Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
23.02.2004. Atlantic Monthly porträtiert einen amerikanischen Soldaten: Colonel Tom Wilhelm sorgt in Ulan Bator dafür, dass die Amerikaner beliebter sind als Russen und Chinesen. In Radar erklärt der Regisseur Miguel Rodriguez Arias den Sinn von Begräbnisritualen. Outlook India porträtiert den indischen Macbeth, Irrfan Khan. In der Moskowskije Nowosti erklärt die Präsidentschaftskandidatin Irina Chakameda, die Tschetschenen seien keine Terroristen. Das TLS freut sich über Gore Vidals boshafte Porträts der amerikanischen Gründerväter. Der Spiegel hat sich von McKinsey beraten lassen.

London Review of Books (UK), 19.02.2004

Conor Gearty arbeitet daran, der Hutton-Kommission ihren Heiligenschein zu rauben. Er stellt den Richtspruch nicht nur juristisch in Frage, sondern bezweifelt auch dessen Glaubwürdigkeit: "Die Analogie mit dem Widgery Report um die Opfer des Bloody Sunday im Jahr 1972 hinkt in vielerlei Hinsicht, doch was eine bestimmte Sache angeht, trifft sie genau ins Schwarze: Die Regierung könnte langfristig das unermüdliche Hervorheben ihrer guten Führung im Hutton Report bereuen, so wie man jetzt den Widgery Report bereut. Die breite Öffentlichkeit muss sich dafür nicht einmal mit den juristischen Richtlinien befassen - alles ist einfach zu perfekt, auf zu vielen Regierungsebenen zu schön und mitfühlend arrangiert, als dass der Report in Hinblick auf das glaubhaft erscheinen könnte, was die Öffentlichkeit interessiert: Dass ein Krieg auf scheinbar fehlerhafter Basis geführt wurde, dass ein Wissenschaftler, der dies scheinbar zu bemerken gab, tot ist, und dass niemand derjenigen, die für den Krieg oder diesen Tod verantwortlich waren, dass nicht ein einziger Minister einen politischen Preis dafür bezahlt hat."

Weitere Artikel: Jeremy Harding blickt zurück, um zu verstehen, wie es in Frankreich zu dem vieldiskutierten und nun beschlossenen Gesetz gekommen ist, wonach das Tragen offensichtlicher religiöser Zeichen in Schulen verboten ist. David Runciman bespricht zwei Baseball-Bücher und hat allerlei kuriose Geschichten parat (wie zum Beispiel der berühmte Fluch, der seit 60 Jahren auf den Chicago Cubs lastet - und das wegen einer Ziege). In Short Cuts stellt Norman Dombey klar, dass der britische Geheimdienst MI6 (mehr hier und hier) durchaus Routine darin hat, Politikern mit gefälschten Dokumenten wichtige Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Und Peter Campbell kann in Vuillards späten Gemälden (die zusammen mit seinen frühen Werken in der Londoner Royal Academy zu sehen sind) nicht die geringste Spur der vielbeschworenen Ironie finden - er findet sie einfach nur schlecht.

Leider nur im Print zu lesen: M. F. Burnyeat erklärt, welchen Begriff man sich in Sibirien von Diebstahl macht.

The Atlantic (USA), 01.03.2004

Robert Kaplan porträtiert Colonel Tom Wilhelm, einen der neuen Militär-Diplomaten, die von den USA weltweit eingesetzt werden, um die jeweiligen Armeen eines Landes bei der Stange zu halten. Colonel Wilhelm ist eine absolut filmreife Figur - er war noch keine dreißig, als er bereits Helikopter fliegen konnte, in Alaska mit Eskimo-Scouts russische Spetsnaz aufspürte und Russisch an der Universität in Leningrad studiert hatte. Nach dem Fall der Mauer war er in Tadschikistan, Mazedonien und Bosnien. Zur Zeit ist er in Ulan Bator stationiert, wo Kaplan ihn besucht hat. Dort hilft er der mongolischen Armee, ihre Grenzen besser zu sichern, eine aktive Rolle bei Blauhelmeinsätzen zu spielen und Naturkatastrophen effektiver zu begegnen. Wilhelm ist einer von dreien ausländischen Militärattaches, die sich ständig in der Mongolei aufhalten: Außer ihm gibt es noch einen Russen und einen Chinesen. Seine Hauptaufgabe scheint es aber zu sein, die Mongolen zu lehren, die Amerikaner zu lieben, was einen amerikanischen Militärstützpunkt in der Mongolei überflüssig machen würde. Wie Wilhelm das anstellt, müssen Sie selbst lesen!

In der Titelgeschichte beschreibt Caitlin Flanagan auf mindestens dreißig Seiten, wie es amerikanischen Frauen gelungen ist, Berufstätigkeit, Familie und guten Sex unter einen Hut zu bringen. "Als hätte die gute Fee der Frauenbewegung ihren Zauberstab geschwungen, wurde das gesamte Problem gelöst. Mit der Ankunft einer billigen und leicht auszubeutenden Armee von armen, glücklosen Frauen - die vor Hunger, Krieg und Armut flohen, ihre Kinder zurückließen und dabei immer Vergewaltigung oder Tod auf ihren teuren und heimlichen Reisen fürchten mussten - kollabierte einer der nobelsten Grundsätze der zweiten Feminismus-Welle wie ein Kartenhaus. An den Docks wurden die Immigrantinnen nicht von hochorganisierten und politisch mächtigen Gruppen amerikanischer Frauen empfangen, die ihnen das Schicksal ihres Geschlechts erleichtern wollten, sondern von einer ebenso großen Armee hochgebildeter Karrierefrauen, die jemanden brauchten, der auf ihre Kinder aufpasst. Jeglicher Zweifel an der moralischen Gerechtigkeit, dass weiße Frauen dunkelhäutige Frauen beschäftigen, um ihnen die Drecksarbeit abzunehmen, verflüchtigte sich."

Weitere Artikel: In einem Kommentar blickt James Fallows besorgt auf den angestrengte Situation der US-Armee: "Es wäre eine leichte Übertreibung zu sagen, dass das gesamte US-Militär entweder im Irak ist, aus dem Irak zurückkehrt oder sich auf den Weg in den Irak macht. Aber nur eine leichte." Für amerikanische Colleges gibt es offenbar einen neuen Aufnahmetest, dessen dogmatische Regeln die Princeton Review nicht überzeugt haben. Deshalb hat sie geprüft, wie Shakespeare, Hemingway und Gertrude Stein beim Schreibtest abgeschnitten hätten. Miserabel natürlich, nur der Unabomber hätte bestanden. Außerdem sind Christopher Hitchens Hommage auf den Vater des Spionagethrillers und großen Schotten John Buchan ("Die neununddreißig Stufen") zu lesen sowie Mona Simpsons Erzählung "Dependents". Und der Historiker Christopher Browning, dessen Buch "Die Entfesselung der 'Endlösung'" nun auch auf englisch erscheint, erklärt in einem langen Gespräch, wie sich die "gewöhnlichen Deutschen" mit dem Holocaust arrangierten.
Archiv: The Atlantic

Literaturen (Deutschland), 01.03.2004

Im Schwerpunkt (leider nicht online) über "Uns Voyeure", die auf alles einen Blick erhaschen wollen und es doch nicht ertragen, selbst gesehen zu werden. Es ist schon ein wenig verwirrend, so Literaturen im Editorial, wenn sich jetzt die Justiz in diese urmenschlichen Knäuel einmischt, und einerseits Biografien und Sachbücher wegen Realitätsferne aus dem Umlauf gezogen werden müssen, während man die Literatur wegen allzu großer Realitätsnähe belangt. Angekündigt wird unter anderem ein Artikel von Heinrich Detering, der am Beispiel von Thomas Mann die großen Klassiker unter den Verteidigungsstrategien vorstellt, mit denen Autoren den Vorwurf der Indiskretion parieren.

Martina Meister beobachtet eine Trendwende auf dem französischen Buchmarkt. Jetzt heißt es nicht mehr "Sex Sells", sondern "War Sells". Nach dem Eros, der Thanatos, und zwar in Gestalt der "Grande Guerre" (dem Ersten Weltkrieg). "Wie kommt es, dass neunzig Jahre nach den Kriegsgräueln diese Erfahrung an die Oberfläche des kollektiven Unbewussten gelangt? Ist es nur das runde Jubiläum? Oder hängt es mit der Tatsache zusammen, dass das lebendige Gedächtnis bald verstummen wird? Sicher. Aber auch damit, dass die Schrecken des Ersten sehr bald durch die des Zweiten Weltkriegs überlagert wurden. Jetzt erst wird deutlich, dass es sich bei diesem Großen Krieg um eine Art Matrix der absoluten Gewalt gehandelt hat. Es war ein Krieg, der wie keiner vor ihm die neue Technologie mit den Elementen des archaischen Kampfes verband, das Gas und die große Artillerie mit dem Zweikampf von Angesicht zu Angesicht. Seine 1,5 Millionen Toten und 2,8 Millionen Verletzten werden erst jetzt als Vorzeichen eines buchstäblich gewaltigen Paradigmenwechsels entziffert."

Außerdem: Franz Schuh beglückwünscht Manuel Vazquez Montalban zu seinem herrlichen Kritikertod-Krimi "Undercover in Madrid", gegen den sich Martin Walser ausnehme wie ein harmloser "Heilsarmist", und verteidigt die Satire gegen ihre vermeintlichen Opfer: "Erst durch die Satire (in ihren vielen, auch nicht-literarischen Formen, zum Beispiel im bösartigen Tratsch) wird so etwas wie der Literaturbetrieb überhaupt erträglich."
Archiv: Literaturen

Outlook India (Indien), 01.03.2004

"Ablenkungen sind für die einfachen Leute bestimmt. Die Menschen müssen schließlich vor der Wirklichkeit bewahrt werden. Deshalb hatte der Römische Senat Gladiatoren. Deshalb hat die indische Regierung in einer Zeit, die allgemein als 'modern' bezeichnet wird, Männer mit demselben Berufsprofil. Im März werden sie nach Pakistan fahren und im Kollosseum Aufstellung nehmen, umgeben vom aufgepeitschten Publikum." Gemeint sind Indiens beste Cricketspieler, die im Namen der Diplomatie und zur Freude der Sponsoren beim Nachbarn antreten. Manu Josephs Titelgeschichte handelt von Sport, Politik und der Hoffnung auf einen historischen Sieg - die übrigens bei den Wahlstrategen der Regierungspartei BJP ganz besonders ausgeprägt ist.

Ansonsten: Saumya Roy stellt den Schauspieler Irrfan Khan vor, bis vor kurzem ein ewiges Talent mit zweitrangigen Fernsehrollen, doch seit seiner Hauptrolle im hochgelobten "Maqbool" (einer indischen Version von Shakespeares "Macbeth", mit zwei Polizisten als Hexen!) ein spät aufgegangener Stern am Himmel über Bollywood. (Hier ein Interview mit dem Mann in Time Asia). Und Soma Wadhwa offenbart in einem gründlich recherchierten Artikel, wie den Ärmsten von Indiens Armen systematisch eine anständige Schulbildung vorenthalten wird - und warum das die Kehrseite einer Bildungspolitik ist, die sich doch gerade das Recht auf Bildung für alle und die Chancengleichheit auf die wehenden Fahnen geschrieben hat.
Archiv: Outlook India

Radar (Argentinien), 22.02.2004

Quino lebt! Joaquin Salvador Lavado - "Quino" -, der Erfinder von Mafalda, der neben Charlie Braun weltweit wohl bekanntesten intelligenten Comicfigur, hat der mexikanischen Ausgabe des Playboy zu dessen 50. Jubiläum ein Interview gewährt, das Radar, die Wochenendbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12, entzückt abdruckt: "Früher hatten wir wenigstens Flash Gordon, um uns gegen Ming zu wehren. Heute gibt es nur noch Ming, und das ist George Bush. Dafür sind die Nordamerikaner zur Zeit mit einer anderen Gegend des Planeten beschäftigt, da lassen sie uns vielleicht einmal ungestört etwas Gutes mit unseren Ländern anstellen."

Luis Bruschtein stellt den Regisseur Miguel Rodriguez Arias vor und dessen gerade angelaufenen Film "El Nüremberg argentino", der den Prozess im Jahr 1985 gegen neun Mitglieder der argentinischen Junta dokumentiert. 530 Verhandlungsstunden wurden seinerzeit gefilmt - acht davon konnten Rodriguez Arias und sein Team aus den Archiven freikämpfen: "An der Erinnerung der Argentinier muss gearbeitet werden, da ist so viel Vergessen. Wichtige Rituale konnten nicht vollzogen werden, Begräbnisrituale. Der entscheidende Schritt bei der Ausbildung der menschlichen Kultur ist die Entwicklung von Sprache und Begräbnisritualen - Begräbnisrituale bilden den Anfangsbuchstaben im Alphabet der Kultur."

Ein Ritual neueren Datums seziert Rodrigo Fresan in seiner Besprechung der kürzlich von dem Dichter Robin Robertson vorgelegten Anthologie "Mortification: Writer's Stories of their Public Shame": Die immer stärker "Eventcharakter" annehmenden Dichterlesungen, deren Ursprung Fresan bei Charles Dickens und dessen ständiger Flucht vor der verhassten Ehefrau in öffentliche Vortragssäle verortet: "Jedenfalls beruht diese Angelegenheit auf einem Missverständnis: Wir wünschen uns, die von uns bewunderten Schriftsteller persönlich kennen zu lernen, und erwarten, dabei etwas Besonderes und Unverzichtbares zu erfahren, das unsere Lektüre erst vollständig macht. Wir halten den Autor für 'die wirkliche Sache', sein Buch dagegen für eine Art Auswuchs seiner Person. Während eigentlich das Buch 'die wirkliche Sache' ist, der Autor an sich aber eine Ablenkung, ein Missverständnis, eine Täuschung: jemand, den man lesen - hören -, aber nicht sehen soll."
Archiv: Radar

Moskowskije Novosti (Russland), 20.02.2004

In dieser Woche druckt Moskowskije Novosti ein sehr aufschlussreiches Interview mit Irina Chakamada, der selbsternannten liberalen Präsidentschaftskandidatin, die 2002 für die russische Seite mit den tschetschenischen Geiselnehmern im Musical-Theater Nord-Ost verhandelte. Chakamada bezeichnet die russische Staatsführung unter Wladimir Putin als "archaisch" und "vorsintflutlich", da sie "Gegner einfach unterdrückt und ausschaltet". Ein Machtwechsel sei "dringend nötig", um den Tschetschenienkrieg zu beenden. Man müsse endlich wieder Verhandlungen mit den Tschetschenen aufnehmen, zum Beispiel mit Aslan Maschadow. Es sei nicht bewiesen, "dass Maschadow hinter dem jüngsten Terroranschlag in der Moskauer U-Bahn steht, wie Präsident Putin vorschnell urteilte". "Maschadow ist zwar der Anführer der tschetschenischen Kämpfer", aber das heißt nicht, dass man ihn als Terroristen bezeichnen und von Verhandlungen ausschließen kann. Das Vorgehen in Tschetschenien sei "kein 'Kampf gegen den Terror', sondern ein regulärer Krieg, in dem zwei Kriegsparteien einander gegenüberstehen - die russische Armee und die tschetschenischen Kämpfer". Ohnehin sollte "ein moderner Staat durch weitsichtiges und zivilisiertes Handeln Stärke beweisen. Nicht imperiale Größe zählt, sondern das einzelne Menschenleben". Nach Chakamada zu urteilen ist es das Hauptziel des Terrorismus im 21. Jahrhundert, "die demokratische Ordnung auszuhebeln", und wenn "nach den Terroranschlägen in Amerika und in Russland demokratische Grundrechte eingeschränkt werden, dann haben die Terroristen ihr Ziel erreicht."

Times Literary Supplement (UK), 20.02.2004

Nicht weniger als "die Geschichte vor der Nation zu retten", Geschichte ohne Grenzen zu schreiben, versucht C.A. Bayly in "The Birth of the Modern World, 1780 - 1914", und David Arnold ist begeistert von diesem mutigen und brillanten Buch über Geschichte ohne Grenzen: "Bayly hat die seltene Fähigkeit, nicht nur Bedarf anzumelden, sondern die eigenen ambitionierten Versprechen auch zu erfüllen, mit skrupulöser Rücksicht auf die Komplexität seines Sujets. Sein Buch ist nicht einfach eine Beschreibung der Welt, die von Sarajewo über Stalin nach Hiroshima saust, sondern ein langer reflektierte Essay über die verschiedenen Bedeutungen und inhärenten Paradoxien der Modernität selbst."

Glänzendes Timing bescheinigt T.H. Breen Gore Vidal, der mit "Inventing a Nation", das leidenschaftliche und zornige Gegenstück liefert zu all den Hagiografien über die amerikanischen Gründerväter, die derzeit auf dem Markt sind. Deren tröstende Botschaft bestehe darin, meint Breen, dass, so unbefriedigend die derzeitig Regierenden sind, Washington und seine Kollegen keine Schuld trifft. "Vidal hat keine Verwendung für solch eine Nostalgie. In einer rasanten, höchst unterhaltsamen politischen Geschichte der 1790er stellt er die Gründungsväter als so etwas wie die Mitglieder einer dysfunktionalen Familie vor. Der Patriarch ist natürlich Washington, den die anderen zu bewundern vorgaben. Doch sobald sich seine Nachfolger daran machten, zu regieren und aus der Verfassung eine funktionierende Republik zu machen, wendeten sie sich gegeneinander. Vidal erzählt Geschichten von Verrat und Ehrgeiz, Neid und Launenhaftigkeit."

Gordon Bowker hat die jüngst veröffentlichten Polizeiakten zu Malcolm Lowry ("Unter dem Vulkan") gewälzt, der 1957 tot in seinem Cottage aufgefunden wurde, vollgepumpt mit Alkohol und Tabletten. Seine Frau, Witwe eines Mannes, der leider auch, vollgepumpt mit Alkohol und Tabletten, ums Leben gekommen ist, gab eine ausgesprochen unglaubwürdige Zeugin ab. Nach dem Aktenstudium weiß Bowker nun, dass die Polizei absolut nichts weiß. Befriedigend findet L. G. Mitchell allerdings John Brewers "A Sentimental Murder": Eindeutig ein Mord aus Leidenschaft.

Economist (UK), 20.02.2004

Der Economist berichtet über eine äußerst interessante Langzeitstudie, die Aufschluss über das menschliche Sprachvermögen geben könnte. Über 30 Jahre hinweg beobachtete Ann Sengha, wie sich die Zeichensprache Nicaraguan Sign Language (NSL), die in den Siebzigern an einer Schule für Gehörlose entstand, weiterentwickelt und verändert hat. Bei einem Experiment mit "Sprechern" verschiedener Generationen wurde ermittelt, inwieweit und inwiefern sich NSL im Laufe der Zeit ausdifferenziert hat. Die Testpersonen wurden gebeten, Bildbeschreibungen von verschiedenen Bildern zu liefern, die sich lediglich in der Anordnung (etwa links oder rechts) der abgebildeten Objekte unterschieden, woraufhin die übrigen Personen entscheiden sollten, welches Bild jeweils gemeint war. "Die älteren Personen, die die frühe Form von NSL gelernt hatten, waren weder in der Lage, deutlich zu machen, welches Bild gemeint war, noch die Signale ihrer jüngeren Partner zu verstehen. Und ihre jüngeren Partner vermochten auch nicht, ihnen die Zeichen für links und rechts beizubringen."

"Kleinwüchsige Terroristen als Gartenzwerge verkleidet!" - Der Economist würdigt Eddie Clontz, den kürzlich verstorbenen und langjährigen Chefredakteur des Boulevardblatts Weekly World News, als Meister der Groteske, bei dem man nie wusste, ob er nicht einfach nur das Unwahrscheinliche wahrscheinlich machte: "Unter dem Pseudonym 'Ed Anger' schrieb er in der News eine so vitriolhaltige und rechts-gesinnte Kolumne, dass sie möglicherweise aus der linken Ecke kam. Anger hasste Ausländer, Yoga, Wale, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Ananas auf der Pizza; er mochte Prügel, den elektrischen Stuhl und Bier. Nein, hätte Eddie Clontz gesagt, er habe keine Ahnung, wer dieser Anger sei. Aber er sei 'ihm ungefähr so nah wie jedes menschliche Wesen'."

Angesichts der zu erwartenden Kontroverse um Mel Gibsons Passionsfilm (der diese Woche in den amerikanischen Kinos anläuft), gibt der Economist zu bedenken, dass bislang nur die kontroversen Jesus-Filme gute Jesus-Filme waren.

Außerdem lesen wir, wie ganz normale Israelis und Palästinenser ihre Lage einschätzen, wie man "Sushi bar" auf Lateinisch sagt ("taberna Iaponica pulpamentorum incoctorum marinorum" - dies und viel mehr findet man in Henry Beards unendlich unterhaltsamem "X-Treme Latin: Unleash Your Inner Gladiator"), warum sich die Londoner Polizei lieber nicht ihre Methoden von den New Yorker Kollegen abgucken sollte, dass es mit der europäischen Duldsamkeit gegenüber Russland ein Ende hat. Der Aufmacher analysiert den Streit um die Verlegung amerikanischer Arbeitsplätze nach Indien.
Archiv: Economist
Stichwörter: Gibson, Mel, Nicaragua, Yoga, Gehörlos

Spiegel (Deutschland), 23.02.2004

McKinsey hat die neue Liebe der Deutschen zum Discount untersucht. Alexander Smoltczyk war bei der Präsentation der Ergebnisse im 20. Stock des Japan-Towers in Frankfurt dabei, und hat etwas gelernt: "Die Mitte ist tot. Das ist die Botschaft von Aldi, hervorgezaubert von den Gutbetuchten im 20. Stock: Hinter der Banalität des Billigen verbirgt sich ein Versagen. Ein Versagen der Eliten hinter dem Ladentisch. Der deutsche Supermarkt, die Ikone des Wirtschaftswunders, hat den Kontakt zum Volk verloren. Der Deutsche will kein Drumherum. Der Deutsche will Führungsstärke am Regal. Er will klare Verhältnisse auf dem Etikett und Ehrlichkeit im Angebot. Aldi und Lidl haben verstanden, was Rot und Grün bis heute ein Rätsel geblieben ist."

Außerdem: In diesem Jahr jährt sich zum sechzigsten Mal das gescheiterte Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944, und im nächsten Jahr das Kriegsende. Nikolaus von Festenberg gibt einen Überblick über die bereits abgedrehten und noch geplanten Kino- und Fernsehproduktionen von unter anderem Heinrich Breloer, Jo Baier, Lutz Hachmeister und Dominik Graf. Als Hitler versuchen sich Bruno Ganz, Udo Schenk und der gebürtige Tiroler Tobias Moretti - "auch eine deutsche Rache an Österreich, schließlich kam der braune Bösewicht aus der stickigen Inzestwelt des Innviertels, wohin Maria Theresia einst ihre Tunichtgute geschickt hatte".

Nur im Print: Botho Strauß' Reflexionen "über Gene, Liebe und die Verbrechen der Intimität". Die Texte erscheinen demnächst unter dem Titel "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" bei Hanser. Außerdem gibt es zwei Interviews: mit der für den Oscar nominierten deutschen Regisseurin Katja Esson und mit dem Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein. Schließlich wundert sich der Spiegel über den Wirbel um Sibel Kekillis "Porno-Vergangenheit": "So freizügig sich eine Gesellschaft auch gibt - pseudoprüde Empörung zieht immer noch." Wohl aus diesem Grund konnte es der Spiegel nicht lassen, eins der Porno-Foto aus der Bild-Zeitung abzudrucken.

Der Rosenmontags-Titel fragt, angesichts der vielen Polit-Pannen der letzten Monate: "müssen wir die Karnevalisierung der Politik mit Humor nehmen?"
Archiv: Spiegel

Nouvel Observateur (Frankreich), 19.02.2004

Im Gespräch mit dem Novel Obs diskutieren Bernard Kouchner, Gründer von Medecins sans Frontieres, und der ehemalige französische Außenminister Hubert Verdrine Kouchners neues Buch "Les Guerriers de la paix" (Grasset), in dem er Einmischung und Intervention zugunsten bedrohter Völker oder Volksgruppen verteidigt. Kouchner vertritt die These, dass man die Souveränität von Staaten nur dann respektieren müsse, wenn diese auch "respektabel" seien. "Solche Staaten bringen ihr Volk nicht um! (...) Ich respektiere die souveränen Staaten, aber ich glaube an die kontrollierte Globalisierung der Demokratien und ihrer Menschenrechte. Wir sind auf dem Weg zu einer neuen, weltweiten, geteilten Souveränität."

Außerdem bringt der Obs Auszüge aus den Erinnerungen des polnischen Lyrikers und Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz (mehr), die in Frankreich als "Abecedaire" (Fayard) erscheinen. Besprochen werden mehrere Veröffentlichungen anlässlich des 700. Geburtstags von Petrarca, eine Studie über die Situation der Wissenschaften während der deutschen Okkupation und ein umfangreiches französisch-englisches Wörterbuch der Redensarten.

New Yorker (USA), 01.03.2004

"Das Leben ist kompliziert, seine Möglichkeiten zahlreich und der menschliche Intellekt ist begrenzt", weiß Christopher Caldwell, der Trost und Erklärung in Barry Schwartz' Buch "The Paradox of Choice" gesucht und gefunden hat. Schwartz nämlich zeigt, dass es gerade die vielen Möglichkeiten sind, die uns demotivieren. "Eine einzige Möglichkeit zu viel reicht aus, uns vollständig zu lähmen", hat Caldwell erfahren. "Dies hilft auch zu erklären, warum so viele Leute noch mit dreißig versuchen, sich für eine Karriere zu entscheiden. Oder warum so viele Heiratswillige als einsame Singles enden."

Weiteres: Elizabeth Kolbert nimmt New Yorks Bürgermeister und "nicht so tollen Kommunikator" Michael Bloomberg vor seinen schlechten Umfragewerten in Schutz: "Die Einwohner einer gebeutelten Stadt haben einen Mann ohne relevante Erfahrung gewählt, um sie aus der Krise zu führen. Er macht seine Sache weitaus besser, als sie mit gutem Recht erwarten dürfen, und genau dafür bestrafen sie ihn." Alec Wilkinson ist mit Country-Sänger Lyle Lovett zur Stätte seiner Ahnen gereist - nach Klein, Texas, gegründet von dem deutschen Auswanderer Adam Klein, Lovett Ur-Urgroßvater mütterlicherseits. Paul Slansky begeht die elfhundert Tage, die George W. Bush jetzt im Weißen Haus sitzt, mit einem kleinen Quiz. Philip Gourevitch meldet sich ein wenig ermüdet vom Campaign Trail der Demokraten: John Edwards halte ständig dieselbe Rede, und John Kerry sehe immer noch aus wie eine "Reiterstatue". Nach einem Bummel durch die neuen Shops am Columbus Circle, die sich als eine Art "rue des marches" auf hochwertige, aber schnell vergängliche Lebensmittel spezialisiert haben, stellt Adam Gopnik fest: "Unser Vertrauen in den Konsum mag so stark wie eh und je sein, nur unser Vertrauen in die Zukunft ist ein wenig erschüttert."

Besprochen werden Thomas Ades' Oper "The Tempest", David Edmonds' and John Eidinow' Buch "Bobby Fischer Goes to War: How the Soviets Lost the Most Extraordinary Chess Match of All Time", das allerdings einmal mehr beweise, dass sich Schach und Prosa nicht gut vertragen, und neue Theaterstücke von Terrence McNallys "Prelude and Liebestod" bis zu Paul Weitz' "Roulette".
Archiv: New Yorker

Espresso (Italien), 26.02.2004

Recht vergnüglich geht es bei Umberto Eco zu, der seine Bustina mit neu interpretierten Roman- und Filmtiteln füllt. Alle haben natürlich etwas mit der für Eco oft gar nicht so fröhlichen italienischen Gegenwart zu tun. Kostprobe gefällig? "Die Kartause von Parmalat (Stendhals Original hier) - Aufstieg und Fall des Fabrizio vom Bingo, eines jungen Hasardeurs, der kein Risiko scheut. Illustrationen aus den 'Totentanzi' von Holbein (so sieht der Totentanz aus). Der schwarze Korsar (das italienische Vorbild hier) - Anthologie des Buchs der Träume von Silvio Berlusconi."

Enrico Pedemonte malt ein Stimmungsbild der USA im Jahre vier nach Bush und spürt ein Beben, das vor allem von den jungen Bevölkerung ausgeht und den Texaner aus dem Sattel heben könnte. "Es ist ein diffuses Gefühl, greifbar noch am ehesten innerhalb der städtischen Intelligenz von New York und Boston, das da unter den Jüngeren heranwächst. Es ähnelt dem tauben Groll, der den Geist des antiberlusconischen Italien nährt. Während Italien aber noch nie von einem patriotischen Geist erfüllt wurde, könnte dieser Nationalstolz das Zeichen eines beispiellosen Bruches sein."

Im gesellschaftlichen Teil meditiert Monica Maggi über die absatzsteigernde Enthüllung Janet Jacksons, während Daniela Giammusso Jennifer Aniston huldigt, Sie wissen schon, die Schauspielerin, die "berühmt ist für ihre honigfarbenen Haare" man könnte auch einfach blond sagen).
Archiv: Espresso

New York Times (USA), 23.02.2004

Es ist Wahlkampf in den USA, und auch die Literaturredaktion der York Times trägt ihr Scherflein dazu bei. Stolze acht Bücher stellt Ethan Bronner im Aufmacher vor, alle kritisieren die Missachtung der Bürgerrechte wie der Privatsphäre nach dem 11. September. "Die meisten legen den Schwerpunkt auf die Gesetzesänderungen, die Bush-Regierung und Kongresses im Namen der Terrorbekämpfung durchgesetzt haben. Die Autoren behaupten, dass die Änderungen die Sicherheitslage nur wenig oder gar nicht verbessern und eher dem Machtzuwachs einer paranoiden, machthungrigen Regierung dienen. Dies sind ernstzunehmende und zunehmend bekannte Vorwürfe, und es ist hilfreich, sie einmal etwas ausführlicher zu diskutieren und sie historisch einzuordnen, wie es die besten der vorgestellten Bücher auch tun. Der zweite Problemkreis, der in diesen Büchern angesprochen wird, geht über die Bürgerrechte hinaus und geht dem auf den Grund, was wir heute unter Privatsphäre verstehen."

Charles Taylor nutzt die Besprechung von Ian Rankins neuem Krimi "Question of Blood" (erstes Kapitel), um die neue schottische Schriftsteller-Generation um Val McDermid, Denise Mina und Louise Welsh zu preisen, die "dieses Genre gerade am stärksten prägen und voranbringen". Ranking selbst steche durch seine Realitätsnähe heraus, etwa in der Beschreibung der Polizeiarbeit, am meisten beeindruckt hat Taylor aber, dass der Autor "uns am Schluss mit einem größeren Rätsel zurücklässt als zu Beginn des Buches".

"Ich kann mir nicht helfen", stöhnt Michel Tomasky über Douglas Brinkleys "Tour of Duty" (erstes Kapitel), aber das schnellgeschriebene Buch über John Kerry und den Vietnam-Krieg "scheint mir weniger eine historische Arbeit zu sein als eine Wahlempfehlung für Präsident Kerry". Sharon Waxman kann Peter Biskinds "Down and Dirty Pictures" (erstes Kapitel) über Harvey Weinstein, Sundance und das unabhängige Kino nur bedingt empfehlen, aber immerhin sei Biskind einer der Wenigen, die Hollywoods Entertainment-Industrie zumindest mit einem Minimum an Ernsthaftigkeit zu interpretieren versuchen. Und Laura Miller lüftet in einem informativen Letzten Wort den großen Betrug rund um den Da-Vinci-Code, mit dessen verführerischer Plausibilität sich Dan Brown gerade eine goldene Nase verdient.

Hingewiesen sie außerdem auf das New York Times Magazine und Deborah Solomons großes Porträt von Roy Disney, dem lange stillen Neffen von Walt Disney, der jetzt zu einem Kreuzzug aufgebrochen ist, um das Imperium wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Archiv: New York Times