Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2002. Die SZ plaudert mit Noam Chomsky über den Hass auf die USA und die Weisheit des Militärs. Die NZZ wundert sich, wie in den USA eine Billigvariante der Apokalypse Furore macht. In der taz verabschiedet sich Marlene Streeruwitz von der Schweizer Expo 02. Die FR denkt über den ausbleibenden Aufstand der Jungen nach. Und die FAZ macht sich aus polnischer Sicht Sorgen über den "deutschen Weg".

SZ, 01.10.2002

In einem wunderbaren Interview mit Willi Winkler plaudert der amerikanische Linguist und Politikkritiker Noam Chomsky (mehr hier) über seinen angeborenen "Anti-Bolschewismus", seinen Werdegang, die Weisheit des Militärs und die Frage, warum die Fundamentalisten die USA hassen: "Die meisten Araber sind pro-amerikanisch und lieben alles, was aus Amerika kommt. Sie hassen nicht uns, sondern die amerikanische Politik. Warum hassen sie uns? Eisenhower, Kennedys Vorgänger, stellte genau diese Frage im Jahr 1958 vor dem Nationalen Sicherheitsrat. Die Antwort: Die arabische Welt nimmt wahr, dass die USA brutale, korrupte Regimes unterstützen und Demokratie und Entwicklung verhindern. Die Menschen wissen, dass wir es tun, weil wir das Öl im Nahen Osten kontrollieren wollen. Gute Antwort, allerdings bereits 44 Jahre alt."

Hat Herbert Wehner im Moskauer Exil von 1937 bis 1941 im großen Stil deutsche Emigranten denunziert und sie Folter und Tod ausgeliefert? Das ist die These des im Frühjahr 2003 erscheinenden Buchs "Wehner - Moskau 1937" von Reinhard Müller, Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung, sowie der WDR-Dokumentation "Tödliche Falle", die morgen Abend gezeigt wird. In einem Interview relativiert der Heidelberger Historiker und Wehner-Biograf Hartmut Soell den Vorwurf der "Denunziation": "Solche Arbeiten werden immer instrumentalisiert. Dass gerade Reinhard Müller, ein ehemaliger Ideologe der DKP und Leiter der Hamburger Ernst-Thälmann-Bibliothek, so seine kommunistische Vergangenheit verarbeitet, ist persönlich verständlich, macht ihn aber noch nicht zum seriösen Historiker."

Weitere Themen: Der Journalist und Schriftsteller Tariq Ali liefert einen Bericht von den Londoner Demonstrationen gegen Tony Blair und seine Kriegspolitik. Reinhard J. Brembeck erklärt, warum Udo Zimmermann die Deutsche Oper in Berlin vorzeitig verlässt, in einem Interview erläutert Ulrich Eckhardt, wie sich nun ein Gremium um ein schlüssiges Konzept zur Meisterung der Berliner Opernkrise bemüht.

Werner Burkhardt freut sich dagegen über die Rückkehr von Christoph von Dohnanyi an die Alster: er wird zur Saison 2004/2005 das Hamburger NDR-Sinfonie-Orchester übernehmen. Reinhard Schulz berichtet über ein Symposion und Neue Musik beim "Warschauer Herbst". Valeska von Rosen führt durch eine Ausstellung mit Kunst aus venezianischen Palästen in der Bonner Bundeskunsthalle. In der Kolumne Zwischenzeit malt sich Claus Heinrich Meyer etwas aus, das er The New Ruck nennt. "göt" berichtet über den unbotmäßigen Umgang mit zwei Ikonen der Bürgerrechtsbewegung in Tim Storys neuem Film "Barbershop". Und schließlich gibt es noch eine hübsche Ankedote aus den Memoiren von US-Außenminister Colin Powell.

Besprochen werden außerdem der neue Film von Steven Spielberg "Minority Report", eine "eher häusliche" Verfilmung von "Bibi Blocksberg" und zwei Inszenierungen am Schauspiel Frankfurt: Jenny Erpenbecks Stück "Katzen haben sieben Leben" (im Kammerspiel) und der erste Teil eines achtteiligen "Antigone"-Zyklus von Wanda Golonka (im Großen Haus). Und natürlich Bücher, darunter die Jugenderinnerungen des südafrikanischen Schriftstellers John M. Coetzee und ein Band mit deutschen Briefen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 01.10.2002

Manuel Gogos wundert sich über die Lesegewohnheiten der Amerikaner: Teile des zehnbändigen "Left Behind"-Zyklus, einer Saga von den 'letzten Tagen der Erde' - verfasst von den christlichen Fundamentalisten Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins - stehen seit Monaten auf der Bestsellerliste. Eine solche Billigvariante der Apokalypse sei aber lediglich "ausgestattet mit einer ziemlich erbärmlichen, rudimentären Psychologie, die - außer den Gewissensqualen - nichts vom grossen Erbe einer pietistischen Innerlichkeit in sich trägt. Dieses mangelnde Interesse am Menschen macht die Lektüre ihrer Bücher zu einer Strafe." Dennoch, so Gogos, treffen sie mit dieser Art Literatur "zielsicher den wunden Punkt, die Achillesferse unserer Tage, mögen es die letzten sein oder nicht. Unter Einsetzung eines Massenmediums führen sie das Projekt der großen amerikanischen Erweckungsbewegungen des frühen 19. Jahrhunderts weiter: eine Million Seelen für Christus."

Nachdem das New Yorker Architektenteam Diller und Scofidio mit ihrer "Blur" genannten Wolke in Yverdon auf der Expo 02 auf sich aufmerksam gemacht hat, entstehen nun an der amerikanischen Ostküste zwei neue Kulturbauten der neuen Stars in der Architekturszene, verkündet Hubertus Adam in seinem Doppelportrait der aus Lodz stammenden Elisabetz Diller und des New Yorkers Ricardo Scofio. Neben dem Neubau des Institute of Contemporary Art (ICA) in Boston wird im Rahmen der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig auch der Entwurf des Eyebeam Atelier in Manhattan zu sehen sein.

Außerdem: Christoph Funke berichtet aus Berlin, dass dort mit dem Maxim-Gorki-Theater und dem Deutschen Theater zwei Bühnen "fast zeitgleich mit politischen Entscheidungen von großer Tragweite" in die neue Spielzeit starten. Andrea Köhler erinnert an den 1. Oktober 1962, an dem in Oxford (Mississippi) die Immatrikulation eines schwarzen Studenten auf Anweisungen Kennedys gegen Befürwortern der Rassentrennung erkämpft werden musste.

Besprochen werden zwei Werke des Ballettdirektors Richard Wherlock aus dem neuen Programm des Basler Balletts, der Auftritt des Juilliard-Quartetts in der Zürcher Tonhalle, sowie Peter Schweigers Inszenierung von Büchners "Dantons Tod" am Theater St. Gallen.

Rezensiert werden heute neue Bücher von Dieter Bachmann, Hanna Krall, und Henning Mankell.

TAZ, 01.10.2002

Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz (mehr hier) verabschiedet die Expo.02, die am 20. Oktober endet. Das Lob, mit dem die Schweizer Landesausstellung überhäuft wurde, kann Streeruwitz nach einem Selbstversuch nicht teilen: zuviel "Unterhaltungspopulismus und Clubmedspiele". Eine Kostprobe aus ihren Momentaufnahmen: "Ich reihe mich in die Warteschlange vor dem 'Empire of Silence' ein. Auf großen Tafeln wird das locked in syndrome erklärt. In allen 3 Landessprachen. Der Zustand von Menschen wird beschrieben, die bei vollem Bewusstsein keine Möglichkeit des Ausdrucks oder der Bewegung besäßen. Diese Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeit wird als Mauer bezeichnet, in die diese Personen eingeschlossen sind. Diese Mauer gälte es niederzureißen. Auf Italienisch und Französisch heißt das 'die Mauer der Stille'. Silence. Silenzio. Auf Deutsch ist das dann aber die 'Mauer des Schweigens'. Warum wird Stille auf Deutsch Schweigen, frage ich mich und habe eine leichte Panikattacke."

Weitere Themen: Auch Katrin Bettina Müller hat einen Selbstversuch gewagt und sich freiwillig rentenberaten lassen. Harald Fricke bespricht eine Ausstellung der Zagreber Künstlerin und documenta 11-Teilnehmerin Sanja Ivekovic in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (mehr hier) in Berlin. Eva Behrendt begeistert sich für eine CD, auf der Franz Dobler musikgestützt seine Westerngedichte liest. Und dann gibt es noch Buchbesprechungen: u.a. zu Mathias Bröckers' "konspirologischem Tagebuch" über Ungereimtheiten rund um den 11. September (inklusive Interview mit dem Autor) und zu einem neuen Roman von Michael Chabon. (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

FR, 01.10.2002

Dieter Rulff erklärt den ausbleibenden Aufstand der Jungen unter der rot-grünen Regierung. Diese sei keineswegs als eine der 68er Generation zu bezeichnen, "denn von denen, die seinerzeit das Wort führten, ist keiner heute in vorderster Linie vertreten". Die Ziffer 68 kennzeichne deshalb "keinen Ausnahmezustand der Republik mehr, sondern die Normalität. Was immer sich an Erwartungen an einen Generationenwechsel mit dem Regierungsumzug nach Berlin verband - sie haben sich nicht erfüllt. Denn was immer sich an Erwartungen an einen Politikwechsel mit dem Regierungsumzug nach Berlin verband: Sie werden von der regierenden Generation erfüllt. Deshalb hat sie hat keinen Aufstand der Nachkommenden mehr zu fürchten. Sie hat nunmehr ein Maß an Gesetztheit, das es ihr erlaubt, auch die eigene Nachfolge zu regeln."

Robert Kaltenbrunner denkt über die Begründungsnot für eine nachhaltige Architektur nach. So fehle der Nachhaltigkeit nicht nur eine "ästhetische Identiät", vor allem "kanalisierten" die Medien "die öffentliche Debatte, über die Qualität zugeteilt wird. Zur Architektur zählt, was einer Besprechung in den Medien wert ist. Das Publizieren hat folglich die Stellung des Konsens' in der Diskussion von Argumenten übernommen."

Weiteres: Matthias Mühling berichtet von der Achten Baltischen Triennale für Internationale Kunst im litauischen Vilnius. Christoph Nix hält ein Plädoyer für eine missachtete Gattung: die Operette. Kerstin Grether verortet die neue deutsche Elektropop-Szene "zwischen Androgynität und Paarromantik". Georg Friedrich Kühn kommentiert das vorzeitige Ende von Udo Zimmermanns Generalintendanz an der Deutschen Oper Berlin. In der Kolumne Times mager weiß "schl" von bedenklichen denunziatorischen Umtrieben an amerikanischen Universitäten zu berichten.

Besprechungen gibt es von zwei Stücken zum Saisonbeginn im Deutschen Theater Berlin: Eugene O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" und T.S. Eliots "Cocktail Party", sowie dem ersten "Antigone"-Abend von Wanda Golonka im Schauspiel Frankfurt. Als "feucht und unbeholfen" gescholten wird schließlich Henner Wincklers Filmdebut "Klassenfahrt".

FAZ, 01.10.2002

Der polnische Universitätsprofessor Karol Sauerland erklärt, wie man in Polen auf den "deutschen Weg" reagiert. Nachdem Polen sich auf dem Warschauer NATO-Gipfel mit den Vereinigten Staaten solidarisch erklärt hat, ergibt sich eine seltsame Situation: "Es tritt zutage, dass Polen zwei westliche Nachbarn hat: Deutschland und die Vereinigten Staaten, die paradoxerweise der nähere Nachbar zu sein scheinen, schon durch die vielen dort lebenden Auslandspolen, die Polonia." Dass Deutschland nun einen "deutschen Weg" gehen möchte, der sich nicht mehr vorrängig europäisch ausnimmt, erregt in Polen die Besorgnis, "dass der Beitritt der östlichen Länder zur EU sich nun doch schwieriger gestalten könnte."

Rainer Blasius stellt die neue Feuilleton-Serie mit dem munteren Namen "Wir vom Bundesarchiv" vor, die Fundstücke aus dem Bundesarchiv, "im Faksimile - oder weil zu umfangreich - im graphischen Ausriss", präsentieren und damit dem abnehmenden öffentlichen Interesse an schriftlichen Quellen entgegenwirken soll. Schließlich "kann die Nachwelt den offenkundigen und zwischen den Zeilen verborgenen Inhalten der Dokumente besonders wichtige Erkenntnisse über Aspekte einer vergangenen Wirklichkeit entreißen und sich ihr damit annähern." Die Dokumentenschau ist chronologisch angelegt, von 1875 bis 1991, und ist "als kleiner Rundgang durch die riesigen Bestände" gedacht. Und die erste Folge gibt's auch gleich dazu: Abgebildet wird die kaiserliche Verordnung zur einheitlichen Reichswährung vom 22. September 1875, mit einem Kommentar von Michael Hollmann.

Weitere Artikel: In Berlin hat das große Mexiko-Festival (mehr hier) begonnen und Peter Richter zeigt sich von der mexikanischen Gegenwartskunst begeistert. Auch in amerikanischen Universitäten wird nach vermeintlichen Antisemiten gefahndet, doch der sogenannte "Campus Watch" löst eine heftige Debatte aus, weiß Heinrich Wefing. Unter den französischen Intellektuellen grassiert der Antiamerikanismus, hat Jürg Altweg festgestellt, und liefert zum Beweis einen Querschnitt durch die französische Zeitungslandschaft. Andreas Rossmann gratuliert dem "Bild"-Bezwinger Günter Wallraff zum Sechzigsten. Rom brennt lichterloh, berichtet Ute Diehl, im Streit um den Museumsneubau um die Ara Pacis.

Eva Menasse porträtiert das serbische Multi-Talent Bogdan Bogdanovic, dem heute in Wien das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse verliehen wird. Michael Lentz schreibt einen Nachruf auf den experimentellen Lyriker Bob Cobbing. Lange war es strengstens verboten, doch nun hat Kuba die Erlaubnis erteilt, den in Hemingways Finca befindlichen Nachlass auf Microfiche zu übertragen, meldet "P.I.". In seiner Kolumne sinniert "pba" über steuerpflichtiges Vergnügen. Auf der Seite Bücher und Themen zeigt Wolfgang Burgdorf auf, dass das "russische Feindbild " auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Und die PISA-Studie lässt grüßen: Jürgen Kaube wirft die Frage auf, ob die in deutschen Schulen praktizierte Aufgabenstellung sinnvoll ist.


Auf der Medienseite schreibt Michael Hanfeld über den Einfluss der CSU, wenn es um die Vergabe wichtiger Posten bei ZDF und Hessischem Rundfunk geht, und Ingolf Kern bescheinigt Klaus Bressers "Talk in Berlin" einen lauen Auftakt.

Besprochen werden Bücher, Marie-Sissi Labreches Roman "Borderline" und Karin Priesters Biografie von Mary Wollstonecraft, die Ausstellung "Kunst nach Kunst" in der Bremer Weserburg und mehrere Inszenierungen, Wanda Golonkas Fassung der "Antigone" im Frankfurter Schauspiel, Jürgen Kruses Inszenierung von T. S. Eliots "Cocktailparty" am Deutschen Theater in Berlin und Kleists "Homburg" in Düsseldorf unter der Leitung von Jürgen Gosch, und schließlich Klaus Michael Grübers Operninszenierung des "Don Giovanni" bei der Ruhrtriennale.