Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
08.09.2004. Künstlerische Privatmythologien verrückter Frauen, der Traum des Theodor Herzl, Sprachfex Dilek Güngör, Ruth Berlaus Fotografien, Lord Byrons Erfahrung als Solidaritätskomitee in Griechenland.
Fetisch der Gastlichkeit

In Heidelberg ist in der Sammlung Prinzhorn in der psychiatrischen Universitätsklinik in der Voßstraße noch bis zum 25. September die Ausstellung "irre ist weiblich - Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900" zu sehen. Dazu ist ein Katalog erschienen, der die einzelnen Objekte und die Künstlerinnen detailliert vorstellt. Vorne weg ein paar allgemeinere Einführungen. Gisela Steinlechner von der Universität Wien zum Beispiel weist darauf hin, was die Einweisung in die Anstalt für die Frauen der bürgerlichen Mittelschicht bedeutete. Sie, die zuständig gewesen waren für die Betreuung, für die Pflege ihrer Familie, wurden jetzt selbst zu Pflegefällen. Das musste ihnen als völliges Versagen erscheinen.

Hedwig Wilms (1874-1915) häkelte und knüpfte aus Baumwollgarn ein Service. Das Tablett mit Krug und Gießkännchen darauf erinnerte sie an das, was man ihr genommen hatte, an die heile, bürgerliche Welt, die die Tochter eines Marburger Fabrikanten schon lange bevor sie in die Anstalt in Berlin Buch eingewiesen worden war, verlassen hatte. Hedwig Wilms, so schreibt Gisela Steinlechner, "die laut Krankenakte oft nichts spricht, das Essen verweigert, schlaflos umherwandert oder sich auf den Boden wirft, hat sich einen kleinen Fetisch der Gastlichkeit geschaffen. Damit ist das Fehlende nicht ersetzt, sondern es ist gerade als Abwesendes nachgezeichnet. Indem Hedwig Wilms die Leerstelle der vermissten Dinge mit handarbeiterischem Witz umgarnt, nimmt die konturlose Erfahrung des Mangels Formen an - sie wird zu einem Ding, zu einem handfesten Zeugnis des menschlichen Potentials des Wünschens in äußerster Not und Verzweiflung."

Man wird dem Werk von Hedwig Wilms freilich nicht gerecht, wenn man es ausschließlich als Dokument einer Krankengeschichte liest. Man muss sich zum Beispiel Meret Oppenheims Pelztasse dazu denken, um eine Vorstellung von der künstlerischen Dimension, von der Bedeutung ihrer Arbeiten zu bekommen.

Emma Bachmayrs (1868-1924) gefaltete Doppelblätter sind zunächst einfach nur von großer graphischer Schönheit. Erst die lange, aufmerksame Betrachtung macht klar, dass es sich um Texte handelt, die freilich kaum zu entziffern sind. Kaum ein Wort, das nicht abgekürzt würde und auf diesen Text wurde ein zweiter geschrieben, der ebenso wenig zu lesen ist. Die Bedeutung ist in der Schönheit verschwunden. Der Katalog belehrt einen, dass es sich um Briefe handelt. An die Angehörigen, an Pfarrer, an den Bischof von Passau. Wenn Kunst die Befreiung der Dinge von ihrer Funktion ist, dann erkennen wir hier unter welchem Zwang diese Art Freiheit produziert wird.

In Eisleben wurde Emma Mohr 1833 geboren. 1866 wird sie in eine Anstalt in Halle eingewiesen. Sie hatte zwei Anzeigen gegen einen Erfurter Beamten erstattet. 1876 war sie noch in der Anstalt. Was dann war, weiß man nicht. Auch ihr Todesdatum ist unbekannt. Von ihr gibt es nur ein einziges Werk, einen Bildteppich. 48 Bilder in sechs Reihen um ein größeres Mittelbild mit einem umlaufenden Text auf der Vorderseite des Teppichs. Auf der Rückseite hat sie mehrere gestickte Texte aufgenäht. Darunter eine Petition an das "Hohe-Königl.-Kaiserl.-Ministerium" und eine an "Kaiser Wilhelm d. I. von Deutschland", alle auf den 21. Mai 1875 datiert. Der Teppich ist 87 mal 82 Zentimeter groß und befindet sich in Privatbesitz. Dieser Teppich verwebt die Weltgeschichte mit der Biografie der Emma Mohr. Es ist ein Paradefall für eine künstlerische Privatmythologie.

"Irre ist weiblich - Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900". Herausgegeben von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2004. 264 Seiten, 276 farbige und s/w. Abbildungen, 29.90 Euro. ISBN: 3884232185.


Freunde

Ernst Piper hat Theodor Herzls "Der Judenstaat" (mehr) herausgegeben und dem schmalen Band von 1896 - er reicht in dieser Edition bis auf Seite 89 - noch Texte - sie enden auf Seite 292 - beigegeben, die sich gewissermaßen mit den Folgen beschäftigen. Abgedruckt ist darin auch ein Brief von Theodor Herzl vom 19. März 1899. Herzl antwortet auf Einlassungen eines Abgeordneten der Stadt Jerusalem in Konstantinopel. Es ging schon damals im Wesentlichen um die beiden Fragen: wer hat das Sagen in den Heiligen Stätten und was ist mit der nicht-jüdischen Bevölkerung Palästinas? Herzls Antwort auf die Sorgen des Moslems sollten nicht in Vergessenheit geraten:

"Die Frage der heiligen Stätten? Aber niemand würde nur im Traum daran rühren! Wie ich schon oft gesagt und geschrieben habe: Diese Stätten haben ein für allemal die Fähigkeit verloren, ausschließlich einer Konfession, einer Rasse oder einem Volke zu gehören. Die heiligen Stätten sind und bleiben für alle heilig, für die Mohammedaner wie für die Christen und die Juden. Der Frieden auf der Welt, den alle Menschen so innig wünschen, wird sein Symbol in einem brüderlichen Bündnis für die heiligen Stätten haben. Sie sehen ein anderes Problem in der Existenz der nichtjüdischen Bevölkerung in Palästina. Wer denkt schon daran, sie zu entfernen! Gerade ihr Wohlergehen und ihren persönlichen Reichtum werden wir vermehren, indem wir den unseren bringen. Glauben Sie, dass ein Araber, der in Palästina Land oder ein Haus besitzt, das jetzt drei- oder viertausend Francs wert ist, sehr böse darüber sein wird, wenn der Preis seines Bodens sich erhöht, wenn er sich verfünffacht oder verzehnfacht? Das würde aber notwendigerweise mit der Ankunft der Juden eintreten. Und das müsste man der einheimischen Bevölkerung klarmachen und auch, dass sie ausgezeichnete Brüder gewinnen werden, ebenso wie der Sultan gute und treue Untertanen, die diese Provinz, ihr historisches Vaterland, zur Blüte bringen werden. Betrachtet man die Dinge unter diesem Aspekt, der der wahre ist, muss man ein Freund des Zionismus sein, wenn man ein Freund der Türkei ist."

Es können einem die Tränen kommen, so traurig machen diese Sätze. Nicht nur der sozialistischen Utopie wurde durch ihre Realisierung der Garaus gemacht.

Theodor Herzl: "Der Judenstaat - Text und Materialien, 1896 bis heute". Herausgegeben von Ernst Piper. Philo Verlag, Berlin, Wien 2004. 319 Seiten, 24,80 Euro. ISBN 3865723659.


Daheim

Dilek Güngörs Kolumnen erscheinen in der Berliner Zeitung. Einige davon wurden auf der von mir verantworteten Meinungsseite, der Seite Vier, veröffentlicht. Ich bin also alles andere als unparteiisch. Dilek Güngör ist 32 Jahre alt und Schwäbin. Ihre Eltern kamen ein paar Jahre vor Dileks Geburt aus der Türkei, aus einem Dorf unweit der syrischen Grenze, nach Schwäbisch Gmünd.

Dilek Güngör ist ein Sprachfex. Sie hat wohl schon als Kind lieber mit Wörtern als mit Puppen gespielt. Ihre Kolumnen sind kleine Geschichten. Es geht immer um ihre Familie. Viele Leser der Berliner Zeitung haben diese Familie lieb gewonnen. Sie kennen Tante Hatice und ihre Ticks ebenso wie die Schweigsamkeit des Vaters und die praktische Art ihrer Mutter.

Die Geschichten sind kurz. Es sind Aufnahmen aus dem Familienalbum und wir sind eingeladen, sie uns anzusehen. Die Familie sitzt meist auf dem Sofa und redet. Der Wohnzimmertisch spielt eine zentrale Rolle, das Telefon, der Fernseher und die Fremde. Die Fremde - so denkt der Güngör ungeübte Leser - das ist für die Erzählerin die Türkei und für ihre Eltern Deutschland. Aber bald entdeckt er, dass das Fremde immer das Andere ist. Das ist für Eltern und Tochter mal Deutschland, mal die Türkei. Der bald süchtig gewordene Leser kommt dahinter, dass das anfänglich Fremde schnell vertraut und dass das, was einem vertraut war, einem sehr schnell fremd werden kann. Dilek Güngörs Kolumnen folgen immer wieder dieser Bewegung. Nicht zuletzt darum fühlen wir uns in ihnen - ohne dass wir den Grund gleich bemerken - bald wie Zuhause. Dilek Güngör schafft sich und ihren Lesern einen Raum, in dem sie gemeinsam daheim sind.

Das ist ein seltenes Talent. Wir haben Glück, dass ein Verlag es entdeckt und Dilek Güngörs Kolumnen als Buch heraus gebracht hat. Es wird seine Leser finden. Jetzt fehlt noch eine vernünftige Produzentin, die kapiert, was hier vorliegt, Dilek Güngör engagiert und aus den Kolumnen eine Fernsehserie macht. Von mir aus spitzen Sie die Lippen und nennen Sie es ruhig despektierlich eine soap-opera. Das wird nichts daran ändern, dass Dilek Güngörs noch zu schreibende Serie ein größerer Erfolg werden wird als "Sex in the City". Im ganzen in diesem Falle um die Türkei erweiterten Europa. Das wünschen wir jedenfalls der Autorin.

Dilek Güngör: "Unter uns". edition ebersbach, Berlin 2004. 95 Seiten, 14,80 Euro. ISBN 393470378X.


Grauingrau

Im August 1933 lernte die 26jährige dänische Schauspielerin Ruth Berlau den 35-jährigen deutschen Dichter Bertolt Brecht kennen. Sie blieben bis zum Tode Brechts 1956 zunächst mehr, bald weniger zusammen. 1941 war sie dabei, als Brecht und seine Ehefrau Helene Weigel die Sowjetunion bereisten, und als die danach in die USA emigrierten, war Ruth Berlau mit von der Partie. Sie kam dann auch nach dem Krieg mit nach Berlin und blieb dort bis zu ihrem Tode 1974. Ruth Berlau war eine Frau mit vielen Begabungen. Wer ihre Erzählungen ("Jedes Tier kann es") und ihre Erinnerungen ("Brechts Lai-tu") gelesen hat, weiß das. Ihren Lebensunterhalt freilich verdiente sie als Fotografin - in erster Linie für das Theater am Schiffbauerdamm.

Sie fixierte Brechts Inszenierungen. Ihre Aufnahmen bestimmen das Bild, das die, die nicht dabei waren, vom Theatermacher Brecht haben. Wer den Süden und seine kräftige Sonne liebt, der wird sich nie an das alles beherrschende Grau dieser Fotos gewöhnen. Er wird darin vergeblich nach Lebensfreude und Lust suchen. Er wird auch desinteressiert in dem von Grischa Meyer herausgegebenen Band "Ruth Berlau - Fotografin an Brechts Seite" blättern. Fotos der Berlau, entstanden zwischen 1941 und 1955, in den USA und in Berlin. Kaum eines, das nicht über- oder unterbelichtet ist, kaum eines, das man bei flüchtiger Betrachtung nicht für die Aufnahme eines Dilettanten hält. Aber dann sind Bilder darunter, die man wohl nicht wieder vergessen wird.

Es sind scheinbare Schnappschüsse, Aufnahmen, die die traurige Schönheit der Realität haben. Zwei Frauen an einer Bushaltestelle in Los Angeles und ein Mann chinesischer Abstammung. Oder der Telefonmast, an dem das Wahlplakat für einen Richter hängt - mitten hinein in den weiten Himmel Arizonas. Außerdem natürlich Brecht, Brecht und Brecht. Dazu Charles Spencer Chaplin, Charles Laughton, Elisabeth Bergner, Valeska Gert, Hans Albers, die Feuchtwangers, Max Frisch, die Eislers, Wystan Hugh Auden. Dazwischen Arbeiter, Theaterleute, Demonstranten und Passanten.

Es gibt ein verwischtes Foto, auf dem man den freudigen Stolz sieht, mit dem Chaplin auf seine junge, schöne Frau Oona blickt und gleich daneben in gleicher Größe sieht man nebeneinander Chaplin und Laughton. Chaplin entblößt seine Zähne in die Kamera, Laughton steht dick und fett neben ihm in einem Hemd, das zeigt, wieviel Busen auch ein Mann haben kann und er lacht - nicht in die Kamera, sondern - Chaplin an. Mit seinen dichten, lang gewellten Haaren steht er neben dem zierlichen Chaplin wie eine stolze Gattin, die weiß, was für ein schlaues, fesches Kerlchen sie sich geangelt hat. Der Herausgeber Grischa Meyer hat den Band nicht nur schön gestaltet, sondern auch eine kluge Einleitung geschrieben und viele der Fotos mit informativen Texten versehen.

"Ruth Berlau - Fotografin an Brechts Seite". Herausgegeben von Grischa Meyer. Propyläen Verlag, München 2003. 191 Seiten mit zahlreichen s/w Fotos, 39 Euro. ISBN 3549072066.


Ithakas

Eintausendeinhundertundachtundfünfzig Seiten hat der Band. Reiseberichte über Griechenland von sechsundsiebzig Autoren - vom arabischen Geografen Idrisi (um 1150) bis zum Freiburger Philosophieprofessor Martin Heidegger (1962). Das kompakte Dünndrucktaschenbuch gibt es leider nur auf französisch. Für alle, die, nachdem sie die olympischen Spiele gesehen haben, jetzt nach Griechenland fahren wollen, ist es eine anregende, sehr abwechslungsreiche Lektüre. Da sind zum Beispiel die Briefe des schwedischen Hoffräuleins Anna Akerhjelm, das die Gemahlin des Grafen Otto von Königsmark auf deren Kriegszug gegen die Türken (1686-1688) begleitete. Die fünf erhaltenen Briefe an ihren Bruder, den Sekretär der königlichen Kanzlei sind alle - gekürzt - abgedruckt.

Sie vermitteln ein eindrucksvolles Bild von der Realität der militärischen Auseinandersetzungen. Sie ist - wie immer - viel kleiner als sie in den Geschichtsbüchern erscheint. Drei Kanonen, sechzig Soldaten, eine Handvoll Schiffe - darum geht es. Wenn die maltesischen Ritter krank sind, findet der Krieg nicht statt und eine ganze Stadt geht verloren. Lord Byron sitzt 1810 in Athen in einem Kloster, in dem er sich besser untergebracht fühlt als je in einem Hotel und lernt italienisch. Er habe gerade, so schreibt er nach England, zur Übung Horaz' Ode "Exegi monumentum" ins Italienische übersetzt. Dreizehn Jahre später ist er wieder in Griechenland. Doch diesmal will er Krieg führen. Gegen die Türken. Das Land soll Europa zurückgewonnen werden. Es geht ihm nicht anders als den Solidaritätskomitees für die Befreiungsbewegungen späterer Jahre. Er stößt statt auf die erwartete Einmütigkeit gegen den gemeinsamen Feind, auf die unterschiedlichsten mit einander zerstrittenen Gruppen. Er werde sich, schreibt er, "wohl oder übel für die eine oder die andere Fraktion entscheiden müssen".

Zwei Griechen kommen in dem Band zu Wort. Nikos Kazantzaki, der als Kind Kreta verlassen musste, und Kavafis, der in der griechischen Kolonie in Alexandria geboren wurde und dort auch starb. Sein berühmtes Gedicht "Ithaka" aus dem Jahre 1911 beschließt den Band.

"Brichst du auf gen Ithaka,
wünsch dir eine lange Fahrt,
voller Abenteuer und Erkenntnisse.
Die Lästrygonen und Zyklopen,
den zornigen Poseidon fürchte nicht,
solcherlei wirst du auf deiner Fahrt nie finden,
wenn dein Denken hochgespannt, wenn edle
Regung deinen Geist und Körper anrührt.
Den Lästrygonen und Zyklopen,
dem wütenden Poseidon wirst du nicht begegnen,
falls du sie nicht in deiner Seele mit dir trägst,
falls deine Seele sie nicht vor dir aufbaut.

Wünsch dir eine lange Fahrt.
Der Sommermorgen möchten viele sein,
da du, mit welcher Freude und Zufriedenheit!
In nie zuvor gesehene Häfen einfährst;
Halte ein bei Handelsplätzen der Phönizier
Und erwirb die schönen Waren,
Perlmutter und Korallen, Bernstein, Ebenholz
Und erregende Essenzen aller Art,
so reichlich du vermagst, erregende Essenzen,
besuche viele Städte in Ägypten,
damit du von den Eingeweihten lernst und wieder lernst.

Immer halte Ithaka im Sinn.
Dort anzukommen ist dir vorbestimmt.
Doch beeile nur nicht deine Reise.
Besser ist, sie dauere viele Jahre;
Und alt geworden lege auf der Insel an,
reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,
und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.

Ithaka gab dir die schöne Reise.
Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen.
Nun hat es dir nicht mehr zu geben.

Auch wenn es sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht.
So weise, wie du wurdest, in solchem Maße erfahren,
wirst du ohnedies verstanden haben, was die Ithakas bedeuten."

(Übersetzt von Wolfgang Josing und Doris Gundert)

"Le voyage en Grece - Anthologie du moyen age a l'epoque contemporaine". Herausgegeben von Herve Duchene. Robert Laffont, Paris 2003. 1158 Seiten, 14 s/w Abbildungen und Karten, 29,95 Euro. ISBN 2221084608.