Heute in den Feuilletons

Dass dieser Vorsprung nun aufgebraucht ist

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2013. Die FAZ berichtet von Tayyip Erdogans konzertierter Aktion: Als Begleitmusik zur Räumung des Taksim-Platzes beschimpfte er die Demonstranten in einer landesweit übertragenen Rede als Terroristen. Mozilla und andere Organisationen starten die Kampagne StopWatching.Us gegen Prism, berichtet Netzpolitik. Die Macht hat die Sprache des Netzes gelernt - ein Einschnitt in der Geschichte des Internets, fürchtet Markus Beckedahl ebendort. Und in der SZ fragt sich Teju Cole, warum das Genre des Romans trotz Virginia Woolf wieder bei Jane Austen gelandet ist. 

Aus den Blogs, 12.06.2013

"Mit der heute gestarteten Kampagne 'StopWatching.Us' setzt sich das Mozilla-Projekt an die Spitze einer politisch relativ bunt wirkenden Gruppe von Organisationen", meldet John Weitzmann in Netzpolitik - die Organisation erstellt unter anderem den überaus beliebten Browser Firefox. Die Kampagne "fordert vom US Kongress einen Stopp und eine vollständige Offenlegung der heimlichen Überwachungsprogramme rund um Prism und bietet dazu gleich die Möglichkeit, den entsprechenden offenen Brief elektronisch ebenfalls zu unterzeichnen."

In dem Blogpost von Mozilla zu der Aktion heißt es: "There are a number of problems with this kind of electronic surveillance. First, the Internet is making it much easier to use these powers. There's a lot more data to be had. The legal authority to conduct electronic surveillance has grown over the past few years, because the laws are written broadly. And, as users, we don't have good ways of knowing whether the current system is being abused, because it's all happening behind closed doors." Das Blogpost macht auch auf einige Addons für den Brwoser aufmerksam, die die Überwachung zumindest erschweren.

Düster klingt Markus Beckedahls Kommentar zu Prism, ebenfalls auf Netzpolitik: "Das Internet funktioniert als Verstärker für Macht. Wer nur wenig Macht hat, dem gibt es eine lautere Stimme. Das hat Einzelpersonen und der Zivilgesellschaft einen zeitweiligen Vorteil verschafft. Aber auch Institutionen, die viel Macht haben, gibt es noch mehr davon. Diese Institutionen haben einige Zeit gebraucht, um zu lernen, die Möglichkeiten des Internets für sich zu nutzen. Spätestens seit vergangener Woche wissen wir, dass dieser Vorsprung nun aufgebraucht ist."

(Via sueddeutsche.de) Die neuen Datenschutzoptionen bei Facebook:




David Simon, Autor der Fernsehserie "The Wire", hat in seinem Blog die Überwachungsmethoden der NSA verteidigt (Patrick Bahners weist heute auf der FAZ-Medienseite darauf hin). Die Enthüllungen des Guardian seien ein "faux-scandal": "Having labored as a police reporter in the days before the Patriot Act, I can assure all there has always been a stage before the wiretap, a preliminary process involving the capture, retention and analysis of raw data. It has been so for decades now in this country. The only thing new here, from a legal standpoint, is the scale on which the FBI and NSA are apparently attempting to cull anti-terrorism leads from that data. But the legal and moral principles? Same old stuff."

Weitere Medien, 12.06.2013

Im Guardian zeigt sich Ai Weiwei entsetzt über den NSA-Skandal (siehe auch unsere Presseschau zum Thema): "There is no guarantee that China, the US or any other government will not use the information falsely or wrongly. I think especially that a nation like the US, which is technically advanced, should not take advantage of its power. It encourages other nations. ... When human beings are scared and feel everything is exposed to the government, we will censor ourselves from free thinking. That's dangerous for human development."

Inzwischen wehren sich die Internetkonzerne gegen die amerikanische Regierung, die sie mit dem Verdacht im Regen stehen lässt, sie würden ihr Zugriff auf die Nutzerdaten erlauben, meldet Spiegel online: Googles Chefjustiziar David Drummond "forderte Justizminister Eric Holder und FBI-Chef Robert Mueller in einem Brief auf, die Erlaubnis für die Veröffentlichung der Anfragen zu geben. Der Konzern will demnach deren Anzahl und Breite offenlegen, nicht aber auf wen sie sich konkret beziehen. 'Transparenz dient dem öffentlichen Interesse, ohne die nationale Sicherheit zu gefährden', heißt es in dem am Dienstag veröffentlichten Brief. Momentan müssen Google und andere Internetfirmen schweigen, wenn sie auf Grundlage des Auslandsspionage-Gesetzes FISA verpflichtet werden, Daten ihrer Nutzer herauszugeben. Ein spezielles Gericht muss eine derartige Anfrage freigeben." (Auf faz.net berichtet außerdem Patrick Welter.)

NZZ, 12.06.2013

Als tollen Erfolg bejubelt Philipp Meier die diesjährige Art Basel, deren neue Hongkonger Dependance für gute Geschäfte im asiatischen Raum sorgen dürfte. Samuel Herzog berichtet von der parallel stattfindenden Kunstmesse Liste 18.

Besprochen werden eine Bühnenfassung keltischer Artus-Sagen in Straßburg, Manfred Hildermeiers Geschichte Russlands und Chalid al-Chamissis neuer Roman "Arche Noah" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Jungle World, 12.06.2013

"Das Ergebnis klingt ebenso verspielt wie verspult und ist zu gleichen Teilen wunderschön und total bescheuert", schreibt Jan Tölva freudig irritiert über die neue Platte von Jens Rachuts Bandprojekt N.R.F.B. Auch ansonsten lustvoll eingestandenes Unverständnis: "Vielleicht ist das Dadaismus. Vielleicht ist es aber auch zu einfach, alles, was gleichzeitig lyrisch und absurd wirkt, Dadaismus zu nennen. Das musikalische Rückgrat der Band ist elektronisch, bewusst werden Charakteristika zeitgenössischer elektronischer Werke kopiert. ... Dazwischen: natürlich Punkfetzen und Anflüge von Polyrhythmik, Krautrockreminiszenzen und extrem schwer zu Kategorisierendes. Easy Listening ist anders." Auf Soundcloud finden wir eine Kostprobe:

Aus den Blogs, 12.06.2013

Als neuer Intendant des Ungarischen Nationaltheaters wurde der Orban-Intimus Attila Vidnyánszky schon heftigst angefeindet, im Interview mit Esther Slevogt spricht er in der Nachtkritik über seine Anfänge bei einer transkarpatischen Theatertruppe, den ungarischen Kulturkampf und seine Sicht auf das Theater: "Der Großteil der Produktionen der heute ausschlaggebenden Künstlertheater bei uns ist aus meiner Sicht viel zu sehr im Schlamm der Wirklichkeit steckengeblieben... Das Theater, das die Wirklichkeit nur als aussichtslos, schlecht und schmutzig, den Menschen als klein und hilflos darstellt, stört mich nicht allein, weil ich diese Einseitigkeit der Sichtweise nicht besonders interessant finde, sondern auch deshalb, weil es ein falsches Bild zeigt. Denn dabei wird vergessen, dass jeder einzelne Mensch in seinem Leben einen heldenhaften und gigantischen Kampf führt und dass die Geschichten dieses Kampfes in ihrer Einfachheit herrlich sind."

Traumhaft schön: Das neue Lied von David Lynch und Lykke Li - mit einer Autofahrt über den Lost Highway ins Dunkel der Nacht:

Welt, 12.06.2013

Im Forum spottet Henryk M. Broder über eine jetzt erscheinende Studie zur Nazivergangenheit des Justizministeriums, die mit anderen Studien dieser Art gemein hat, dass sie von längst Verschiedenen (und doch immer gleichen) handelt. Und Rainer Haubrich verteidigt das nun vor der Rekonstruktion stehende Stadtschloss. Im Feuilleton sinniert Michael Pilz über die Frage, was es mit Pop-Verkleidungen bei Bands wie Kiss (die noch existieren) oder Daft Punk auf sich hat. Wolf Lepenies amüsiert sich über die Académie française, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, dass Englisch als Unterichtssprache an französischen Hochschulen zugelassen wird. Sven Felix Kellerhoff berichtet, das Tagebücher des Obernazis Alfred Rosenberg wieder aufgetaucht seien (Fälschung ausgeschlossen). Vorabgedruckt wird ein bisher unveröffentlichtes Gespräch mit Friedrich Kittler, der heute siebzig Jahre alt geworden wäre. Und Alan Posener polemisiert in seiner Kolumne "J'Accuse" Bändchen des Theologen Thomas Kaufmann über den knapp 500 Jahre alten Luther, das im gerade 250-jährigen Verlag C.H. Beck erschienen ist.

TAZ, 12.06.2013

Die taz war heute morgen leider nicht online. Deswegen unser Resümee erst einmal unverlinkt:

Auf der Seite eins kommentiert Jürgen Gottschlich bitter die Räumung des Taksim-Platzes: "Die Toleranz, von der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gestern sprach, und die für ihn jetzt beendet sei, hat er in Wahrheit schon seit Jahren nicht mehr gezeigt. Das ist genau das Problem in der Türkei. Seit Erdogan und seine AKP bei den letzten Wahlen20 11 nahezu 50 Prozent der Wählerstimmen gewonnen haben, glauben sie, Toleranz ist nicht mehr nötig."

In der Kultur: Der Berliner Berliner Technoproduzent Mark Ernestus erzählt im Interview mit Julian Weber von seiner Arbeit mit Mbalax-Musikern im Senegal: "Die Trommler, Tänzer und Sänger kommen typischerweise aus Griot-Familien. Das ist seit zig Generationen so, sie werden schon als Trommler geboren." Sonja Vogel berichtet über den Baubeginn am Dokumentationszentrum der lange umkämpften Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung.

FAZ, 12.06.2013

Während der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan mit großer Brutalität den Taksim-Platz räumen ließ, hielt er eine von Radio und Fernsehen übertragene Rede, in der er, so eine empörte Karen Krüger, mit jedem Satz die Wirklichkeit "verbog" und gegen die Demonstranten hetzte: "Er sprach von Religion, Ehre, Wirtschaft, Verschwörungstheorien, und er sprach von anarchistischer Gewalt und behauptete, die Demonstranten seien 'Terroristen'. Der Ministerpräsident sagte, während zur selben Zeit der Taksim-Platz mit Tränengas eingenebelt wurde, die Demonstranten würden in die Moscheen des Landes eindringen, dort Alkohol konsumieren und 'unsere kopftuchtragenden Schwestern' auf der Straße attackieren." Während der Räumung stürmte die Polizei außerdem ein Gerichtsgebäude und verhaftete 50 Anwälte, die den Demonstranten kostenlosen Rechtsbeistand leisten wollten. (Online lesen kann man zu den Vorgängen einen Bericht von Michael Martens)

Weitere Artikel: Gina Thomas erzählt die Geschichte des Manuskripts von Samuel Becketts Roman "Murphy", das jetzt versteigert wird (mehr dazu im Guardian hier und hier). Hans Neuenfels widmet sich "Tannhäuser", 2. Akt, 4. Szene, Takte 771 bis 803 (Dresdner Fassung). Hannah Lühmann besucht in Nikosia drei junge Zyprer, die mit einem Start-up der Wirtschaftskrise trotzen wollen. Oliver G. Hamm freut sich über die Renovierung des alten Weltspiegel-Kinos in Cottbus. Jürgen Kaube schreibt zum Siebzigsten Friedrich Kittlers. Morten Freidel besucht in Straßburg die Dreharbeiten zu einer "radikalen" Fernsehdokumentation über den Ersten Weltkrieg: "In acht Folgen à sechzig Minuten wollen die Entwickler vierzehn Lebensläufe in den Blick nehmen, basierend auf realen Personen und ihren Tagebucheinträgen." Jürg Altwegg stellt erfolgreiche Fernsehserien in Frankreich vor. Und Sebastian Dörfler stellt "Black Mirror" vor, eine Produktion des britischen Medienkommentators Charlie Brooker.

Besprochen werden die Landesausstellung "SaarArt", mit der das Saarland wieder an die Moderne anknüpfen will, eine Ausstellung von Jürgen Beckers New-York-Bilder von 1972 im Ausstellungsraum der Autorenbuchhandlung in Berlin und Bücher, darunter Hans Peter Riegels Beuys-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 12.06.2013

Im Gespräch mit Lothar Müller gibt sich Schriftsteller Teju Cole recht missmutig, was die Heilsgeschichte des Romans als Form betrifft: "Es gab den historischen Moment der klassischen Moderne, und danach sind wir zur Jane-Austen-Form zurückgekehrt, trotz des großen Versprechens bei Virgina Woolf oder James Joyce, den Roman noch einmal zu verändern, und wenn es irgendetwas Innovatives in meinem Roman gibt, dann ist das hundert Jahre alt."

Jan Füchtjohann ärgert sich sehr darüber, wie sich die hiesigen Kulturschaffenden angesichts des sich anbahnenden Freihandelsabkommens zwischen Europa und den USA als vom Aussterben bedrohtes Naturvolk inszenieren - und mutmaßt, dass hier vor allem der Schutz von kleingeistig provinzieller Kunst eingefordert wird. Dabei sollten Kunst und Geist doch nach Höherem streben: "Wenn einer wie von Trier einen Film dreht, dann ist ihm offensichtlich egal, wo die verdammte Hütte steht - solange er nur bitte endlich wieder eines seiner depressiv-größenwahnsinnigen Meisterwerke machen darf. Genauso geht es einem Philosophen wie Jürgen Habermas beim Verfassen eines Aufsatzes über die Wahrheit sicher nicht um den authentischen Ausdruck seiner Starnberger Seele, sondern eben um: Wahrheit."

Weiteres: Nach dem NSA-Skandal ist Kai Strittmatter bitter enttäuscht von den USA, die er gerade in seiner dauerüberwachten Zeit in China als Rückzugsort im Netz zu schätzen gelernt hat. Besprochen werden neue Jazzveröffentlichungen, Derek Cianfrances neuer Film "The Place Beyond the Pines", eine Aufführung vom "Ball im Savoy" an der Komischen Oper in Berlin (das "Musikdrama hingebungsvollen Unsinns gelingt ... extravagant gut", jubelt Wolfgang Schreiber), die Ausstellung "Meisterwerke aus dem Serail" im Berliner Pergamonmuseum und Bücher, darunter Anselm Kiefers "The Shape of Ancient Thought" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).