9punkt - Die Debattenrundschau

Das Team sei sehr woke

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2020. Der Sturm um J.K. Rowling  weitet sich auf ihren Verlag Hachette aus, wo Mitarbeiter ihr neues Kinderbuch "The Ickabog" nicht herausbringen wollen, um gegen Rowlings Kritik an Transgender-Diskursen zu protestieren, berichtet Daily Mail. Überall in Europa wird über einzureißende Denkmäler diskutiert: In Politico.eu erzählt die  Autorin Giulia Blasi , warum sie das beim Denkmal des italienischen Journalisten Indro Montanelli für mehr als gerechtfertigt hält. Auch im Guardian und der NZZ befürworten Autoren die Schleifung von Denkmälern. In Nigeria protestieren laut FR die Frauen. Im Observer warnt Kenan Malik vor dem Begriff des "weißen Privilegs" Und die Debatte um Achille Mbembe geht ebenfalls weiter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.06.2020 finden Sie hier

Europa

Heute beginnt der Prozess im Mordfall Lübcke, eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte, schreibt Marlene Grunert im Leitartikel der FAZ: "Nicht nur die Politik und Sicherheitsbehörden haben rechte Gewalt lange unterschätzt. Die Fokussierung auf linke Gewalt war lange Zeit gesamtgesellschaftlicher Natur und hätte lange vor dem NSU-Terror korrigiert werden müssen. Bei aller berechtigten Beschäftigung mit dem 'Deutschen Herbst' 1977 hätte etwa die Bedeutung des Jahres 1980 nicht übersehen und dauerhaft vernachlässigt werden dürfen."

Emmanuel Macron hat am Sonntag eine Rede im Fernsehen gehalten, wie das französische Präsidenten zu tun pflegen. In der Rede hat er versichert, "dass kein Name aus der kolonialen Geschichte des Landes getilgt und keine Statue abmontiert werde", schreibt Christine Longin in der taz. Für sie ein Zeichen, dass er zusehends auf die konservative Wählerschaft zielt: "Jean-Baptiste Colbert, der die Regelung zum Umgang mit den Sklaven in den französischen Kolonien verfasste, darf also weiter vor der Nationalversammlung in Paris thronen. Die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit bleibt den akademischen Zirkeln vorbehalten. Das tägliche Leben der Franzosen, die in fast jeder Stadt eine nach Colbert benannte Straße haben, soll sie nicht erfassen."

Auch in Italien wurde bei antirassistischen Protesten eine Statue beschädigt: die des Journalisten Indro Montanelli, der jahrzehntelang eine der wichtigsten publizistischen Stimmen im Land war. Montanelli hat in seinen eigenen Erinnerungen ganz offen beschrieben, wie er sich bei der Eroberung Äthiopens durch Mussolini ein zwölfjähriges Mädchen "kaufte", mit dem er erst schlafen konnte, nachdem die Mutter die verletzten Genitalien des Mädchens geöffnet hatte - Bedauern hat er darüber nie geäußert, schreibt die Autorin Giulia Blasi bei politico.eu und erinnert daran, dass Italien weithin ein Regime alter Männer ist: "Die Farbkleckser auf Montanellis Denkmal wurden von jenem Segment der italienischen Bevölkerung mit einmütigem Horror beantwortet, dessen Stimme hier immer noch die lauteste ist: die der alten, wohlhabenden weißen Männer, die an den Schalthebeln der Macht, des Geldes und der Medien in Italien sitzen. Diese Männer schaudert es bei der Vorstellung, dass Frauen und Minderheiten ein Wort dabei mitreden wollen, an wen an öfentlichen Orten erinnert wird und die so mitbestimmen wollen, welche Werte in Italien gelten. Ihre heftige Verteidigung Montanellis ist in Wirklichkeit eine heftige Verteidigung ihrer eigenen Anmaßung."

Im Guardian verteidigt David Olusoga das Niederreißen der Statue des Slavenhändlers und Philantropen Edward Colston in Bristol: Es war einfach überfällig, meint er. "Trotz der tapferen und beharrlichen Bemühungen von Aktivisten wurden alle Versuche, die Statue friedlich entfernen zu lassen, von Colstons Verteidigern vereitelt. Im Jahr 2019 fielen die Versuche, eine Gedenktafel am Sockel anzubringen, in sich zusammen, nachdem Bristols Society of Merchant Venturers, die Hohepriester des Colston-Kults, darauf bestanden, den Text zu verwässern, indem sie Qualifikationen hinzufügten, die nach Ansicht von Kritikern den Effekt gehabt hätten, seine Verbrechen zu minimieren. Doch was viele an der Statue abstieß, war nicht, dass sie Colston aufwertete, sondern dass sie über seine Opfer schwieg, über diejenigen, deren Leben zerstört wurde, um ein Vermögen zu erlangen, das er dann an die Stadt verschwenden konnte. ... Was auch immer in den nächsten Tagen gesagt wird, dies war kein Angriff auf die Geschichte. Dies ist Geschichte. Es ist einer jener seltenen historischen Momente, die klarmachen, dass die Dinge nie wieder so sein können, wie sie waren."

Auch Florian Coulmas zeigt in der NZZ Sympathie für die Denkmalstürmer, auch wenn er nicht ganz an die erhofften Effekte glaubt: "Symbolische Akte wie die Beseitigung von Statuen und die Umbenennung von Straßen und Plätzen ändern zunächst nichts an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, aber dass entsprechende Forderungen von denen erhoben werden, die sich als Leidtragende und als solche gekränkt oder beleidigt fühlen, ist Grund genug, sie ernst zu nehmen."

Ebenfalls im Guardian kann die Politologin Lea Ypi das nur bestätigen. Sie erinnert sich noch sehr gut an das Niederreißen der Statuen von Enver Hotscha in Albanien nach der Wende: Alle freuten sich, aber es blieb bei der symbolischen Aktion: "Albanien verfügt heute über politischen Pluralismus und freie Märkte, aber die Lebenserwartung und der Alphabetisierungsgrad sind zurückgegangen. Junge Menschen gehen in Scharen weg, um anderswo Arbeit zu finden, während die soziale Ungleichheit zunimmt. Der Sturz von Statuen bedeutete einen Bruch mit der Vergangenheit, machte es aber schwieriger, aus ihr zu lernen. ... Die Beseitigung der Symbole der kolonialen Gewalt droht zu einem Pyrrhussieg zu werden, wenn ihre Ziele auf eine Kampagne zur Korrektur historischer Ungerechtigkeiten reduziert werden. Wenn man sich nur darauf konzentriert, ob Statuen bleiben oder verschwinden sollen, wird verschleiert, wie ungerechte Geschichten immer noch von den gegenwärtigen Strukturen getragen werden."

Wäre es nicht sinnvoller, fragt die Historikerin Hedwig Richter auf Spon, "Denkmäler als Erinnerung daran stehenzulassen, wie zweifelhaft unsere Selbstbilder waren und sind? Die Kinder von morgen könnten zum Denkmal von Edward Colston gehen, nicht um den Rassisten zu ehren, sondern um von einer Gesellschaft zu hören, die viele Jahrzehnte zur richtigen Bezeichnung nicht bereit war: Sklavenhändler Colston. Die Schülerinnen und Schüler könnten so anfangen, über die Grundlage demokratischer Gesellschaften nachzudenken: die Würde des Menschen - und wie viel Anstrengung es kostet, sie zu wahren. Dazu gehört, dass Colston Philanthrop war, dem seine Herkunftsstadt Bristol Schulen und Krankenhäuser verdankt. Kinder können lernen, was für ein fragwürdiges, fragiles Wesen der Mensch ist - dass wir die komplexen Produkte einer komplizierten Geschichte sind."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Im Observer warnt Kenan Malik vor dem Vorwurf des "weißen Privilegs", denn er lenke von den wahren Problemen nur ab: "Das Problem des Rassismus ist in erster Linie ein soziales und strukturelles - von Gesetzen, Praktiken und Institutionen, die Diskriminierung aufrechterhalten. Die Betonung des 'weißen Privilegs' verwandelt ein soziales Problem in ein psychologisches. ... Mehr als die Hälfte der von der amerikanischen Polizei Getöteten sind Weiße, und während die Zahl der Tötungen von Afroamerikanern durch die Polizei in den letzten Jahren proportional zurückgegangen ist, hat die Zahl der getöteten Weißen stark zugenommen. Einige Analysen legen nahe, dass der größte Einflusswert bei Tötungen durch die Polizei nicht die Hautfarbe, sondern das Einkommensniveau ist - je ärmer man ist, desto wahrscheinlicher ist es, getötet zu werden. Andere Studien haben gezeigt, dass sich die erschreckend hohe Anzahl von Inhaftierten in Amerika besser durch Klassenzugehörigkeit erklären lassen und dass es 'bei Masseninhaftierungen in erster Linie um die systematische Verwaltung der unteren Klassen geht, unabhängig von der Hautfarbe'."

In Nigeria hat die Zahl der Vergewaltigungen seit dem Lockdown stark zugenommen, berichtet Johannes Dieterich in der FR: Nigerias Frauenministerin Pauline Tallen spreche von einer Verdreifachung. Nachdem jetzt mehrere Frauen und Mädchen so schlimm misshandelt worden waren, dass sie an ihren Verletzung starben, gingen die Nigerianerinnen auf die Straße: "Schon zu 'normalen' Zeiten gab jede vierte Nigerianerin bei einer Unicef-Umfrage an, schon einmal sexuell misshandelt worden zu sein. In den meisten Fällen kommt es dabei nicht einmal zur Anzeige: Die Frauen wollen die Tortur nicht noch weitere Male vor der Polizei und dem Gericht durchleben. Und zu einer Verurteilung kommt es so gut wie nie. Uwaila Omozuwas Tod rüttelte Nigeria allerdings auf. 'Wir haben genug!', riefen Demonstrantinnen in der Hauptstadt Abuja. In Benin City versammelten sich zornige Frauen vor dem Hauptquartier der Polizei und in der Hafenstadt Lagos drückten sie ihren Unmut vor dem Parlamentsgebäude aus."
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Kulturmarkt

Bei Hachette  gibt es einen Aufstand wegen J.K. Rowling, berichtet Sam Greenhill in der Daily Mail (unsere Resümees zur Debatte). Mitarbeiter drohen mit Streik, um gegen J.K. Rowlings Kritik an Transgender-Diskursen zu protestieren: "Gestern morgen sollen einige Mitarbeiter, die mit Rowlings neuem Kinderbuch 'The Ickabog' befasst sind, ihre Rebellion in einem erregten Meeting koordiniert haben. Eine Quelle sagt: 'Das Team in der Kinderbuchabteilung hat angekündigt, nicht länger an dem Buch arbeiten zu wollen.' Sie seien gegen Rowlings Äußerungen und wollten ihre Unterstützung für die Trans-Lobby zeigen. Das Team sei sehr 'woke', meist zwanzig oder knapp dreißig Jahre alt und fühle sich durch das Thema stark berührt."

Wie sich die Coronakrise in Berlin auf freie Künstler auswirkt, schildert Kevin Hanschke in der FAZ unter anderem am Beispiel der Künstlerin Heidi Sill: "Sie lebt momentan von einem befristeten Stipendium im Rahmen einer Residency der Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf. Dies sei ein großes Glück, sagt Sill, denn ihr sind durch den Lockdown viele Aufträge weggebrochen. Während sie in den letzten Jahren im Durchschnitt an fünfzehn Ausstellungen teilgenommen hat, konnten ihre Arbeiten in diesem Jahr nur bei einer Schau gezeigt werden. Nicht nur das Wegbrechen des Marktes bereite ihr Sorgen, sondern auch der Wegfall jeglicher Vernetzungsmöglichkeiten in der Kunstwelt."
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Politik

Ailton Krenak, ein bekannter Aktivist der Indigenen aus dem Amazonas-Gebiet, weigert sich im Zoom-Gespräch mit Simon Sales Prado von der taz, die Entwicklung für die Indigenen auch in Corona-Zeiten nur negativ zu sehen: "Schon in den Siebzigern warnten internationale Berichte, Indigene in Brasilien seien kurz vorm Aussterben. Seitdem haben wir einerseits eine Blütezeit durchlebt: Indigene begannen, Universitäten zu besuchen, öffentliche Räume einzunehmen, wichtige soziale Kämpfe wurden geführt, Territorien anerkannt. Trotzdem haben wir in dieser Zeit viel Gewalt erlebt. Europa hat das nicht bemerkt, weil Europa von der wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens beeindruckt war."
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Ideen

(Via Ruhrbarone) Endlich zwei Autoren, die Achille Mbembe verstanden haben. Die heutige israelische Politik und der Holocaust sind nur zwei Punkte auf einer nach oben offenen Segregationsskala, schreiben Reinhart Kößler, ehemaliger Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts Freiburg, und und Henning Melber von der Hammarskjöld-Stiftung in Uppsala in der Zeitschrift des Kulturrats (hier als pdf-Dokument auf Seite 15): "Der ihm zur Last gelegte Vergleich betrifft eine metaphorische Zusammenschau des Holocaust, der Apartheid in Südafrika, vieler anderer Kolonialsysteme und auch der gegenwärtigen israelischen Besatzungspolitik. Solch segregierenden Herrschaftssystemen wohnt eine Systematik inne, die zur Steigerung und einer zur Willkür neigenden Praxis der gewaltsamen Diskriminierung neigt. Diese kann bis zum Völkermord gehen... Die vergleichende Genozidforschung stellt daher ein unverzichtbares Mittel der Prävention schwerster Massenverbrechen dar." Mit anderen Worten: Wer die heutige israelische Politik nicht mit dem Holocaust vergleicht, riskiert einen neuen Holocaust.

Thomas Schmid geht in der Welt nun auch auf die Mbembe-Debatte ein und attackiert vor allem Aleida Assmann, deren Konzept des "dialogischen Erinnerns" er so persifliert: "Erzähl' du mir dein Unglück, dann erzähle ich dir mein Unglück, so können wir Schwestern und Brüder werden." Auch dass der Holocaust so in eine Kontinuität eingereiht wird, behagt ihm nicht: "Klingt da, diesmal von aufgeklärter Seite her, der Wunsch nach einer Art Schlussstrich an, nach einem Verschwinden der Zumutung des Holocausts in im Schlund des großen Vergessens? Ich vermute in der Tat, dass bei dem Versuch Aleida Assmanns und anderer, den Holocaust erinnerungskulturell anschlussfähig zu machen, auch ein sehr deutscher Wunsch am Werk ist, endlich den lastenden Mühlstein der Singularität des Holocausts loszuwerden."

Außerdem: In der taz fragt sich Eva Behrendt, wie wohl der ausgewiesene Amerika-Freund Michael Rutschky auf Trump, Corona und antirassistische Proteste in den USA reagiert hätte.
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Medien

Gestern hatte die FAZ berichtet, dass eine für die gestrige Ausstrahlung geplante SWR-Dokumentation über den Ausbruch der Coronakrise in Wuhan problematisch sei, weil sie zum großen Teil auf dem Material eines chinesischen Propagandabüros beruht (Unser Resümee). Ursprünglich hatte die SZ das Thema aufgebracht. Kurzfristig wurde die Sendung nun wegen Rechteproblemen abgesetzt, berichtet Klaus Raab in Spiegel online. Raab hat die Dokumentation gesehen, die mehrfach auf die Problematik der Bilder hinweise. "Nur: Kann man eine Dokumentation, die zu weiten Teilen aus Bildern besteht, denen man nicht trauen kann, retten, indem man immer wieder den Hinweis einstreut, dass man ihnen nicht trauen kann? Und war man wachsam genug?"

Die australischen Wettbewerbsbehörden wollen, dass Facebook und Google für die Verlinkung von Medieninhalten zahlen, berichtet Friedhelm Greis bei golem.de. Er sieht in dem australischen Vorstoß eine Parallele zum europäischen Leistungsschutzrecht für Presseverleger. Aber Facebook will nicht zahlen: "Nach Ansicht Facebooks sollten zwei Unternehmen nicht alleine dafür verantwortlich sein, die finanziellen Probleme der australischen Medien zu lösen. Stattdessen konkurrierten IT-Konzerne mit den Medien um die Werbeerlöse. Daher würde eine Abgabe von Werbeerlösen an die Medien bedeuten, dass ein Wettbewerber finanziert werde. Das könnte zu höheren Preisen führen."
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