Fallende Blätter

Das deutsche Feuilleton aus der Perspektive des Internets. Von Thierry Chervel

Von Thierry Chervel
20.09.2003. Das deutsche Feuilleton ist kosmisch kompetent. Warum sieht es aus der Perspektive des Internets trotzdem so klein aus?
Nehmen wir das Feuilleton einer großen deutschen Zeitung an einem beliebigen Tag im September des Jahres 2003. Dieses Feuilleton hatte einmal zehn Seiten täglich, jetzt sind es nur noch fünf, eine fatale Folge der Zeitungskrise. Die Spannweite der Themen ist dennoch erstaunlich: Man befasst sich mit dem Euro in Schweden, mit Solarenergie für Afrika, mit der Popularisierung der theoretischen Physik, mit der Stasi in Polen, mit der Inflation katholischer Moraltheologen, die alle einen eigenen Standpunkt vertreten, mit dem dritten Saal der Carnegie Hall, mit neuesten Tendenzen der Bioethik, mit der Geschichte der Übertragungen des persischen Dichters Dschalaladdin Rumi ins Deutsche und mit Beihilfe zum Selbstmord und ihrer Verfolgung in der Schweiz. Eine vereinsamte Kritik widmet sich dem neuen "Faust" in Basel.

Das deutsche Feuilleton ist kosmisch kompetent. Warum erscheint es aus der Sicht des Internets dennoch so klein?

Nun, es hat hier ein Problem, das es mit den deutschen Zeitungen insgesamt teilt, und nicht nur mit den deutschen. Bei aller Weltzuständigkeit haben sich die deutschen Zeitungen vom Internet übertölpeln lassen. In den drei Phasen, in die sich die Geschichte des World Wide Web seit 1994 einteilen lässt, haben die deutschen Zeitungen drei Fehler gemacht. Am Anfang blieb man skeptisch, hatte Angst um seine Inhalte und handelte lieber gar nicht - das Internet war noch sehr fremd. In der Phase des Booms ließen sich dann auch die deutschen Zeitungen anstecken. Sie machten jetzt ganz schnell, ließen sich von dubiosen Agenturen beraten und Internetadressen bauen und fühlten sich als Avantgarde der New Economy. In der dritten Phase wurden sie panisch und zogen sich wieder zurück.

Zögern - Hysterie - Panik. Es gab bei den deutschen Zeitungen noch nie einen souveränen Umgang mit der neuen Technologie, während sich die genuinen Angebote des Internets ganz organisch immer weiter entwickeln und eine Macht entfalten, die von den Zeitungen bis heute nicht begriffen wurde. Dass in Thomas Steinfelds Reflexionen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit das Wort "Internet" noch nicht einmal auftaucht, ist ein weiteres Indiz für eine bedenkliche Arglosigkeit in diesen Dingen.

Ein Beispiel: Das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung begreift sich selbstverständlich als Konkurrenz des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und umgekehrt. Aber beide haben offensichtlich noch gar nicht bemerkt, dass sie von ganz anderer Seite in Frage gestellt werden In ihrer kosmischen Kompetenz haben sie übersehen, dass ihnen das Terrain unter den eigenen Füßen schwindet.

Die andere Seite, das sind Google oder Amazon. Unsere Feuilletons haben in ihrem unermüdlichen Einsatz für die Neuerscheinungen aus der akademischen Welt in der letzten Woche eine kulturanthropologische Studie über die Autobiografien von Carl Gustav Carus, Wilhelm von Kügelgen und Ludwig Richter und eine andere Studie über "Das romantische Paradigma der Chemie" besprochen - wie viele Leser werden sie damit gefunden haben? Wer sich für Spezielles interessiert - und wer tut das nicht? - wartet immer weniger darauf, dass es ihm von der Zeitung geliefert wird. Er wird gleich bei Google und Amazon nachschlagen und kann sich sogar per Mail benachrichtigen lassen, wenn es irgendwo im Netz verhandelt wird. Die Hälfte der deutschen Bevölkerung - die qualifiziertere Hälfte - hat heute Zugang zum Netz. So wird ein Leser bei einer Netzrecherche zu Wilhelm von Kügelgen nicht auf den Artikel aus der SZ stoßen, sondern allenfalls auf die Notiz zum Artikel beim Perlentaucher, oder er wird gleich bei Amazon oder Google suchen und sich dort informieren, wo er die Information findet. Das ist der Strukturwandel der Öffentlichkeit: Zwar sind auch die Zeitungen im Netz., aber wie unpraktisch präsentieren sie sich! Ihre Inhalte verstecken sie aus Angst vor Diebstahl in unzugänglichen Archiven. Google findet sie nicht.

Durch die überlegenen Such-, Illustrations- und Benachrichtigungsmöglichkeiten des Internets entgleiten den Zeitungen die Rubrikenanzeigenmärkte, aber auch und sogar im Kulturbereich stehen sie längst Konkurrenten gegenüber, mit denen sie im Traum nicht gerechnet hätten: Internetbuchhändlern, die auch wie Medien funktionieren, Nachrichten- und Suchdiensten, die Informationen bündeln und zielgenau zusenden.

Ein zweites Beispiel: Jüngst versuchte Jürgen Habermas, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen, um seine "Kerneuropa"-Initiative zu lancieren. Sie ist längst in der Vergessenheit versunken, vielleicht auch, weil die Klaviatur der Medien, die Habermas da spielte, im Internet-Zeitalter so überaus behäbig wirkte. Habermas schrieb seinen eigenen Text in der FAZ. Andere Texte erschienen in der SZ, der NZZ, aber auch in La Repubblica, La Stampa, El Pais und Le Monde. Im Internet war die Debatte nur zum Teil nachzuvollziehen, denn die FAZ, aber auch die italienischen und spanischen Zeitungen betreiben eine äußerst defensive Politik im Netz und verlangen vom Nutzer schon am Erscheinungstag der Artikel, dass er sich als zahlende Abonnent ausweist.

Diese Politik mag ihre Berechtigung haben oder nicht: Aber wie wahrscheinlich ist es, dass sich das interessierte Publikum zum nächstgelegenen Bahnhofskiosk begibt? Eine europäische Öffentlichkeit lässt sich so nicht mehr herstellen. Habermas hätte anders agieren können: Er hätte sich vom Perlentaucher zum Gegenwert seines FAZ-Honorars eine kleine Internetadresse bauen lassen können, die es ihm erlaubt hätte, beliebig viele Unterseiten für die Artikel seiner Gesinnungsgenossen zu erstellen. Einen Tutor hätte er schon gefunden, der die Website hätte bedienen können. Diese Öffentlichkeit hätte funktioniert, die Zeitungen hätten neidvoll berichten müssen. Die Medien haben heute kein Monopole der Informations- und Meinungsverbreitung mehr. Im Internet kann jeder ein Medium sein.

Das dritte Beispiel: Nach dem 11. September war das Informationsbedürfnis groß. Am 12. September zeigte eine Netzrecherche, dass das deutsche Internet und die deutschen Medien zu den Themen Afghanistan, Islamismus; bin Laden so gut wie nichts zu bieten hatten. In den USA dagegen schalteten der New Yorker und Atlantic Monthly, die Policy Review und die politischen Think Tanks die einschlägigen Artikel aus früheren Ausgaben frei - im Spiegel der folgenden Woche waren ganze Passagen aus dem New Yorker abgeschrieben.

Das Netz hat offensichtlich eine natürliche Tendenz zum Englischen: In den USA, aber auch in Großbritannien oder Indien scheint die Affinität zum neuen Medium größer. Man geht selbstverständlicher damit um, man hat früher angefangen, man hat sinnvollere Adressen gebaut, und es zeigte sich nebenbei am 11. September und danach eine überlegene Qualität des angelsächsischen Journalismus sowohl in der Information als auch - in Medien wie der New York Review of Books - in der Reflexion.

Hier ist der Strukturwandel der Öffentlichkeit am radikalsten: Nicht nur die deutschsprachigen, sondern alle nicht englischsprachigen Medien sehen sich durch das Internet provinzialisiert. Schlimm ist, dass sie auf diese Situation auch noch ignorant oder defensiv reagieren, etwa indem sie ihre Inhalte allzu ängstlich wegsperren. Das französische und das italienische Internet sind Katastrophen: Dass eine Zeitschrift wie Micromega das Internet nicht als internationales Forum nutzt, führt die Intellektuellen der italienischen Opposition geradezu in die Isolation. Inhaltlich können französische Kulturzeitschriften wie Le debat, Commentaire oder Esprit der New York Review of Books zwar durchaus standhalten, aber sie scheinen noch nicht einmal begriffen zu haben, dass es darauf ankommt. So kommt es, dass qualifizierte Text im Netz fast nur auf englisch zu haben sind.

Früher oder später werden sich die nicht englischsprachigen Öffentlichkeiten dieser Entwicklung ohnehin anbequemen müssen, wie es die Öffentlichkeiten der Entwicklungsländer ja längst getan haben. Auch Jürgen Habermas hätte auf seiner kerneuropa.org-Seite die Texte seiner Debatte zeitgleich auf englisch, also in einer für sein Kerneuropa exterritorialen Sprache, veröffentlichen müssen: denn auch Franzosen und Deutsche verständigen sich heute in der Regel auf englisch. Längst sind die nationalen Öffentlichkeiten Europas so stark von einander abgewandt und so parallel auf Amerika fixiert, dass sie sich nur noch in der Sprache des in den nationalsprachlichen Medien panisch angebellten Hegemons aus ihrer Erstarrung lösen könnten. Diese nationalsprachlichen Medien werden zusehends als Regionalmedien fungieren und die Ergebnisse der Fußballligen, Dosenpfand-Debatten und Superstar-Suchen kommunizieren. Der intellektuellen Öffentlichkeit tut sich - neben dem Buch - zusehends das Netz auf. Weltzuständigkeit allein reicht nicht mehr aus. Englischkenntnisse sind erwünscht.

Und um noch mal auf die deutschen Zeitungen und den Strukturwandel der Öffentlichkeit zurückzukommen. Trotz aller Fixierung auf Amerika wurde hier noch nie kommentiert, dass es nur eine einzige Zeitung gibt, die eine europäische Öffentlichkeit herstellen könnte: und das ist die New York Times, die Alleinbesitzerin der International Herald Tribune. Sie müsste nur wollen.