Efeu - Die Kulturrundschau

Antiromantisch, zugleich antispießbürgerlich

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16.03.2015. Die FR staunt immer noch über den Museumsgründer Johann Friedrich Städel, einen antifeudalen Geldhändler mit aufklärerischer Gesinnung und freiem Geist. SZ und FAZ stürzen sich in die Kölner Polke-Orgie. Die taz bewundert Alexander McQueens dämonischen Umbau unserer Körper. In der Nachtkritik erklärt Thomas Ostermeier, warum er kein Castorf-Epigone sein will. Am Wochenende hatte Claus Peymanns Inszenierung von Thomas Bernhards "Macht der Gewohnheit" am Berliner Ensemble Premiere: Ein Ereignis!, ruft die Berliner Zeitung, Forelle flau!, die FAZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2015 finden Sie hier

Bühne


Jürgen Holtz, Karla Sengteller in Thomas Bernhards "Macht der Gewohnheit". Foto: Monika Rittershaus

Mit seiner Inszenierung von Thomas Bernhards "Macht der Gewohnheit" am Berliner Ensemble schließt Claus Peymann nach langen Jahren die letzte Lücke in seiner Sammlung von Bernhard-Stücken, erklärt Wolfgang Behrens in der nachtkritik. Großes Lob geht an Karl-Ernst Herrmann (Bühnenbild) und Jürgen Holtz in der Hauptrolle. Nur Peymann verhinderte seiner Ansicht nach, dass aus diesem Abend ein ganz großer wurde: "Bei Peymann rieselt nichts aus dem Metaphysischen. Er hat vielmehr den recht bemerkenswerten Versuch unternommen, für Bernhards durchmusikalisierte Sprache durchweg realistische Spielanlässe zu schaffen. ...Der Gewinn dabei ist freilich zweifelhaft: Denn Enkelin, Dompteur, Jongleur und Spaßmacher drohen über der Gewöhnlichkeit ins gänzlich Banale abzudriften, und schnell wünscht man sich wieder ein wenig mehr Künstlichkeit und Sprachlust zurück - und etwas weniger planen Bühnenrealismus." Dieses Stück handelt von der "Unerforschlichkeit der Kunst", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung und ist ebenfalls des Lobes voll für Jürgen Holtz: Dieser sei "ein Ereignis". Nur FAZ-Rezensentin Irene Bazinger schliefen die Füße ein: "Kein vitales Tempo, kein existentielles Lüftchen, keine surrealen Turbulenzen - einfach nur Forelle flau."

Die nachtkritik übernimmt ein Interview, das die Dramaturgin Iwona Uberman mit Schaubühnen-Leiter Thomas Ostermeier für die polnische Theaterzeitschrift Teatr geführt hat. So erklärt Ostermeier, warum er mit Dekonstruktion nichts im Sinn und eine "irrsinnig große Abscheu" vor all den Castorf-Epigonen hat: "Bei Castorf habe ich immer noch das Gefühl, dass er weiß, warum er das macht, was er macht, und dass das eine geronnene, belebte und durch sein eigenes Leben und sein Künstlersein beglaubigte Theaterform ist. Die anderen kopieren nur die Form. Das kommt für mich überhaupt nicht infrage."


"Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte", Oper von Dirk von Lowtzow und René Pollesch. Foto: © LSD | Lenore Blievernicht

Ganz zufrieden kommt Matthias Heine aus der Uraufführung von René Polleschs und Dirk von Lowtzows kapitalismuskritische Oper "Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte" an der Volksbühne. Alles ganz typisch für die beiden, die Spezialeffekte sind toll und dass Martin Wuttke und Lilith Stangenberg nicht singen können, macht auch nichts, erklärt er in der Welt: "In der intelligenten deutschen Popmusik gilt die Fähigkeit, singen zu können, geradezu als Knockout-Kriterium: "Er hat eine Stimme? Dann knebeln wir ihn und setzen ihn hinters Schlagzeug.""

Weitere Artikel: Für die Zeit porträtiert Mirko Weber Kirill Petrenko: "Von der Außenseite der Dinge gelangt Petrenko meist zielsicher in ihr Zentrum".

Besprochen werden ein am Theater Rudolstadt aufgeführter "Faust" (Zeit), Cesare Lievis Wiener Inszenierung von Thomas Bernhards "Am Ziel" (SZ), eine von Sidi Larbi Cherkaoui choreografierten Aufführung des "Feuervogels" in Stuttgart (Hier biete sich ein "kleines wunderbares Universum, in dem alles fließt und vor Energie sprüht", schwärmt Natali Kurth in der FAZ) und Hans Werner Henzes an der Oper Halle aufgeführte "Phaedra"-Inszenierung (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst


Auguste Renoir, Frau mit Sonnenschirm in einem Garten, 1875. © Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid. Zu sehen in der Ausstellung Städel-Museum "Monet und die Geburt des Impressionismus" im Städel

Am Sonntag feierte das Frankfurter Städel-Museum sein 200-jähriges Bestehen. Ein Anlass für Christian Thomas, in der FR detailliert an Johann Friedrich Städel zu erinnern, einen Geldhändler, Bourgeois und Knicker, der die Museumsstiftung seinerzeit mit einer Aufsehen erregenden Summe begründete: "Der offenbar nicht unverschrobene Städel, mit seinen Ideen der Aufklärung, dachte im Verborgenen und in seinen vier Wänden entschieden antifeudal, ebenfalls antiromantisch, zugleich antispießbürgerlich - durch und durch antizyklisch. Wollte eine heutige Stadtgesellschaft einen solchen Oppositionsgeist dulden? Und sei es nur diese Halsstarrigkeit? Schön, das alte Wort. Eminent anschaulich. Ausgerechnet in diesem Geizhalskopf hatte die Grenzüberschreitung Platz. In dem Geldhändlerkopf polterten nicht nur die Bilanzen, sondern rumorte ein freier Geist."

Außerdem bespricht Bernhard Schulz im Tagesspiegel die aktuelle Monet-Ausstellung im Städel. Und die FAZ eine gekürzte Fassung von Monika Grütters" Ansprache zum Jubiläum.

Große Freude über die nach Stationen in New York und London nun nochmals erweitert im Museum Ludwig in Köln gezeigte Sigmar-Polke-Retrospektive, die einer "wahren Polke-Orgie" gleichkomme, freut sich Georg Imdahl in der SZ. Dass hier auch Polkes umfangreiches filmisches Schaffen großzügig gewürdigt wird, gefällt ihm besonders: "Während der litauische Künstler Jonas Mekas in seinen Filmarbeiten seine Autobiografie von Emigration und Exil damals politisch macht, mischt Polke das Politische aus TV und Printmedien seiner privaten Vita als Subtext unter." Auch Andreas Platthaus (FAZ) berichtet begeistert von seinem Besuch in Köln: Der "Planet Polke" sei "nie zuvor (...) so konsequent erschlossen worden wie in dieser Retrospektive."

Besprochen werden weiter Bettina Flitners in der Kölner Hornbach-Stiftung ausgestellte Fotoessays (taz) und die multimediale Ausstellung im "Extended Compositions" im Kunstquartier Bethanien (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Literatur

Die Leipziger Buchmesse ist zu Ende gegangen: In der FR berichtet Judith von Sternburg von den Buchmesse-Auftritten israelischer Schriftsteller, während Lothar Müller in der SZ die Buchmesse für den Aktualitätsbezug ihres Israel-Schwerpunkts lobt. Marc Reichwein besucht für die Welt die Selfpublishing-Autoren. Gerrit Bartels fasst im Tagesspiegel seine schönsten Buchmesse-Erlebnisse zusammen, und Joachim Güntner resümiert die Messe in der NZZ.

Besprochen werden neue Comics von Ulf K. (Tagesspiegel), Jeffrey Yangs Langgedicht "Yennecott" (SZ) und die Hörbuchfassung von Jan Weilers Krimi "Kühn hat zu tun" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie der FAZ stellt Marleen Stoessel Li Tai-Pos Gedicht "Der Pavillon aus Porzellan" vor:

"Mitten in dem kleinen Teiche
Steht ein Pavillon aus grünem
Und aus weißem Porzellan. ..."
Archiv: Literatur

Film

Hanns-Georg Rodek informiert in der Welt über den neuesten Stand im Streit um die Berliner Filmhochschule DFFB, deren Chefposten gegen der Willen der Hochschule mit dem Produzenten Ralph Schwingel neu besetzt wurde: "Heute besucht der künftige Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie deren Räume am Potsdamer Platz in Berlin, um herauszufinden, ob dort irgendjemand bereit ist, mit ihm zu sprechen. Die Chancen stehen nicht gut."

David Steinitz bietet in der SZ einen kleinen Überblick über die prosperierende Videoessay-Szene im Netz: Besonders sind ihm der Künstler Kogonada, Tony Zhou (hier) und LJ Frezza (hier) aufgefallen. Hier Kogonadas Arbeit über den ziemlich abgefahrenen japanischen Kunst-Horrorfilm "House":



In Sichtweite dazu staunt Jan Jasper Kosok (Freitag) über die Fanedit-Kultur im Netz, bei der bestehende Filme von Fans, aber auch von Profis umgeschnitten und, wie im Fall der überlangen "Hobbit"-Filme von Peter Jackson, gewinnbringend gerafft werden. Besprochen wird Kenneth Branaghs "Cinderella" (SZ).
Archiv: Film

Design


Alexander McQueen, Jellyfish ensemble and Armadillo shoes, Plato"s Atlantis, S/S 2010, Model: Polina Kasina, © Lauren Greenfield/Institute

Sie glauben, Sie kennen den Modedesiger Alexander McQueen? Dann muss Brigitte Werneburg (taz), die kürzlich noch dasselbe dachte, von der großen Retrospektive in London nun aber eines Besseren belehrt wurde, Sie leider enttäuschen: "Erst vis-à-vis der Stücke, wenn man noch ein Fädchen aus der Vordernaht hängen sieht, also ganz genau sieht, wie eine Vielzahl kugeliger Erhebungen aus dunkelbraunem harten Leder einen hellbraunen Lederbody überzieht, auf dessen Schultern anstelle von Epauletten kleine präparierte Krokodilsköpfe überraschen, erklärt sich einem in bestürzender Deutlichkeit der Einfallsreichtum McQueens." Vor allem aber spürt Werneburg hier "noch einmal die Lust (...) am fantastischen bis dämonischen Umbau unseres Körpers."

Archiv: Design

Musik

Jazz - die Kunst der Improvisation. Schwierig wird es dann, wenn, wie jetzt geschehen, eine Band, namentlich Mostly Other People Do the Killing, eine minutiös dem Original folgende Einspielung von Miles Davis" Klassiker "Kind of Blue" vorlegt. Diese Meditation über Autorenschaft und Aneignung ist beileibe nicht ohne Reiz, beteuert Stefan Hentz in der Zeit: "So überzeugend sie den Klang des Miles-Davis-Albums wiedergeben, so perfekt die Kopie beim ersten Hören zu sein scheint, so deutlich sind die kleinen Unterschiede beim genaueren Hören. ... "Blue" hat einen paradoxen Effekt. Als minutiöse Nachschöpfung befreit es das Original von der Patina gewohnheitsmäßigen Weghörens." Eine Hörprobe:


 
Für den Tagesspiegel unternimmt Andreas Hartmann einen Streifzug durch den Berliner Tape-Underground. Thomas Groß (Zeit) spricht mit Björk über deren Moma-Retrospektive. Jürgen Kesting (FAZ) gratuliert der Mezzosopranistin Teresa Berganza zum 80. Geburtstag. Peter Kemper (FAZ) schreibt zum Tod des Rockmusikers Daevid Allen.

Besprochen werden ein Konzert von Katy Perry (Tagesspiegel), Scott Crawfords Dokumentarfilm "Salad Days" über die Washingtoner Punkszene der 80er Jahre (taz), ein Konzert der Antilopen Gang (Berliner Zeitung), ein Konzert von Paolo Conte (FR) und ein Auftritt des Scharoun-Ensembles (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Architektur

In der Welt staunt Dankwart Guratzsch über den "Jahrhundertumbau" Hamburgs, der in der Olympiaplanung enthalten ist. Über den Kleinen Grasbrook, eine Insel mitten in der Elbe, soll die Stadt über die Elbe hinweg nach Süden erweitert werden: "Stadtplanerisch ist es ein Eingriff von beachtlicher Wucht. Der Schwerpunkt der Stadt verlagert sich von der Alster hin zur Elbe. Hamburg zentriert sich um eine neue (in Wahrheit alte) Mitte und gewinnt ungeheure, quadratkilometerweite Räume für die Zentrumsentwicklung hinzu. Erst durch diese Umwuchtung jahrhundertealter Verbindungsstränge, Schwerpunkte und Potenziale gewinnt die Vision von einer Hauptstadt Nordeuropas greifbare Gestalt."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Hamburg, Stadtplanung, Grasbrook