Heute in den Feuilletons

Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2013. Die taz findet, dass die Aufnahme Michail Chodorkowskis in Deutschland ein Vorbild für die Aufnahme Edward Snowdens sein sollte. Die NZZ teil Georg Büchners weihnachtliche Empfindungen. Die stets aufs Hippe scharfe SZ spürt den Puls der Zeit ausgerechnet in Berlin: in Form des kapitalismuskritischen Akzelerationismus. Außerdem: eine recht rockige Interpretation von Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 2.

TAZ, 23.12.2013

Richtig toll findet Bettina Gaus, wie problemlos der freigelassene Michail Chodorkowski in Deutschland aufgenommen wurde. Für sie zeigt das nämlich eines: "Dass alle Behauptungen, Edward Snowden könne aus rechtlichen Gründen keine Aufnahme in Deutschland finden, Unfug waren. Juristen sagen das schon länger, aber deren Hinweise werden gern überhört. Nun ist klar: Wenn der politische Wille dazu besteht, dann gibt es niemanden, der oder die nicht hierher kommen darf. Im Falle des russischen Regimekritikers gibt es diesen Willen, im Falle des ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiters nicht. So einfach ist das."

Außerdem gibt die Kulturredaktion Geschenktipps für die letzte Minute. Besprochen wird David Abulafias Biografie "Das Mittelmeer" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und noch Tom.

Weitere Medien, 23.12.2013

Auch Pussy-Riot-Musikerin Maria Aljochina ist freigelassen worden, meldet Spon. Nadeschda Tolokonnikowa könnte heute folgen: "Das Vorgehen der Justiz gegen die Aktivistinnen hatte weltweit Kritik ausgelöst. Auch der Oberste Gerichtshof des Landes rügte vergangene Woche das Urteil, das schwere Fehler aufweise. Aljochina verbüßte ihre zweijährige Lagerhaft wegen Rowdytums in Nischni Nowgorod, 450 Kilometer östlich von Moskau. Tolokonnikowa sitzt die zwei Jahre in Sibirien ab."

Aus den Blogs, 23.12.2013

Texte über die französische Malaise werden allmählich zu einem Genre für sich, stellt Slate.fr etwas pikiert beim Lesen des neuen Economist pikiert fest, der selbst die Leute in Uganda und Usbekistan besser gelaunt findet und Frankreichs Literaten die Schuld am Bleak Chic gibt:"Alles muss rein: Der methodische Zweifel bei Descartes, Voltaires Spott gegen den Optimismus, Chateaubriand und das 'Übel des Jahrhunderts', die Melancholie gemäß Hugo als 'das Glück, traurig zu sein', der ennui bei Camus und Sartre, das Absurde bei Camus oder Sartre, der Anfang von Sagans Bonjour Tristesse ('Ich zögere, diesem fremden Gefühl, dessen sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben: Traurigkeit.') bis zu Houellebecqs Miserabilismus. " Außerdem könnte natürlich die reale Lage im Land schuld sein.

The Big Picture präsentiert die Gewinner aus dem Foto-Wettbewerb von National Geographic und ein deprimiertes Nashorn.

Welt, 23.12.2013

Zum "König Lear" am Burgtheater mit Klaus-Maria Brandauer, inszeniert von Peter Stein schreibt Matthias Heine: "Das ist schön, aber man hat an gleicher Stelle doch vor nicht allzu langer Zeit einen Lear mit mehr Dimensionen gesehen. Gert Voss gab den König 2007 in einer Inszenierung Luc Bondys."

Weitere Artikel: Ernst Elitz schreibt über Henri Nannen, dessen Nazi-Vergangenheit zum hundertsten Geburtstag des Magazin-Gründers wieder thematisiert wurde. Jörn Lauterbach empfiehlt die Helmut-Schmidt-Parade, die das Erste heute zum hundertsten Geburtstag Willy Brandts abhält. In einem Kommentar im Forum schreibt Ansgar Graw weiter an der programmatischen Verharmlosung der Geheimdienstschnüffeleien und wünscht sich, dass der Unmut über sie schwindet angesichts der gemeinsamen Herausforderungen, vor denen der Westen stehe.

Besprochen wird eine Ausstellung mit privaten Fotos von Friedrich Wilhelm Murnau im Schwulen Museum Berlin.

NZZ, 23.12.2013

Moderne Weihnachtserfahrung entdeckt Ralf Beil bei Georg Büchner und zitiert aus dessen Brief an die Familie aus Straßburg von 1836: "Ich komme vom Christkindelsmarkt, überall Haufen zerlumpter, frierender Kinder, die mit aufgerissenen Augen und traurigen Gesichtern vor den Herrlichkeiten aus Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier standen. Der Gedanke, dass für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter."

Weiteres: Der Schriftsteller Dieter Bachmann erinnnert sich an seine Freundschaft mit Hermann Burger in den achtziger Jahren. Etwas "blass" findet Martin Lhotzky Peter Steins Inszenierung des "König Lear" am Burgtheater Wien.

FAZ, 23.12.2013

Trotz des ans Burgtheater zurückkehrenden Klaus-Maria Brandauer konnte King Lear in Peter Steins Inszenierung den gestrengen Gerhard Stadelmaier nicht überzeugen: "Man sieht keine Welt untergehen. Man erlebt - zum Teil höchst dekorative - Schmuckstücke .. einer Untergangsbehauptungsmalerei."

Weitere Artikel: Edo Reents beschwert sich ganz allgemein über den Lärm von Rollkoffern. Tilman Spreckelsen würdigt Wilhelm Hauffs "Zwerg Nase" als perfektes Weihnachtsmärchen. Frank Lübberding nimmt die heutige Helmut-Schmidt-Parade in der ARD ab (die Rolle der Sandra Maischberger übernimmt diesmal Giovanni Di Lorenzo).

Und Dirk Schümer unterhält sich mit dem Blockflötisten Maurice Steger über dessen Kunst. Hier Steger mit den Barocchisti bei einer temperamentvollen Interpretation von Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 2.



Besprochen werden Molières "Tartuffe" in der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter Jutta Persons hübscher Band über Esel (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Reinhard Veser fühlt sich in einem Leitartikel auf Seite 1 durch die Hinterzimmerpolitik Hans-Dietrich Genschers und die Haftentlassung Michail Chodorkowskis (und jetzt auch der Pussy-Riot-Sängerin Maria Aljochina, mehr auf Spon) an die grauen Zeiten des Kalten Kriegs erinnert. "Damit wurden menschliche Schicksale erleichtert, aber es handelte sich nicht um humanitäre Gesten der sowjetischen Machthaber, sondern um politische Geschäfte. Über Gegenleistungen wurde nur in Ausnahmefällen etwas bekannt. Dissidenten wurden weiter verfolgt. Hans-Dietrich Genscher ist ein Veteran dieser Epoche."

SZ, 23.12.2013

Unter der Bezeichnung "Akzelerationismus" will eine sich gerade in Berlin formierende Bewegung den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln - "Beschleunigung, Innovation und Dezentralisierung" - schlagen und dabei vor allem Lehren aus dem schnellen Scheitern von Occupy und deren kuschliger Revolutionsromantik ziehen, berichtet Felix Stephan: "Die neuen Antikapitalisten wollen das Potenzial der menschlichen Vorstellungskraft entzünden, das von der demokratisch-marktliberalen Elite beschnitten werde: Der Neoliberalismus bediene sich zwar des Vokabulars der Beschleunigung, lenke sie allerdings stets in nur eine Richtung. Echte Optionen gebe es nicht, ein humanistischer Fortschritt sei höchstens als Simulation erkennbar. Die Akzelerationisten sehen darin ein 'simples, hirntotes Vorpreschen anstelle einer Beschleunigung, die auch navigiert, die ein experimenteller Entdeckungsprozess innerhalb eines allgemeinen Möglichkeitsraumes ist.'"

A Star is Born: Andreas Kümmert hat bei Voice of Gemany abgeräumt! Eine Pop-Erfolgsgeschichte, die Andrian Kreye im Glück schweben lässt. Für ihn ist dieser Sieg "viel größer als sein Triumph über den Sozialidarwinismus der visuellen Medien. Er bestätigt nämlich, dass die eigentliche Überzeugungskraft des Pop immer noch das große Gefühl ist. Und das wird ausgerechnet in den unüberschaubaren globalen Welten der Internetvideos und Franchise-TV-Shows deutlicher denn je." Schon bei seinem ersten Auftritt eroberte Kümmert alle Herzen im Sturm:



Außerdem: Tim Neshitov stellt in der Reihe über den chinesischen Kulturbetrieb das Avantgardetheater und insbesondere als dessen zentralen Protagonist den Regisseur Meng Jinghui vom Pekinger Theater Fengchao vor. Jürgen Ziemer spricht mit dem Saxofonist Pee Wee Ellis. Charles Simic taucht für die New York Review of Books ins große Menschheitsgedächtnis Youtube ein, meldet Niklas Hofmann.

Besprochen werden Luk Percevals Bühnenadaption von J.M. Coetzes Roman "Schande" in München (Christopher Schmidt bedankt sich für einen "im besten Sinne aufklärerischen Theaterabend"), Peter Steins "König Lear"-Inszenierung am Wiener Burgtheater (Klaus Maria Brandauer als Lear ist großartig, findet Christine Dössel: "Schade nur, dass zu viel Pappkameradie ihn immer wieder verstellte.") und Bücher, darunter ein Bildband mit Webeplakaten aus der Sammlung Karl Lagerfelds (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).