Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2003. In der NZZ sehen wir Alfred Brendel Hammerköpfe küssen. Die SZ sucht das Erkenntnisgift in Vergleichen a la Barbarossa=Saddam=Hitler. In der FR plädiert Judith Butler gegen eine Beteiligung der USA am Wiederaufbau des Irak. Die taz feiert einen Bildungsroman mit Landei. Die FAZ beschreibt den Katzenjammer der französischen Linken.

NZZ, 22.04.2003

An sich sind Geburtstagsartikel ja nicht unsere Sache, aber diesmal hat die NZZ ein originelles Jubiläum gewählt. Der Steinway-Flügel wird 150. Alfred Brendel höchstselbst zeigt in einem Dithyrambus, dass er mindestens so gut dichten wie Klavier spielen kann: "O heiliger Steinway Engelsteufel aus Hamburg und New York lass uns Deine Hammerköpfe küssen Deinen Resonanzboden an die klopfende Brust drücken."

Aber auch bei den berühmten Klavierbauern laufen die Geschäfte nicht so, wie man's gern hätte, stellt Sieglinde Geisel in einem interessanten Hintergrundtext fest: "Ein Flügel ist kein Auto, aber er ist doch eine Maschine. Deshalb kann man ihn, im Gegensatz etwa zur Geige, auch nicht als Einzelstück herstellen. In jeder Rezession gehört das Klaviergeschäft zu den verwundbarsten Branchen, und so ist es fast ein Wunder, dass dieses anachronistische, mythenlastige Geschäft immer noch existiert."

Christina Erck verfasst eine offene Schadensbilanz nach dem Museumsraub in Bagdad: "'So schlimm wie diesmal war es seit 700 Jahren nicht mehr'. 1258 erstürmten die Mongolen Bagdad. Der Tigris, hieß es, sei rot gefärbt gewesen vom Blut der Toten und blau von der Tinte der zahllosen Manuskripte aus der weit über die Grenzen des Landes hinaus berühmten Bibliothek, die die Eroberer zerrissen in den Fluss geworfen hatten. In den Augen der Archäologen ist nun einmal mehr ein Stück aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgt worden."

Weitere Artikel: Andrea Köhler besucht die Schriftstellerin Paula Fox in New York und spricht mit ihr unter anderem über ihr Leben und ihr neuestes Werk "In fremden Kleidern": "Von der ebenso herrischen wie hysterischen Mutter gleich nach der Geburt abgeschoben und von einer Person zur andern, von einer Station zur nächsten katapultiert, erfuhr Paula Fox die ersten Lebensjahre als eine einzige Einübung in die Verlorenheit. Im Gebäude ihrer strengen Kompositionen hat sie der Verstörung der frühen Jahre nuancierte Seelenräume geöffnet, Räume, in denen die Ängste und Irritationen, Hass, Sehnsüchte und Empfindlichkeiten im Schutz der ästhetischen Form ihr ambivalentes Echo entfalten können." Hanno Helbling bringt uns die Enzyklika von Papst Johannes Paul II. näher.

Besprochen werden: die Uraufführung "Lieber nicht. Eine Ausdünnung" des sich verweigernden Christoph Marthaler an der Volksbühne Berlin, "Mendy - das Wusical" von Helge Schneider (mehr hier) in Bochum mit der erschütternden Botschaft "Tiere sind auch nur Menschen!", eine Ausstellung in der Neuen Synagoge in Berlin, Evelyn Schlags blasse Dreiecksgeschichte in Zeiten des Internets "Das L in Laura" und Patricia Dunckers leider nicht irritierendes Buch "Der tödliche Zwischenraum" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 22.04.2003

In einer "Betrachtung über den Vergleich als Erkenntnisgift" beschäftigt sich Gustav Seibt mit allfälligen Gleichungen a la "Barbarossa=Saddam=Hitler". "Die Fülle der untereinander gar nicht zu vereinbarenden Vergleiche aus alter, mittlerer und neuer Geschichte beweist vor allem eins: Wir kennen uns nicht aus. (...) Nun wiederholt Geschichte sich nicht, und zwar schon deshalb, weil sie sich im Licht des Bewusstseins abspielt. Und zu dieser Bewusstheit gehören nicht zuletzt auch die Vergleiche mit historischen Konstellationen: Einmal erkannt, verlieren die Parallelen ihre Berechenbarkeit, weil nun ein neuer Faktor hinzutritt, die Kenntnis des früheren Ablaufs."

Andrian Kreye analysiert die Probleme der amerikanischen Friedensbewegung, eine eigene Ikonografie zu entwickeln. Er macht dahinter die alte Furcht vor dem Pop aus, jenen "inneren Konflikt, mit dem sich nicht nur die amerikanische Linke so oft selbst ein Bein stellt. Es ist jener Moment, in dem sich die alten Dogmen regen, die noch nicht von neuen Visionen exorziert werden konnten. Da erstarrt die Opposition in Trotzhaltung, Konsumkritik wird zur freudlosen Askese." Sie wüssten besser Bescheid, wenn sie die deutschen Fueilletons läsen!

Weitere Artikel: In Reaktion auf die jüngste Enzyklika des Papstes erklärt Elisabeth Raiser, warum der gemeinsame Kirchentag nötig ist. Thomas Steinfeld verabschiedet die Partisan Review, "einst die wichtigste intellektuelle Zeitschrift in den Vereinigten Staaten" und "Zentralorgan der ästhetischen Moderne" (hier ein Link auf die letzte Nummer und ein weiterer Link auf einen Artikel des Boston Globe zum Thema). Der Althistoriker Christian Meier (mehr hier) verteidigt die jüngsten Einlassungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zur Rechtschreibreform. "mau" kommentiert Pläne, wonach im Kultursektor künftige "ausländische Anbieter die gleichen Subventionen wie inländische" erhalten sollen.
In der Kolumne Zwischenzeit beklagt Harald Eggebrecht Spielformen der "weltweit verbreiteten Barbarei als Mischung aus blanker Unkenntnis, fröhlicher Zerstörungslust und pingeligem Sauberkeitswahn", und in seiner New-York-Kolumne berichtet Andrian Kreye über stadtverdunkelnde Sparmaßnahmen.

Gratulationen zum 80. Geburtstag gehen an die amerikanische Schriftstellerin Paula Fox (hier) und die Pin-Up-Ikone Bettie Page (hier). Nachrufe gelten dem Gitarristen Earl King (hier) und der Hollywood-Schauspielerin Karen Morley (hier), die ihren ersten großen Auftritt 1932mit Greta Garbo in "Mata Hari" hatte.

Vorgestellt werden die Ausstellung "Orte des Impressionismus" im Kunstmuseum Basel, die bedeutende Gemälde französischer Impressionisten mit thematisch korrespondierenden Fotografien aus der Fondation Herzog kurzschließt; die Ausstellung "re: Leviathan" in der Kunsthalle Düsseldorf, in der die Kuratoren ihre Recherchen zu "visuellen Formierungen von staatlicher Macht" zeigen und eine Präsentation von Dokumenten der Säkularisation im Prämonstratenserkloster Bad Schussenried.

Besprochen werden außerdem die Uraufführung des Stücks "Casino Leger" von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel am Schauspiel Frankfurt, eine Inszenierung von Puccinis "Turandot" in Athen, Donald Petries Film-Komödie "Wie werde ich ihn los - in 10 Tagen", und Bücher, darunter Norman Birnbaums Analyse der Gründe für das Scheitern des Sozialismus, eine bisher nur auf Englisch erschienene Untersuchung der Rolle von Frauen in der Friedenssicherung, eine Studie über postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

FR, 22.04.2003

In ihrem Text stellt die amerikanische Philosophin Judith Butler (mehr hier) fest, dass die Kriegskritiker auch nach dem Sieg "in der Pflicht" stehen. Denn, so eines ihrer Argumente: "Es ist entsetzlich, dass die USA jetzt Aufträge zum Wiederaufbau Iraks vergeben, als befände sich dieses Land nunmehr in ihrem Privatbesitz. Und es ist entsetzlich, dass Aufträge an Firmen gehen, die mit Richard Cheney und anderen Regierungsmitarbeitern einträgliche Verbindungen unterhalten. Auch wenn die USA für die Wiederherstellung der irakischen Infrastruktur aufkommen sollen, ja müssen, haben sie keinen wie auch immer gearteten Anspruch darauf, von der Verwüstung zu profitieren, deren Urheber sie sind."

Weitere Artikel: In der Kolumne Times mager informiert Anneke Bokern über eine nicht jugendfreie Skulptur von Paul McCarthy, die in Rotterdam einen mittelschweren Skandal auslöste. Besprochen werden schließlich die Ausstellung "Der Turmbau zu Babel" im Schloss Eggenberg in Graz, die sich mit "Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift" beschäftigt und laut Kritiker Peter Iden offenbar etwas verwirrend ist. Und eine Inszenierung von David Foster Wallaces "Kurze Interviews mit fiesen Männern" in der Kammerbar des Deutschen Theaters Berlin.

TAZ, 22.04.2003

Im Aufmachertext der Kultur analysiert Dirk Knipphals anlässlich des Starts der zweiten Staffel den alters- und milieuübergreifenden Erfolg der ARD-Vorabendserie "Berlin, Berlin" - eine Art "Bildungsroman mit Landei", wobei das Landei die Hauptfigur ist, ein Mädchen namens Lolle aus Malente. "Nenn es, gut soziologisch, postmodern-hedonistisches Milieu, und du klingst ein wenig hölzern. Nenn es Neue Mitte, und du wirst einerseits schon irgendwie Recht haben. Andererseits ist 'Berlin, Berlin' auch ein Gegenentwurf gegen die Bilder von der Neuen Mitte, wie sie in den Neunzigern in der kollektiven Fantasie wucherten. Das erst macht das Interessante am gedanklichen Gerüst dieser Serie aus, auf die sich derzeit alle einigen können."

Auf den Tagesthemenseiten erklärt Karim El-Gawhari, warum die Kunstplünderungen im Irak "nicht unbedingt überraschend" kamen, vielmehr seien Diebstahl und Schmuggel seit Verhängung der UN-Sanktionen 1990 geradezu "epidemisch". Er berichtet unter anderem: "Mehr als 4.000 Stücke wurden seitdem in den Provinzmuseen gestohlen. Einiges konnte im Irak selbst sichergestellt werden, der prominenteste Fall war ein tonnenschwerer geflügelter Stierkoloss, der aus dem Museum von Mossul entwendet wurde, nachdem er aus Transportgründen in drei Teile zersägt worden war. Als die Schmuggler gefasst wurden, so heißt es, soll Saddam Hussein befohlen haben, die Männer genauso wie den Stier in drei Teile zu zersägen. Später wurde der Stier wieder zusammengesetzt und ins Museum in Bagdad gebracht."

Besprochen werden die Ausstellung "sieben mal malerei" im Neuen Leipziger Kunstverein, ein Berliner Konzert von Beck, und Bücher, darunter Kriegskritisches aus den USA wie der Bericht des Elitesoldaten Anthony Swofford über den zweiten Golfkrieg und ein Essay des Kriegsreporters Chris Hedges, beide bisher nur auf Englisch erschienen, sowie ein weiteres Buch über die "Hintergründe über den 11. September und die Logik amerikanischer Machtpolitik".

Und hier Tom.

FAZ, 22.04.2003

Jürg Altwegg sieht Frankreichs Linke marginalisiert. Nachdem Mitterand das Aufkommen des Front National unterstützt hatte, um - mit Erfolg - die bürgerliche Rechte zu schwächen, ist es jetzt die Linke, die seit der Stichwahl vor einem Jahr, als Chirac über Le Pen siegte, unter einem Identitätsproblem leidet: "Der Sieg vom vergangenen Jahr gegen Le Pen wurde in einem Klima des kollektiven Exorzismus errungen und hat die bürgerliche Rechte tatsächlich von ihren Dämonen und Skrupeln befreit. Der Ausgang der Wahl wurde auf den Straßen sichtbar. Wo waren die vielen Polizeibeamten, die nun auftauchten, zuvor gewesen? Die Zahl der Geschwindigkeits- und Alkoholkontrollen hat drastisch zugenommen, jene der Verkehrstoten ging deutlich zurück. Die neue Innenpolitik ist populär und nimmt überdies Le Pen den Wind aus den Segeln. Zumindest in der Rhetorik haben die Strafen die Vorbeugung abgelöst. Täter gelten nicht mehr unbedingt in erster Linie als Opfer. Das hat nicht nur mit dem politischen Willen einer Regierung zu tun, es ist Ausdruck eines geistigen Klimawechsels."

Zhou Derong stellt uns den Mann vor, der die kommunistische Partei in China gezwungen hat, die Existenz der Lungenkrankheit SARS zuzugeben: Es ist der einundsiebzigjährige Jiang Yanyong, ehemals Chefchirurg am Pekinger Militärhospital 302 und vielfach ausgezeichneter Magentumorexperte. Jiang Yanyong, seit "fünfzig Jahren treues Parteimitglied", hatte mit einem Brief an die regierungsamtliche Fernsehstation Central China Television und an den Satellitenfernsehsender Phoenix in Hongkong über das wahre Ausmaß der SARS-Erkrankungen informieren wollen. Als er keine Antwort erhielt, "siegte das Gewissen des Arztes über die Treue zur Partei: Jiang weiß, wie wichtig Transparenz bei der Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten ist. Er nahm Kontakt zu dem amerikanischen Time Magazine auf, das am 8. April seinen Brief veröffentlichte. Das war der Schneeball, der die Lawine auslöste."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings wundert sich, dass die Vorbilder für Maxim Billers Hauptfiguren in seinem Roman "Esra" klagen, denn so geben sie "dem Autor eben durch ihren Einspruch recht, bestätigen so wider Willen, dass seine Erfindungen mehr als ein Körnchen Wahrheit enthalten". Arnold Bartetzky stellt das "Stelzenhaus" in Leipzig-Plagwitz vor, das von den Leipziger Architekten Weis und Volkmann saniert wurde. Christoph Albrecht hat bei einer Tagung in Elmau zugehört, als Europas antiamerikanische Identität geprüft wurde.

Auf der Medienseite warnt Michael Hanfeld erneut vor einem Zusammenschluss von Tagesspiegel und Berliner Zeitung. Auf der letzten Seite sinniert Dietmar Dath über den Biba Butzemann in seiner besonderen Erscheinung als Rudi Dutschke. Gustav Falke beklagt die fehlende Revision der Berliner Staatsbibliothek, die aus beiden Häusern ein "Teilungsmuseum" macht. Und Ilona Lehnart bezweifelt, dass Peter Zumthors Entwurf für die Topografie des Terrors je gebaut wird.

Besprochen werden eine Ausstellung über die englisch-französische Freundschaft der Romantik, "Constable bis Delacroix" in der Tate Britain, Rodrigo Garcias Filmdebüt "Gefühle, die man sieht ...", Andre-Modeste Gretrys Oper "Zemire et Azor" in Lübeck, die Choreografie "Pneuma", mit der sich Johan Inger vom Nederlands Dans Theater verabschiedet, eine griechisch-orthodoxe "Turandot" in Athen, Christian Schückls Inszenierung der "Räuber" in München und Bücher, darunter Apuleius' "De magia" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).