Efeu - Die Kulturrundschau

Höllisch einfach

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10.01.2019. Die Filmkritiker bestaunen atemlos das kleine, somnambule Glück der späten DDR in der Verfilmung von Ingo Schulzes Roman "Adam und Evelyn". Der Tagesspiegel fürchtet eine Re-Stalinisierung von Polens Filmindustrie und applaudiert einer Ausstellung über DDR-Pop in Frankfurt/Oder. Die NZZ gibt sich den Polyrhythmen der Jazzmusikerin Luzia von Wyl hin. Die FAZ feiert das Wunder von Münster, einen Altar der Comic-Künstlerin Anke Feuchtenberger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.01.2019 finden Sie hier

Film

Wende in Zeitlupe: "Adam und Evelyn"

"Meisterhaft" ist Andreas Goldsteins und Jakobina Motz' Adaption von Ingo Schulzes Wenderoman "Adam und Evelyn" geworden, schwärmt Tomasz Kurianowicz in der Zeit. Der Film, ein Road-Movie, das von einem ländlichen Idyll in der DDR nach Ungarn führt, "zeigt in langen, schwerelosen Aufnahmen eine spätsommerliche, dem Verfall geweihte DDR-Gesellschaft, die sich aufs kleine Glück beschränkt - von jeglichem Konsumanspruch unbehelligt und doch nicht ganz zufrieden. ... Seine stille Pointe könnte darin bestehen, dass nicht das System befreit, nicht der Sozialismus, nicht der Kapitalismus, sondern das Loslassenkönnen von hohen Erwartungen."

Das reduzierte Erzähltempo des Films kommt Bert Rebhandl gerade recht: Damals hatten sich die Ereignisse überschlagen, schreibt er in seiner von der FAZ online nachgereichten Kritik, "nun, eine Generation später, scheint es sinnvoll, sie noch einmal in Zeitlupe zu durchlaufen. Denn es sind noch ein paar Fragen offen. Vor allem die entscheidende: Was genau ist damals eigentlich passiert, als die DDR zu verschwinden begann?" tazlerin Jenni Zylka fühlt sich "an die frischen und originellen Defa-Filme der Sechziger und Siebziger erinnert: Sätze werden nicht zu Ende gesprochen, und der Schalk hockt den Beteiligten auf eine unaufgeregte Art stets im Nacken." Kurz: Ein "genauer Film, in dem man ob seiner somnambul-statischen Gespräche, der Grabesmienen und der langen Pausen eine sympathisierende Nähe zur (Ost-)Berliner Schule erkennen mag."

Anke Sterneborg hat sich für ZeitOnline mit Autor Ingo Schulze unterhalten, der sich über die Zusammenarbeit mit Andreas Goldstein und Jakobina Motz nur positiv äußern kann. Dass Buch und Film die Wendezeit mit einer gewissen Langsamkeit in den Blick nehmen, hat mit der historischen Erfahrung zu tun, sagt er: "Damals gab es fast so etwas wie ein Erschrecken über diese unglaubliche Beschleunigung, die im September einsetzte. Von Tag zu Tag kam etwas anderes und immer stand viel auf dem Spiel."

Im Tagesspiegel berichtet Jagoda Engelbrecht von den Anstrengungen der PiS, Polens Filmindustrie mittels einer neuen zentralen Einrichtung zu kontrollieren. Filmschaffende sprechen von einer Re-Stalinisierung: "Die Filmemacherin Agnieszka Holland, Vorsitzende der Europäischen Filmakademie, wirft dem Minister vor, ohne Rücksprache mit der Branche zu handeln. Tatsächlich wurde die Initiative lange geheimgehalten und erst einen Tag nach Weihnachten publik gemacht. Niemand aus der Filmszene wusste davon. Zudem wirkt befremdlich, dass die polnische Filmindustrie ausgerechnet jetzt 'reformiert' werden soll, in Zeiten großer internationaler Erfolge."

Weitere Artikel: Carolin Weidner empfiehlt in der taz die Filmreihe "Kleider machen Leute" im Berliner Zeughauskino, das deutsche Filme aus den Vierzigern und Fünfzigern zeigt. In Wien wird Wim Wenders' Gesamtwerk gezeigt, schreibt Andrey Arnold in der Presse. Unfair findet es Claudia Schwartz in der NZZ, dass nach dem Zensurfall in Saudi-Arabien alle auf Netflix einschlagen, aber nicht auf Saudi-Arabien: "Netflix bashen bringt Quoten, aber Solidarität für die Kunst sieht anders aus."

Besprochen werden ein französischer Sammelband mit Jacques Rivettes gesammelten Kinotexten (Filmdienst), Marine Frances Debütfilm "Das Mädchen, das lesen konnte" (taz, SZ), Peter Hedges' Drogendrama "Ben is Back" mit Julia Roberts (Tagesspiegel. SZ), Gaya Jijis "Mein liebster Stoff" (SZ), Stefan Haupts "Zwingli" (NZZ), Fernand Melgars Dokumentarfilm "A l'école des philosophes" über die Schularbeit mit behinderten Kindern (NZZ), Otto Bathursts "Robin Hood" (taz, Welt), Heiner Lauterbachs und Emilio Sakrayas Verwechslungskomödie "Kalte Füße" (Standard) und Niccolò Ammanitis Arte-Serie "Ein Wunder" (FAZ).
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Literatur

In der spanischen Neuausgabe seines Romans "Patria" erklärt Fernando Aramburu die Entstehungsgeschichte des Buchs, schreibt Paul Ingendaay in einem online nachgereichten Artikel für die FAZ. "Arambaru schildert eindringlich, wie früh er den Terrorismus wahrgenommen und als gewöhnlichen Hintergrund des baskischen Lebens empfunden hat. ... Es war eine Welt, in der Mord möglich war und politisch gerechtfertigt wurde, in der Pistoleros als Märtyrer verehrt wurden und der Gruppenzwang die Distanznahme fast unmöglich machte. Er selbst (...) imprägnierte sich mit Literatur gegen das vorgeschriebene Einheitsdenken, las die Surrealisten und Camus."

Weitere Artikel: In seiner Jungle-World-Reihe über "Lahme Literaten" knöpft sich Magnus Klaue diesmal Juli Zeh vor. Im Tagesspiegel gratulieren Christoph Lennert und Alexander Brüggemann Hergés "Tim & Struppi" zum Neunzigsten.

Besprochen werden Gerald Murnanes "Grenzbezirke" (NZZ), Elena Ferrantes neuübersetzter Debütroman "Lästige Liebe" (Tagesspiegel), Lion Feuchtwangers Tagebücher "Ein möglichst intensives Leben" (Berliner Zeitung), Frédéric Beigbeders "Endlos leben" (NZZ), Daniel Glattauers "Vier Stern Stunden" (ZeitOnline) und Maria Stepanovas Essay "Nach dem Gedächtnis" (FAZ).

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Musik

Für die NZZ unterhält sich Ueli Bernays mit der Jazzkomponistin und -pianistin Luzia von Wyl, deren neues Album "Throwing Coins" ihm sichtlich gut gefallen hat: "Anfangs spielen von Wyls linke und rechte Hand schon auf der Klaviatur des Gegensätzlichen, bevor dann der musikalische Ideenfluss überraschende Wechselfälle und variierende Klangbilder generiert. Im zweiten Titel, 'Q', führt die New Yorker U-Bahn nicht nur in pointierte und synkopierte Grooves, sondern auch in ein jazziges Geigensolo. Diese lebendige, ereignisreiche Musik präsentiert sich nicht nur in Polyrhythmik und in kontrastreicher Synchronität, sie zehrt auch von unterschiedlichen Traditionen - vorab vom Jazz und von der modernen Klassik." Das Album steht auf YoutubeMusic:



Weiteres: In der Welt porträtiert Frédéric Schwilden den Sänger Tamino, vor dessen Album "Amir" er auf die Knie geht: "Die Kompositionen sind so komplex, dass sie höllisch einfach klingen." Besprochen wird außerdem ein von Valery Gergiev dirigierter Tschaikowsky-Abend in Berlin (Tagesspiegel).
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Bühne

Susanna Petrin stellt in der NZZ die ägyptische Tänzerin Karima Mansour vor, die direkt nach der Arabischen Revolution in Kairo eine Tanzschule gründete: "Noch ist die zeitgenössische Tanzszene in Ägypten sehr klein. Doch wer dabei ist, hat die einmalige Chance, eine hier ganz junge Kunstform zu prägen. 'Unsere Recherche hat erst gerade begonnen. Wir sind noch daran, unsere eigene Bewegungssprache zu finden', sagt Karima Mansour. 'Wir dürfen dabei nicht andere kopieren, sollten aber genauso wenig in die Folklore-Falle tappen.'"

Besprochen werden Dušan David Pařízeks Inszenierung von Grillparzers "König Ottokars Glück und Ende" am Wiener Volkstheater (taz, nachtkritik, Presse, Standard, FAZ, SZ),
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Stichwörter: Volkstheater Wien

Kunst

Almut Heise, Häusliche Szene, 1969. Foto: Galerie Michael Haas


Im Tagesspiegel empfiehlt Simone Reber wärmstens die Ausstellung "Real Pop 1960 - 1985. Malerei und Grafik zwischen Agit Pop und Kapitalistischem Realismus" (noch bis 17.2.) im Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst, das mit der Rathaushalle von Frankfurt Oder als Ausstellungsort vorlieb nehmen muss. Viel Pop-Art aus der DDR steht solcher aus der BRD gegenüber. "Als Auftakt hängt Gerhard Richters berühmte 'Sekretärin' von 1964. ... Daneben hängen die Collagen von Ruth Wolf-Rehfeldt, die gerade wiederentdeckt wird. Die 86-Jährige wurde bei der jüngsten Documenta gezeigt, das Dresdner Albertinum widmet der Mail-Art-Künstlerin eine Einzelausstellung. Mit den Buchstaben ihrer Schreibmaschine verlieh sie konkreter Poesie Gestalt. In Frankfurt überraschen nun ihre Collagen. 1983 montiert sie das Bild eines Autoreifens auf die Schnauze von Dürers Hasen. Wolf-Rehfeldt reagierte damit auch auf einen anderen Künstler, nämlich Joseph Beuys jenseits der Mauer. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert Rehfeldt unterwanderte sie von Ost-Berlin aus das geschlossene System DDR." Umso bedauerlicher, meint Reber, dass es eben darüber so wenig Informationen in der Ausstellung gibt.

In der NZZ gibt Franziska Buhre einen kurzen Einblick in die Kunstszene Irans - lebendig sei sie, aber auch erschöpft vom Geldmangel und der Zensur. Unabhängige Kuratoren gebe es kaum: "Zwischen jungen Künstlern und Förderern entsteht deshalb schnell ein Abhängigkeitsverhältnis, vermögende Galerien betreiben ihren eigenen Hofstaat mit Günstlingen und Netzwerken, die in andere Wirtschaftszweige reichen. Iranische Käufer setzen stark auf große Namen, und junge Künstler wundern sich mitunter, dass der Weg zum Star eine Laufbahn voraussetzt."

Weiteres: Patrick Bahners sieht sich für die FAZ "das Wunder von Münster" an, den Altar, den die Comickünstlerin Anke Feuchtenberger für das Landesmuseum geschaffen hat. Besprochen wird eine Geschichte der Malerinnen des abstrakten Expressionismus, Mary Gabriels Buch "Ninth Street Women" (monopol). Besprochen wird eine Ausstellung des Fotografen Ulrich Gebert in der Berliner Galerie Klemm's (Tagesspiegel).
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