Bücherbrief

Der Newsletter zu den interessantesten Büchern des Monats.
25.11.2004. Welche Bücher wurden am lautesten gefeiert oder am heftigsten verrissen? Wir sichten und sieben. Ausgabe November 2004.
Dies ist der zweite Perlentaucher-Bücherbrief der Saison. Mit Naturlyrik. Mit Torschusspanik. Mit dem zweitbesten Schmöker. Und einem blauen Hund.

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Schmöker


1.020 Seiten. Das reicht für unendliche Winterabende. In seiner
Eigenschaft als Schmöker dürfte Susanna Clarkes "Jonathan Strange und Mr. Norrell" () in dieser Saison allenfalls von Neal Stephensons "Quicksilver" () geschlagen werden - aber "Quicksilver" wurde in unserer langsam lesenden Presse noch nicht besprochen. Wir trösten uns also inzwischen mit dem alten Zauberer Mr. Norell und seinem Schüler Jonathan Strange im England Janes Austens und Charles Dickens'. Katrin Schultze zeigte sich in der "SZ" begeistert von dem Roman. Sie fühlt sich so richtig wohl mit den alten Taschenspielertricks romantischer Erzählkunst, als da sind: "sich authentisch gebende Fußnoten und Quellenangaben, mehrfache Perspektivwechsel und vermeintlich allwissende Kommentareinschübe". Susanna May stimmt ihr in der "Zeit" bei: Sie zeigt sich auch von dem "subtilen, bisweilen etwas schwarzen Humor" Clarkes sehr eingenommen und freut sich insbesondere an der sich "wie ein Pfad von Tretminen" durch den Roman ziehenden Ironie.



Naturlyrik

Der Titel "Grund zu Schafen" () klingt kalauerhaft und wird auch von Harald Hartung (selbst Lyriker) in der "FAZ" als etwas verquer kritisiert. Aber sonst, was soll man sagen: "stupend". Hartung bewundert die schiere Virtuosität von Poschmanns Gedichten, auch wenn manches Stück dunkel bleibe und möglicherweise absichtlich im Dunkeln gelassen werde. Besonders die Naturlyrik Poschmanns hat es den Rezensenten angetan, so auch Michael Braun, der Poschmann in der "NZZ" als Entdeckung feiert. Braun hebt Poschmanns Sinn für zyklische Stukturen hervor. Ihm scheint auch das Titelgedicht zu gefallen. Das Schaf verwandle sich hier - als Element der traditionellen Hirtenlyrik - in ein vielgestaltiges Wesen, das selbst industrielle Bearbeitungen vertragen könne. Als eine der wichtigsten lyrischen Neuerscheinungen der letzten Monate wurde auch ein Band mit den gesammelten Gedichten von Friederike Mayröcker ()
gefeiert.


Der Dativ sein Genitiv


Sprachkritik a la Karl Kraus kann ja ein qua Besserwisserei und Protzen mit höherer Sensibilität recht enervierendes Genre sein. Bastian Sick scheint der Besserwisser-Falle zu entgehen, indem er den Leser ermuntert, seinem Sprachgefühl zu folgen, es aber auch in Frage zu stellen, schreibt Hannes Hintermeier in der "FAZ" zu Sicks "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" (). Der kleine Band beruht auf der "Zwiebelfisch"-Kolumne des Autors in Spiegel-Online und ist vielleicht das erste Buch in Deutschland, das durch das Internet zum Bestseller wurde. Für alle, die unter Torschusspanik leiden.


Islam


Juan Goytisolos "Gläserne Grenzen" () ist unter den politischen Büchern der Saison eines der aktuellsten, auch wenn einige der Essays schon einige Jahre alt sind. Walter Haubrich, der ehemalige Spanien-Korrespondent der "FAZ", hat das Buch sehr eingehend und wohlwollend besprochen. Er schildert Goytisolo, der in Spanien als einer der bedeutendsten Autoren seiner Generation gilt, als einen der besten Islam-Kenner unter westlichen Literaten: Er spricht arabisch, lebt zum großen Teil in Marokko und hat die ganze arabische Welt bereist, schreibt Haubrich. In seinen Essays kritisiert er auch nach dem 11. September vor allem die USA, deren hegemoniales Auftreten mit einer großen Ignoranz der arabischen Welt einhergehe. Glücklicherweise spart Gyotisolo aber auch sonst nicht mit Kritik: "Nirgendwo nimmt Juan Goytisolo ein Blatt vor den Mund, ob er nun über die politische Nutzlosigkeit Arafats, die Unfreiheit und die Repression im heutigen Tunesien oder die Verachtung der sephardischen Kultur durch die anderen, europäisch-askenasischen Juden schreibt." Hoch rechnet Haubrich Goytisolo an, dass er falsche Einschätzungen älterer Essays für ihre Neuausgabe nicht nachträglich beschönigt hat.


Kamasutra


Die Bildtafeln sind wunderschön, meint Caroline Neubaur in ihrer begeisterten "SZ"-Besprechung dieser wissenschaftlich fundierten Neuübersetzung. Und die Bildtafeln zeigen die berühmten, sportlich anspruchsvollen Stellungen beim Geschlechtsverkehr, auf die das Kamasutra in der europäische Rezeption so oft reduziert wurde, wie die zahlreichen Rezensenten des Bandes einhellig vermerken. Aber in Wirklichkeit will das Kamasutra viel mehr sein als nur ein Sexratgeber, und hier bietet diese Neuübersetzung () nun erstmals Einblick, mit sensiblen psychoanalytischen Anmerkungen und Apparat. Eine gewisse Langeweile und "Begrenztheit des Nutzwerts" mochten die Rezensenten dabei manchmal nicht verhehlen. "Askese und Erotik sind einander verblüffend verwandt", schreibt etwa die Rezensentin Elisabeth von Thadden in der "Zeit". Claudia Wenner lobt in der "NZZ" aber die "glänzend geschriebene" und "höchst interessante" Einführung des kulturgeschichtlich so bedeutenden Bandes.


Kunst und Karten


Atlanten sind up to date. Auf große Begeisterung stieß vor Monaten der bei Ammann veröffentliche Philosophie-Atlas von Elmar Holenstein (). Und Ute Schneiders viel besprochene Arbeit "Die Macht der Karten" () erzählt, wie im Lauf der Jahrhunderte mit Karten Politik gemacht wurde. Nun bringt Dumont einen "Weltatlas der Kunst" (). Er antwortet laut Klappentext etwa auf folgende Fragen: "Welche religiösen Bewegungen bestimmten die Kunst? Welche klimatischen Bedingungen, welche Bevölkerungsentwicklungen machten Besiedlungen und erste Kunstformen möglich? Welche politischen Auseinandersetzungen förderten oder begrenzten den Austausch der Künstler? Wo führten wirtschaftliche Erfolge zur Bildung großer Handelsplätze und mäzenatischen Initiativen? Welches Baumaterial fanden die Architekten für ihre großen Projekte?" In der "Zeit" hat der Kunsthistoriker Horst Bredekamp den Band sehr wohlwollend besprochen. Zwar bemängelt er, dass sich das Italien des 16. Jahrhunderts mit einer Doppelseite begnügen muss - dafür hat er eine Menge über außereuropäische Kunst erfahren. Unter der Hand entstehe "eine integrierte Kultur- und Technikgeschichte des Homo sapiens". Ein weiterer Kunstband ist uns in den letzten Wochen aufgefallen: Stefan und Nora Koldehoffs "Aktenzeichen Kunst - Die spektakulärsten Kunstdiebstähle der Welt" (). Die Autoren erzählen darin nicht nur Geschichten, sondern schildern auch die finstere Ökonomie neuerer Kunstdiebstähle, in der es meist um Erpressung von Lösegeldern geht, schreibt die "taz" in einer empfehlenden Kritik.


Bilderbuch


Das Bilderbuch um den blauen Hund, der die kleine Charlotte nachts am Fenster besucht und sie vor bösen Geistern beschützt, zählt laut Gundel Mattenklott "ohne Zweifel" zu den schönsten des 20. Jahrhunderts. Der Verlag hat es nach zeh n jahren neu aufgelegt. "Blauer Hund" () von Nadja lebt von "leuchtenden Farbkontrasten, wilden und sanften Klängen" und "unaufdringlichen Zitaten aus der Malerei der Moderne", versichert die begeisterte Kritikerin, die in einem Bilderbuch selten so treffende und unverzerrte Menschendarstellungen gefunden hat.