unterm Radar' fliege, ist das ein Tonfall, den selbst das NZZ-Feuilleton schon seit der zweiten Haftbefehl-Platte nicht mehr anschlägt." Das Album steht auf Youtube-Music:



Stormzys Debütalbum "Gang Signs & Prayer" fand taz-Kritiker Christian Werthschulte noch fulminant. Das neue Album "Heavy is the Head" des britischen Rappers fällt demgegenüber aber einigermaßen ab: Es "leidet unter dem Problem jeder Monarchie: Dem König lässt man zu viel Stuss durchgehen."

Außerdem: Für die taz porträtiert Jan Paersch den von der Côte d'Ivoire stammenden, später in Lübeck aufgewachsenen Afrobeat- und House-Produzenten Mr Raoul K, der gerade sein Album "African Paradigm" veröffentlicht hat (dazu hier bereits mehr). Für The Quietus wirft Charlie Brigden einen Blick zurück auf die besten Film-Soundtracks des Jahres. Pitchfork verkündet die besten Musikbücher des Jahres und obendrauf noch die 20 besten Musikvideos des Jahres. Auf der Nummer 1 ist einmal mehr "Cellophane" von FKA Twigs, das wir (etwa hier) im Efeu schon mehrfach eingebunden haben, darum werfen wir einen Blick in die zweite Position: "Motivation" von Normani.



Besprochen werden ein von Gianandrea Noseda dirigiertes Konzert des Tonhalle-Orchesters, das NZZ-Kritiker Christoph Ruckstuhl in Vorfreude die Tage zählen lässt, bis Noseda 2021 seinen Dienst als Generalmusikdirektor der Oper Zürich antritt, ein Trettmann-Konzert (Tagesspiegel) und Saigon Soul Revivals Album "Họa Âm Xưa" (taz).
Archiv: Musik

Bühne

In Ungarn gilt seit gut einer Woche ein neues Kulturgesetz, das endgültig das Ende der freien Theaterszene und kritischen Theaters in Ungarn bedeuten könnte, berichtet Agnes Szabo im Freitag. "Zwar soll die Ernennung der Intendanten zum Glück nicht direkt vom Kulturminister erfolgen, der in Ungarn aktuell ein Onkologe ist, weil Kultur und Gesundheitswesen zum selben Ministerium gehören. Aber die Theater werden, was ihre Finanzierung angeht, nun vor die Wahl gestellt. Falls sie außer der Förderung der Kommunen auch staatliche Fördergelder beziehen möchten, will die Regierung Regeln aufstellen - zum Beispiel für die Wahl der Intendanten und die Richtlinien der Stückauswahl. Das Gesetz funktioniert also als offene Kriegserklärung an die oppositionelle Hauptstadt und die oppositionellen Komitatssitze."

Besprochen werden Yana Ross' Inszenierung von Anton Tschechows "Kirschgarten" in Zürich (SZ), Sophie Aurichs Inszenierung von John von Düffels Bearbeitung des "Orest" am Konzert Theater Bern (nachtkritik), Giacomo Puccinis "La Bohème" am Theater Basel (nachtkritik), Anne Teresa De Keersmaeker und Salva Sanchis Choreografie zu John Coltranes "A Love Supreme" im Berliner HAU (Tsp), Emanuel Gats Choreografie für "Sunny" an der Volksbühne (Tsp) und Anna Nowickas Choreografie "Eye Sea" am HAU 3 in Berlin (taz).
Archiv: Bühne

Design

Dass ein Dresdner Busfahrer seine Kundschaft mit einem Papieraushang an seinem Gefährt ungefragt davon in Kenntnis setzt, deutscher Staatsangehörigkeit zu sein, ist an sich schon ziemlich dümmlich. Dass er für den Schrieb auf die vermeintlich besonders teutonische Schriftart "Old English" zurückgegriffen hat, weist ihn aber endgültig als Tölpel aus, amüsiert sich Matthias Heine in der Welt. "Die Typografie wäre für einen nationalstolzen englischen Fahrer angemessen. Bei einem Deutschen ist er einfach nur ein Fehlgriff. Die Old English ist in Deutschland nie in Gebrauch gewesen, bevor in den vergangenen Jahrzehnten Skinheads, Metal-Fans und Gefängnisinsassen sie für ihre Tätowierungen und Plattencover lieb gewannen."
Archiv: Design

Literatur

Richard Herzinger blickt in einer Perlentaucher-Invention nochmal auf die Debatte um Peter Handke zurück und beschreibt die schillernd-fatale Zwiespältigkeit der Dichter-Interventionen: "In seiner verbissenen Attitüde, mit der er sich zum unverstandenen, weltentrückten Hüter authentischer Kulturwerte erklärt, um sich der moralischen Verantwortung für die Wirkung seiner politischen Einlassungen zu entziehen, wirkt Handke wie ein Fossil aus einer verflossenen Zeit. Doch mit seiner verbohrten Weigerung, Tatsachen anzuerkennen und die eigenen Entstellungen der historischen Wirklichkeit einer selbstkritischen Prüfung zu unterziehen, ist er auf makabre Weise auch ein Pionier."

In ihrer Tagtigall-Kolumne im Perlentaucher gratuliert Marie Luise Knott Friederike Mayröcker zum 95. Geburtstag: "Wie keine versteht es diese Dichterin, das Leben in Wörter zu verwandeln, Kiesel gen Jenseits auszuwerfen und uns in der Sprache Fährten zu legen, die nicht zu neuen Welten führen, wohl aber in "clairières", in Lichtungen, wo sich die Wörter frei sonnen können."

In der FR spricht Whitney Scharer darüber, warum sie mit "Die Zeit des Lichts" einen Roman über die Fotografin Lee Miller geschrieben hat. Unter anderem geht es in dem Buch über Millers Verhältnis zu Man Ray: "Am Anfang ist er der Mächtige. Er ist älter, ein erfolgreicher Künstler, er ist ein Mann, und es ist sein Studio, in dem sie arbeitet. Aber seine romantische Besessenheit gibt ihr schließlich auch Macht über ihn. ... Emanzipation ist tatsächlich der perfekte Begriff für das, was passiert. Lee hat ganz auf Man Ray gesetzt, und er hat tatsächlich viel für sie getan und ihr das beigebracht, was sie brauchte, um eine eigene Karriere zu beginnen. Aber sie musste sich dann aus dieser Beziehung befreien, um sie selbst zu werden, ihre eigene Identität zu finden."

Weiteres: Die SZ hat sich im Kulturbetrieb nach Lesetipps umgehört: Unter anderem empfiehlt Saša Stanišić Matt Ruffs "Lovecraft Country" und Terézia Mora legt uns Lauren Groffs Erzählband "Florida" ans Herz. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho greift zu Clarice Lispectors "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" für den Gabentisch und Maxim Biller empfiehlt Arthur Koestlers "Sonnenfinsternis" als Antidot gegen Handke, Botho Strauß, diverse Heideggereien im Geistesleben und eine Arte-Doku über Ernst Jünger. Außerdem kürt die Tagesspiegel-Jury die besten Comics des Jahres. Ganz oben: Vincent Perriots an Moebius angelehnte Science-Fiction-Geschichte "Negalyod".

Besprochen werden Ken Krimsteins Comicbiografie "Die drei Leben der Hannah Arendt" (FR), Charles Racines Gedichtband "Lichtbruch" (NZZ), Stig Sæterbakkens "Durch die Nacht" (Tagesspiegel) und Shobha Raos "Mädchen brennen heller" (taz).

Mehr dazu ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele weitere finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Bücherladen Eichendorff21.
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Kunst

Installation photograph, featuring Song Dong's "Traceless Stele" (2016) and "Water Records" (2010), in "The Allure of Matter: Material Art from China", LACMA (© Song Dong, photo © Museum Associates/ LACMA)


Warum spricht die Ausstellung "The Allure of Matter: Material Art from China" im Los Angeles County Museum of Art im Titel von "Material Art", fragt sich in Hyperallergic Vanessa Hollyoak. Material Art wird hier als Abgrenzung zur westlichen Konzeptkunst benutzt, aber dieser Sinn erschließt sich Hollyoak nicht. Denn das Material ist es gerade nicht, was für sie die Kunst in China seit den Achtzigern auszeichnet, sondern das Immaterielle, die Auflösung des Materials, wie beispielsweise Song Dongs "Traceess Stele" von 2016, bei dem kalligrafische Zeichen mit Wasser auf Stein geschrieben werden. "Die gemalten Formen und Phrasen verblassen schnell und hinterlassen keine Spuren des materiellen Ausdrucks. Der Wandtext stellt fest, dass 'als diese Arbeit in China gezeigt wurde, wurden die Besucher dazu ermutigt, frei zu schreiben, da ihre Worte sofort verschwinden würden'. In ähnlicher Weise schreibt Hung in seinem Katalog-Essay, dass 'in der experimentellen chinesischen Kunst häufig Wasserzeichen zu finden sind, um zwischen Repräsentation und Verschwinden zu verhandeln'. Diese Aussagen stellen den gesellschaftspolitischen Kontext der begrenzten Freiheiten Chinas in den Vordergrund und zeigen die Dringlichkeit, mit der sich die chinesische Gegenwartserfahrung für die Erforschung des Immateriellen anbietet."

In der Kunst dominiert derzeit das Kollektiv. Das passt "zu einer postheroischen Erzählung, in der jeder das zu einem Projekt beiträgt, was er oder sie kann und im Idealfall das beste aus vielen Welten zusammenkommt", erklärt Saskia Trebing in Monopol. Aber ändert es wirklich etwas an der kapitalistischen Logik des Kunstmarktes? "Solange der Kunstbetrieb als eine Abfolge von Einzelereignissen wahrgenommen wird, die alle vom symbolischen Kapital der Bekanntheit leben - Einzelausstellung! Preis! Biennale! Auktionsrekord! - werden auch Kollektive im Kampf um Sichtbarkeit mitkämpfen. Sichtbarkeit in der Kunst bedeutet Macht, egal auf wie viele Schultern sie verteilt ist. Und eine Möglichkeit, sie zu nutzen, ist, andere ebenfalls sichtbar zu machen, die dieses Privileg nicht besitzen."

Besprochen werden die Ausstellung "Der montierte Mensch" im Essener Museum Folkwang (monopol), eine Ausstellung mit Werken des Malers Marsden Hartley im dänischen Louisiana Museum (Tsp), die Ausstellung "Artists & Agents. Performancekunst und Geheimdienste" im HMKV Dortmund (freitag), die Ausstellung "Liechtenstein - von der Zukunft der Vergangenheit im Kunstmuseum Liechtenstein (NZZ), die Turner-Ausstellung "Horror and Delight" im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster (FAZ) und eine Ausstellung zur Beziehung der Malerin Marie-Louise von Motesiczky zu den Canettis in der Archive Gallery Tate Britain in London (FAZ).
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