Magazinrundschau

Diese ätzende Eloquenz simpler Zahlen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.04.2011. In der NYRB bewundert Zadie Smith Christian Marclays 24-stündige Filmmontage "The Clock". Geisteswissenschaft ist keine rhetorische Meinungsäußerung, erklärt Andras Balint Kovacs in Elet es Irodalom. Der New Yorker lässt sich erklären, warum Chinesen Europa bereisen. In Micromega streiten sich Jean-Luc Nancy und Alain Badiou über die Intervention in Libyen. Reuters erklärt, warum Rupert Murdoch mit MySpace scheiterte. In Open Demcracy antwortet Irina Borogan auf Andrej Kontschalowskis Behauptung, nicht Gorbatschow, sondern Andropov habe mit dem sowjetischen Totalitarismus aufgeräumt.Die NYT bespricht Deborah E. Lipstadts Buch über den Eichmann-Prozess.

New York Review of Books (USA), 28.04.2011

Den vielleicht großartigsten Film ihres Lebens hat Zadie Smith in der Paula Cooper Gallery in New York gesehen, mit Sicherheit aber den längsten: Christian Marclays 24-stündige Montage "The Clock" schneidet Momente aus der Kinogeschichte so zusammen, dass sie in einen realen Zeitfluss übergehen: "Film setzt den Kampf mit der Zeit immer wieder und dramatisch in Szene: Außer im Film verliert die Zeit. Wir siegen. Erzählung siegt. Wir fesseln einen Mann, knebeln ihn und lassen die Uhr ticken - aber wir entscheiden, wie schnell oder langsam sich die Uhr bewegt. Lege die Zeit fest - eine Notiz aus einem Thriller. Und dies ist die ganze Herausforderung und Illusion von Film. Ohne gibt es keine Geschichte, keinen Film. Wenn wir Marclay glauben, ist keine Aufnahme so gängig, wie der verzweifelte Close-up auf ein Ziffernblatt. Lege die Zeit fest. Aber die festgelegte Zeit war bisher immer eine Fantasie, eine Fiction. 'The Clock' ist der erste Film, in dem Zeit real ist."

Die Juristen Bruce Ackerman, Yochai Benkler und andere protestieren in einer Erklärung gegen die entwürdigende und inhumane Behandlung des früheren Gefreiten Bradley Manning, dem vorgeworfen wir, die geheime Militär-Unterlagen Wikileaks zugespielt zu haben: "Seit neun Monaten ist Manning für 23 Stunden am Tag in seine Zelle eingesperrt. Während der einen verbleibenden Stunde darf er in einem anderen Raum im Kreis laufen, kein anderer Gefangener ist dabei anwesend. Ihm ist nicht erlaubt, am Tag zu schlafen oder sich zu erholen, sondern muss alle fünf Minuten verbal und bestätigend auf die Frage antworten 'Geht es Ihnen gut?'. Nachts wird er geweckt und immer wieder gefragt 'Geht es Ihnen gut?', wenn er der Zellentür seinen Rücken zuwendet oder seinen Kopf unter die Decke steckt, so dass die Wachen sein Gesicht nicht sehen können. Während der vergangen Woche war er gezwungen, nackt zu schlafen und bei Inspektionen nackt vor seiner Zelle zu stehen."

Außerdem: Jeff Madrick liest eine Reihe von neueren Studien, die einmal belegen, dass die Finanzkrise von Bankern verursacht wurde, nicht von fehlerhaften Computerprogrammen oder zyklischen Marktverwerfungen. Alma Guillermoprieto feiert Diana Kennedys über fünfzig Jahre hinweg erstellte Sammlung mexikanischer Rezepte "Oaxaca al Gusto".

Elet es Irodalom (Ungarn), 08.04.2011

Geisteswissenschaftliche Bildung und Disziplinen haben in den vergangenen fünfzig Jahren derart an wissenschaftlichem Prestige eingebüßt, dass eine grundlegende Erschütterung dieses Wissenschaftszweigs zu befürchten ist, meint der Filmwissenschaftler Andras Balint Kovacs. Gerechtfertigt sei das nicht: "Die Geisteswissenschaften sind Wissenschaften wie jede andere auch. Sie unterscheiden sich von den Naturwissenschaften nicht prinzipiell, sondern nur in ihrer Praxis. Ihre Probleme sind real, theoretisch beantwortbar und gehören nicht in den Bereich des Mysteriums oder der individuellen Meinung. Die Geisteswissenschaft ist keine rhetorische Meinungsäußerung, sondern die Selbstreflexion des menschlichen Denkens."

London Review of Books (UK), 14.04.2011

Steuerparadiese sind ein Riesenproblem für jede Volkswirtschaft, weil sie einen unfairen Druck nach unten ausüben. David Runciman liest zwei Bücher, die zum Thema recherchieren, und muss feststellen: "Die meisten erfolgreichen Steuerparadiese dieser Welt sind Teil der ehemaligen oder sogar noch aktuellen britischen Einflusssphäre. Dazu gehören Hongkong, die Kanalinseln und verbleibende Überseeterritorien wie die Cayman Islands. Solche bieten zugleich reduzierte oder auf null eingedampfte Steuerraten, extrem laxe Regulierungen, eine schwache Lokalpolitik und eine respektable Außenseite und Rechtssicherheit. Anleger sind am glücklichsten, wenn sie ihr Geld an Orten unterbringen können, die einer Rechtsprechung wie der britischen unterliegen, ohne ihre Gesetze und Regulierungen (oder gar Steuerraten) zu übernehmen."

Weitere Artikel: In einer leicht unheimlichen Geschichte erzählt Ian Thomson von einer schweren Schädelverletzung, die er erlitten hat, als er in den achtziger Jahren in Rom lebte - ob er geschlagen wurde oder hinfiel, weiß er bis heute nicht. Und Jenny Turner liest David Foster Wallaces nachgelassenen Roman "The Pale King".

Eurozine (Österreich), 06.04.2011

Verlage, aufgemerkt! "Die flämische Literatur ist im 21. Jahrhundert angekommen, und die Welt sollte das wissen", verkündet Tom Van Imschoot. Sie hat sich von ihrem Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Niederlanden befreit und eine total individualistische Betrachtungsweise entwickelt. Die einzige Gemeinsamkeit: ein eher realistischer als postmoderner Ansatz. Wenn Imschoot eine Reihe von Autoren aufzählt - Annelies Verbeke, Stefan Brijs, Dimitri Verhulst, Erwin Mortier, Bernard Dewulf, David Van Reybrouck, Yves Petry, Jeroen Theunissen, David Nolens - müssen wir allerdings betrübt feststellen, dass außer Annelies Verbeke und Erwin Mortier keiner dieser Autoren in den letzten elf Jahren bei uns besprochen wurde.

Außerdem: Eurozine gibt bekannt, dass es für den europäischen Civis Medienpreis nominiert ist. Verdient haben sie absolut jeden Preis!
Archiv: Eurozine

New Yorker (USA), 18.04.2011

Evan Osnos begibt sich mit einer Gruppe chinesischer Touristen auf eine Bustour durch Europa: fünf Länder in zehn Tagen. Zhu Zhongming, ein 46-jähriger Buchhalter, erklärte ihm unterwegs, "dass Chinesen eine ganz persönliches Motiv haben, Europa zu besuchen: 'Als Europa die Welt regierte, war auch China stark. Warum sind wir zurückgefallen? Wir denken immer darüber nach.' Tatsächlich zieht sich die Frage, warum eine Zivilisation, die sechshundert Jahre vor Gutenberg die Druckerpresse erfunden hatte, im fünfzehnten Jahrhundert zurückfiel, wie ein zentraler Nerv durch Chinas Analyse der Vergangenheit und der Aussicht, verlorene Größe zurückzugewinnen."

Außerdem: Anthony Lane sah Robert Redfords Film "The Conspirator" über die Ermordung Abraham Lincolns. Nur im Print: Keith Gessen schickt einen Brief aus Astana, der Hauptstadt Kasachstans. Und Jonathan Franzen denkt über "Robinson Crusoe" und die Kunst der Einsamkeit nach.
Archiv: New Yorker

MicroMega (Italien), 04.04.2011

Micromega druckt einen Streit zwischen den Philosophen Jean-Luc Nancy, der noch im März zur Intervention in Libyen aufrief, und Alain Badiou, der eine ganz eigene Theorie zu den Ereignissen entwickelt. Er hält die Aufstände in Libyen für eine Inszenierung der jetzt intervenierenden Länder: "Wusstest du denn nicht, dass die französischen und englischen Geheimdienste schon im vergangenen Herbst versuchten, den Sturz Gaddafis zu organisieren? Ist dir nicht aufgefallen, dass in Libyen, anders als in den anderen Ländern, Waffen unbekannter Herkunft aufgetaucht sind?... Ist dir nicht zu Bewusstsein gekommen, dass in keinem anderen Land der Westen zu Hilfe gerufen wurde? Dass Leute wie Sarkozy und Cameron, deren Ziele bekanntermaßen düster sind, mit Applaus gefeiert wurden? Und du hast ihnen sogleich deine Untetstützung gegeben!"

Außerdem auf MicroMega: Zygmunt Baumann versucht, sich den Erfolg von Facebook zu erklären.
Archiv: MicroMega

Reuters (USA), 07.04.2011

Die Revolution frisst ihre Käufer! In einer hervorragend recherchierten Geschichte erzählt Yinka Adegoke, wie Rupert Murdoch mit dem sozialen Netzwerk MySpace, das er 2005 kaufte, scheiterte. "Interviews mit Managern von MySpace und News Corp zeigen eine unüberwindliche kulturelle Spaltung, die die Probleme der einst dominanten Website noch verschärfte und ihren Verfall beschleunigte. MySpace ist längst ausgestochen von einem Rivalen, den Murdoch einst einen 'Kommunikationsdienst' nannte - Facebook. Viele Mediengesellschaften haben sich bei ihren Versuchen, im Internetzeitalter anzukommen, verrannt. Aber wenige hatten in eine so prominente Firma investiert wie MySpace. Seit dem Desaster der Fusion von AOL und Time Warner war keine Medienpartnerschaft schärfer beobachtet worden." Die für 2012 avisierten Ergebnisse sagen alles: MySpace rechnet mit Werbeeinahmen von 156 Millionen Dollar. Facebook, das zum Zeitpunkt des MySpace-Kaufs viel kleiner war, projiziert Einnahmen von 5,7 Milliarden Dollar. Interessant in diesem Zusammenhang: ein Blogeintrag von Chris Dixon über die möglichen Strategien von Google gegen Facebook.
Archiv: Reuters

Magyar Narancs (Ungarn), 31.03.2011

Der Staatssekretär im ungarischen Ministerium für innere Verwaltung und Justiz Andras Levente Gal hat kürzlich in einem Interview gefordert, die Ausstellung im Budapester Holocaust-Museum "umzuwerten". Gal stört sich an der Auffassung, dass der ungarische Staat an der Verfolgung der Juden maßgeblich beteiligt war. Der Publizist György Vari hält dies für eine Anmaßung: "Der Herr Staatssekretär will die Vergangenheit nicht verstehen, sondern befehlen. Wieder durften wir erleben, dass ein Regierungsbeamter uns den richtigen Kanon der historischen Erinnerung vorschreiben will. [...] Der Herr Staatssekretär würde die Chance der nationalen Selbsterkenntnis offenbar am liebsten im Keim ersticken. Er will jene schmerzhafte Dualität unter den Teppich kehren, dass, wenngleich der Friedensvertrag von Trianon sehr ungerecht war, der Revisionismus der Horthy-Ära zu nicht minder tragischen nationalen Katastrophen führte."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Kanon, Teppiche, Holocaust-Museum

New Republic (USA), 05.04.2011

Gerade ist Imre Kertesz' Roman "Fiasko" ins Englische übersetzt worden, und Adam Kirsch macht zwei wesentliche Einflüsse aus: Kafka und Beckett. Beckett war einfach: "Der Plot des ersten Teils von 'Fiasko' stammt direkt von Becketts Stück 'Krapp's Last Tape'. Nach Inspiration suchend, kramt der Alte in seinen Aufzeichnungen und liest in alten Notizen und Erinnerungen, nur um ihre prätenziöse Prosa mit brummelnden Bemerkungen abzutun - genau wie Krapp es tut, während er seinen auf Tonband aufgenommenen Erinnerungen lauscht. Der Effekt dieser Selbstunterbrechungen - 'Aha!', 'Mein Gott!' - hängt ab von einem sicheren Gefühl für Timing und die Komik der Wiederholung, über das Kertesz glücklicherweise verfügt. Aber während Beckett etwas Neues in Kertesz ungarische Prosa gebracht haben muss, zeigt die Übersetzung dieser Prosa ins Englische nur, wieviel sie Beckett schuldet. Im Ergebnis klingt 'Fiasko' in der Übersetzung wohl eher vertrauter als im Original - eine ironische Wirkung literarischer Einflüsse."
Archiv: New Republic
Stichwörter: Kertesz, Imre, Tapes

Open Democracy (UK), 08.04.2011

Nicht der naive Gorbatschow, sondern der mit allen KGB-Wassern gewaschene Juri Andropov hat mit dem sowjetischen Totalitarismus aufgeräumt, behauptete kürzlich der Filmregisseur Andrej Kontschalowski. Ach ja? Tatsächlich wurde Andropov von Putin seit 2000 als positiver Held aufgebaut, um die immer größere Rolle des KGB in der postsowjetischen Gesellschaft zu rechtfertigen, antwortet die Journalistin Irina Borogan, der das alles sehr bekannt vorkommt: "Es ist bezeichnend, dass Andropovs neues Image mit den selben Methoden geschaffen wurde, die in den Achtzigern den Kult um Dscherschinski zu neuem Leben erweckten, und mit den selben Absichten: Um die Einmischung des Geheimdienstes in die Wirtschaft zu rechtfertigen. In der sowjetischen Propaganda wurde der Chef der Tscheka, berüchtigt für die Entfesselung des Massenterrors, als bescheidener Mann präsentiert, der auf einem Eisenbett schlief und nur aß, um nicht zu verhungern. Er wurde als Mann präsentiert, der die Eisenbahnlinien und die Wirtschaft wieder aufbaute. Jede Diskussion über Dscherschinskis Hauptbeschäftigung - die Verfolgung von Klassenfeinden - wurde ersetzt durch eine Beschreibung seiner persönlichen Eigenschaften. Nur ausgewählte positive Details aus seinem Berufsleben wurden der Öffentlichkeit präsentiert. Das selbe Muster wurde benutzt, um in den 2000ern einen Kult um Andropov zu erschaffen."

Es ist richtig, Kontschalovski zu widersprechen. Es ist sinnlos, sich über ihn zu ärgern. Leihen Sie sich "Runaway Train" aus der Videothek Ihres Vertrauens aus, knirsch.


Archiv: Open Democracy

New York Times (USA), 10.04.2011

Die Historikerin Deborah E. Lipstadt (Blog) hat ein Buch über den Eichmann-Prozess geschrieben. Drei Dinge hebt Franklin Foer in seiner Besprechung besonders heraus: Lipstadt schafft es, Hannah Arendt bis fast zum Ende praktisch herauszuhalten und so einen frischen Blick auf den Prozess zu werfen. Sie hält fest, wie wichtig der von Arendt so schlecht behandelte Ankläger Gideon Hausner war, weil er die Zeugenaussagen erzwungen hat, die die Einstellung der israelischen Juden auf ihre europäischen Brüder, die sie bis dahin für Schwächlinge gehalten hatten, grundlegend verändert hat (Gil Yaron hat das gerade auch in der FAZ beschrieben). Und Lipstadt ruft in Erinnerung, wie die Situation damals generell war: Der Westen lehnte die Entführung Eichmanns durch den Mossad ab. "Argentinien forderte seine Rücküberführung, und das amerikanische Establishment stimmte zu. Die Meinungsseite der Washington Post verurteilte Israels 'Dschungelgesetze'. Der Christian Science Monitor verglich Israels Verhalten mit dem der Nazis. William F. Buckley Jr. meinte, die Entführung sei symptomatisch für die jüdische 'Weigerung zu vergeben'. Sogar das American Jewish Committee forderte den israelischen Premierminister David Ben-Gurion auf, den Prozess an ein deutsches oder internationales Gericht abzugeben. Aber die Kritik machte Ben-Gurion nur zu einem noch energischeren Verfechter des Prozesses."

Dieses Buch ist ein Dokument journalistischen Heldenmuts, schreibt ein tief beeindruckter Dwight Garner über Anna Politkowskajas nachgelassene Reportagefragmente in "Is Journalism Worth Dying For?". "Hören Sie nur diese ätzende Eloquenz simpler Zahlen: 'Sie wollen nicht wissen, welches Kennzeichen zum Beispiel der gepanzerte Truppentransporter hatte, in dem maskierte Personen Umkhanov und Isigov entführten, ohne nur einen Blick auf ihre Pässe zu werfen. Es war die Nummer 4025. Sie wollen auch nicht wissen, welche Funknummer das Auto hatte, 88. Oder die des befehlshabenden Offiziers der Entführung, 12. Das Kennzeichen des Militärfahrzeugs, dass die Entführung begleitete, war 0 1003 KSH.' Sie hat nichts ausgelassen, um die Straftäter in den Schwitzkasten zu nehmen."

Und: Im NYT-Magazine schreibt Rob Walker über das Radioprogramm "Radiolab", das die Möglichkeit von Podcasts nutzt, um ein Programm zu machen, das andauernde, ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert.
Archiv: New York Times