Im Kino

Die Zeit zerstört alles

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Robert Wagner
27.04.2022. Gaspar Noe untersucht in seinem Film "Vortex" um ein altes Pariser Paar, was Menschen auch dann noch voneinander trennt, wenn sie versuchen, sich Halt und Geborgenheit in einer ausweglosen Lage zu geben. Die Protagonisten in Peter Brunners "Luzifer", eine streng gläubige Bäuerin und ihre behinderter Sohn, bewegen sich zwischen radikaler Religionspraxis und kodiertem Inzest, der der Lust ein kleines, kapriziöses Ventil schenkt.


2002 sorgte Gaspar Noé mit der Uraufführung seines zweiten langen Films "Irreversibel" bei den Filmfestspielen in Cannes für einen Skandal - und zugleich bewies seine rückwärts erzählte Rape-and-Revenge-Geschichte, dass er in der Lage ist, das Genrekino der härtesten Gangart komplett auf den Kopf zu stellen. Die Filme, die er in den folgenden zwei Jahrzehnten drehte, arbeiten sich an seiner ureigenen Idee von transgressivem Kino ab, reichten dabei aber nie an sein Meisterwerk heran und verloren sich oft in derben und prätentiösen Provokationen. Nun erscheint mit "Vortex" sein sechster Kinofilm: nach 140 Minuten verlässt man das Kino ziemlich gebeutelt, und doch gelingt es Noé, mit seinen üblichen filmischen Mitteln und Themen etwas Neues und Außergewöhnliches zu schaffen.

Nach dem Abspann, der gleich zu Beginn über die Leinwand läuft, befinden wir uns bald in einer engen, verschachtelten Pariser Altbauwohnung, in der Intellektuelle leben. An den Wänden hängen Plakate, Filmposter - von "Metropolis" bis Godard -, alte Fotos. Überall stehen Regale, die überquellen mit Büchern, Heften, Katalogen. Hinweise auf die Gegenwart des Jahres 2021 sind eher spärlich gesät, stattdessen gibt es ein paar Stapel VHS-Kassetten. Hier leben ein Filmkritiker, der auch im fortgeschrittenen Alter noch an einem Buch über das Kino und die Träume arbeitet, und seine zunehmend verwirrte Frau, die einst Psychiaterin war, aber nun langsam den Bezug zu ihrem Mann, ihrer Familie, ihrer Vergangenheit verliert. Das Wort Alzheimer wird nie offen ausgesprochen, aber einmal in einer Art umschifft, die dem Publikum unmissverständlich klar macht, worum es geht.



Es ist wichtig, dass dieses Paar von Dario Argento und Francoise Lebrun gespielt wird, deren Rollen die Credits schlicht "den Vater" und "die Mutter" nennen. Also von einem alternden italienischen Genremaestro und einer französischen Schauspielerin, die durch ihre Rolle in "La Maman et la putain" (1973), dem vierstündigen Opus Magnum Jean Eustaches, zu einiger Bekanntheit kam. Mit Argento und Lebrun leben zwei unterschiedliche Traditionen des europäischen Kinos unter einem Dach: der ab den Siebzigern gerade in Italien boomende Thriller- und Horrorfilm und das französische - in Ermangelung eines besseren Wortes - "Kunstkino" in der Folge der Nouvelle Vague.

Eine Schnittstelle zwischen Genre und Arthouse zu finden, war von jeher Teil von Noés Projekt. In "Vortex" geht es jedoch auch darum, dass beides nie wirklich eine Einheit bilden kann. Das führt zum zentralen formalen Kniff von "Vortex", den Noé nach einem Prolog komplett im Split Screen inszeniert. In der Mitte der Scope-Leinwand befindet sich ein breiter schwarzer Balken, der die beiden Bildhälften voneinander trennt, die Ecken der beiden Bilder, die wir parallel verfolgen müssen, sind leicht abgerundet.

Dass das mehr ist als bloß ein Gimmick, erschließt sich dem Publikum erst nach und nach. Die gespaltene Leinwand erzählt von einer mentalen Trennung der beiden Hauptfiguren, bei der die Erkrankung der Frau ein wichtiger Faktor ist, aber nicht der einzige. So sehen wir die Eheleute zunächst gemeinsam, und doch voneinander getrennt in ihrem Bett liegen, leicht zeitlich versetzt stehen sie auf, gehen auf die Toilette. Die Mutter verlässt die Wohnung, irrt durch die Stadt, der Vater sucht sie. Von Anfang an wirkt alles entrückt, die Wohnung, in der ein Großteil des Films spielt, ist ziemlich klaustrophobisch, das Paar bewegt sich mit einer matten Müdigkeit, die von ihrem Kampf mit dem Alter kündet. Dennoch können wir zu Beginn kaum ahnen, dass Noé eine unerbittliche Tragödie in Gang setzt, zu der das Motto von "Irreversibel" passen würde: "Die Zeit zerstört alles".



Schwer zu sagen, wann der Split Screen in "Vortex" bedrückender ist; in den Szenen, in denen auf beiden Bildhälften gänzlich verschiedene Dinge geschehen, etwa in einem Handlungsstrang, der von der Affäre des Vaters mit einer anderen Frau erzählt. Oder aber in den Szenen, in denen die Bildhälften und die Figuren fast, aber eben nie ganz zueinander finden. Es geht Noé um das, was die Menschen auch dann noch voneinander trennt, wenn sie versuchen, sich Halt und Geborgenheit in einer zunehmend ausweglosen Lage zu geben.

Vater und Mutter haben einen Sohn (Alex Lutz), der irgendwann mit seinem eigenen kleinen Sohn auftaucht, um mit den Eltern über ihre Situation zu sprechen. Er möchte, dass sie ihre Wohnung aufgeben, um in eine geriatrische Spezialklinik zu ziehen. In den Gesprächen erfahren wir auch von seiner Suchterkrankung: Er ist in einem Substitutionsprogramm für Heroinabhängige, arbeitet bei der Drogenhilfe, wo er Spritzen und Crackpfeifen an andere Süchtige verteilt. Der Medikamentenkonsum seiner Eltern macht ihm große Sorgen. In einer Szene spielt die Mutter mit ihrem Enkel auf dem Balkon, während Vater und Sohn im Arbeitszimmer gemeinsam eine Zigarette rauchen.

Es gehört zum System des Films, dass auf der Handlungsebene über weite Strecken nicht viel passiert, aber vor unseren Augen dennoch ein Panorama großer Lebensfragen entsteht. Es geht um Alter, Krankheit, (dysfunktionale) Familien, die Familienkrankheit Sucht. Schließlich um den Tod. Gegen Ende gibt es eine Szene, in der die Mutter auf der einen Seite ihren Vorrat an Tabletten in ihrem schmutzigen Klo entsorgt, während der Sohn auf der anderen Heroin raucht. Oder Noé den Split Screen nutzt, um durch symmetrische Bildanordnungen Parallelen aufzuzeigen - zum Beispiel zwischen dem Schlaf der Mutter und der Agonie des Vaters, der einen Herzinfarkt erleidet.

Schwer zu sagen, welche Position Noé zu den existenziellen Fragen bezieht, die der Film aufwirft, wenn sich am Ende die Geschehnisse dramatisch zuspitzen. Das Finale handelt von der Vergänglichkeit - und davon, was nach dem Lebensende vom Menschen bleibt. In einer bei Antonioni entlehnten finalen Montagesequenz sehen wir die Schauplätze, durch die sich zuvor die Figuren bewegten, nunmehr gespenstisch leer und unwirtlich. Noch prägnanter ist eine andere, beiläufige Szene zuvor: Im Gespräch mit seinem Sohn sagt der Vater, dass er nicht alle seine Bücher, an denen so viele Erinnerungen hängen, mit ins Altersheim nehmen könne, es aber nicht ertrage, dass sie auf dem Müll landen. Die monströse Absurdität eines Daseins, in dem wir uns in einem Moment über irdische Besitztümer sorgen, die wir als Teil unserer Identität betrachten, während wir im nächsten einfach nicht mehr da sind, ist das zentrale Thema von "Vortex".

Nicolai Bühnemann

Vortex - Frankreich 2021 - Regie: Gaspar Noé, Darsteller: Dario Argento, Françoise Lebrun, Alex Lutz, Kylian Dheret, Vuk Brankovic - Laufzeit: 140 Minuten.

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Zu Beginn weist eine Texttafel darauf hin, dass "Luzifer" von wahren Begebenheiten inspiriert wurde. Diese Einblendung schafft eine gewisse Fallhöhe, da im Folgenden alles dafür getan wird, das Geschehen surreal wirken zu lassen. Wie eine Fabel, ein Gleichnis, eine Vision. Wenn der Film Irrwitziges zeigt, dann steckt im anfänglichen Text auch ein Hinweis darauf, dass die Wirklichkeit auch meschugge sein muss und dass "Luzifer" genau das noch einmal deutlich herausarbeiten möchte.

Die streng gottesgläubige trockene Alkoholikerin Maria (Susanne Jensen) lebt mit ihrem geistig behinderten Sohn Johannes (Franz Rogowski) auf einer Alm. Eine Traufe und der See sorgen für die Wasserversorgung. Die verglasten Fenster wirken schon wie Luxus in einem besseren Provisorium aus Holz und Nägeln. Die Kamera kann sich gar nicht satt sehen an ihrem spärlichen Leben, sodass jedes Auftauchen moderner Technik irritiert. Das Vorhandensein von Plattenspieler, Handy und Generator in den quasimittelalterlichen Zuständen gibt "Luzifer" den Touch des Postapokalyptischen.

Der Eindruck wird dadurch verstärkt, dass fast ausschließlich Maria und Johannes zu sehen sind. Die Geschäftsleute und ihre Handlanger, die Marias Land abkaufen beziehungsweise abpressen wollen, bleiben lange anonyme Anrufer oder sind lediglich in Form von Drohnen sichtbar, welche die Alm umkreisen, ausspionieren und terrorisieren. Der Benzin liefernde Einsiedler und die Tierärztin bleiben Ausnahmeerscheinungen, die die Isolation nur noch bewusster machen. Unsere Zivilisation scheint in weite Ferne gerückt.

In dieser abgeschotteten Parallelwelt herrscht nun Gott. Beziehungsweise ein fanatischer, verzweifelter, zuweilen erratischer Gottesglaube. Maria klammert sich an ihn, um mit ihrer Vergangenheit umgehen zu können. Mit ihrer Sucht und dem Verlust ihres Mannes und Retters. So setzt sie sich auf die Schultern ihres Sohns, woraufhin beide die Arme ausbreiten. Sie bilden so ein Doppelkreuz, erklärt sie. Oder sie lässt sich reinwaschen von ihrem Sohn, der ihren nackten Körper mit Wasser und Lappen abfahren muss. Nachdem sie den Sohn wiederum beim Wichsen erwischt, erklärt sie ihm, dass nun die Sünde unwiderruflich in seiner Hand wohnt. Irgendwo zwischen radikaler Religionspraxis, die mit Feuer, Wasser und christlichen Totems die überall lauernde Sünde bekämpft, und kodiertem Inzest, der der Lust ein kleines, kapriziöses Ventil schenkt, liegt das klösterliche Miteinander.



Der Körper als Sitz der Sünde, der Lust, der Sucht, der erst religiös bearbeitet werden muss, damit Gott in ihn Einzug hält, ist damit Teil einer ambivalenten Natur, die den Film konstituiert. Fluchtpunkt der Religionspraxis der beiden ist eine Marienstatue, die in einen Baumstamm geschnitzt wurde und die zwischen der Rinde aus diesem hinausschaut. Gott wird in die Natur quasi eingeschrieben und diese erhält damit eine klare Ordnung. Die wunderschönen Landschaftsaufnahmen und auch das Brackwasser, mit dem der Körper von außen und innen gereinigt wird, sind Teil des Göttlichen.

Die Drohnen als Widersacher und Versucher der beiden Frommen kommen wiederum aus den Höhlen eines Bergmassivs geflogen, das die Kontur eines dämonischen Gesichts besitzt. Aus dem Inneren der Erde, aus dem Inneren des Menschen mit seiner Gier kommt die Verdammnis. Giftig sieht das Gelb aus, mit dem die Bäume markiert sind, welche abgeholzt werden sollen. Das Gelb, das an Johannes kleben bleibt, als er, irritiert und nichts verstehend, durch einen weiten Waldabschnitt läuft und von Gelb als Farbe der Bedrohung und Vernichtung umgeben ist. Gewalt und Terror geht von denen aus, die die göttliche Ordnung der Dinge nicht wahrnehmen.

Damit etabliert "Luzifer" aber keinen einfachen Dualismus, sondern opfert positive Aspekte und Auswege. Auf der einen Seite: die Zerstörung. Auf der anderen aber nicht einfach die Schönheit der Natur, sondern ein herumirrendes Hausen in ihr, welches durch einen Glaube diskreditiert, der mit (Selbst-)Folter gegen alles vorgeht, das von ihm abweicht. In seinen langen, getragenen Einstellungen, in seiner äußerst expressiven Bildsprache ist der Film nicht an Analyse interessiert, sondern an Ekstase. Je mehr Johannes auf sich allein gestellt ist, je weniger er die Zeichen dessen, was ihn umgibt, lesen kann, je mehr er zum Kaspar Hauser wird, desto mehr wird alles, was der Film uns zeigt ein langsames Rauschen. Das Gezeigte wird immer schwerer einzuordnen. Es bleiben nur Eindrücke aus Sicht von Johannes, die einen Schuld-und-Sühne-Alptraum, ein immer weniger geregeltes Sein in der Natur evozieren.

In einer Szene legt Maria eine Platte der Band "Mutter" auf. Einer Band, die nur zu gern vor den Kopf stößt. Nach drei Alben schleppenden Noises veröffentlichten sie mit "Hauptsache Musik" ein Album voll verletzlichem, folkigem Schlager. Als sie auf dem Cover des Spex-Magazins landeten, wollten sie nach Schweiß aussehen und nicht nach Glamour und Coolness. Wenn mehrmals der nackte Körper Marias sichtbar wird, wird deutlich, dass "Luzifer" ebenso systematisch Sehgewohnheiten vor den Kopf stoßen möchte. Der Unterschied zwischen "Mutter" und Brunners Film liegt allerdings darin, dass "Mutter" sich selbst mit in Frage stellten und immer ein Gefühl für die eigene Lächerlichkeit hatte. "Luzifer" hingegen ist nach außen gerichtet und unterstreicht mit seiner ständig ausgestellten Kunstfertigkeit die eigene Eitelkeit. In seiner getragenen, ausdrucksstarken, durchaus schönen Unwirtlichkeit wirkt er spießig. Und in seiner ernsten, andächtigen Freude am Leid schon wieder albern.

Robert Wagner

Luzifer - Ästerreich 2021 - Regie: Peter Brunner - Darsteller: Susanne Jensen, Franz Rogowski, Theo Blaickner, Monika Hinterhuber - Laufzeit: 103 Minuten.