Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Miriam Toews: Ein komplizierter Akt der Liebe. Teil 2

12.09.2005.
Es hat auch was Ungutes, wenn ein Mensch, der sich äußerste Bescheidenheit auf die Fahnen geschrieben hat, eine ganze Gruppe von Menschen nach sich benennt. Noch dazu nach seinem Vornamen. Nominiten, na prächtig. Vielleicht gründe ich nach meinem Zwischenspiel im Hühnerschlachthof auch ein Volk. Manchmal stelle ich mir Menno als einen Patienten mit Wahnvorstellungen in einer Anstalt vor, in einem hübschen bewaldeten Areal unweit einer Autobahn. Hortet seine Medikamente, trottet in die Gruppentherapie. Dass ich zum Schreckensszenario der Träume dieses Menschen gehöre, beunruhigt mich. Was wohl genau in Mennos Welt passiert ist, dass er ihr so schnöde den Rücken gekehrt hat? Und wie man wohl einen typischen Tag in der Kindheit des Menno Simons heute darstellen würde? Ich kenne Tolkien vom Hörensagen und Ursula Le Guin und den Typen, der Unten am Fluss geschrieben hat, diese ach so köstliche Allegorie über Kaninchen. Aber ich bin kein Fantasy-Fan. So was kriegen wir hier jeden Tag in den Rachen gestopft. Das Mal des Tieres? Mit Gold gepflasterte Straßen? Sieben weiße Pferde? Wie bitte? Leckt mich. Ich träume davon, in die echte Welt zu flüchten. Wenn ich noch ein einziges Narnia-Buch lesen muss, bringe ich mich um. Ich würde liebend gern das Tagebuch von einem gleichaltrigen Mädchen lesen - von einem Mädchen aus der Großstadt. Oder ein Fachbuch über Städteplanung. Oder ein New Yorker Telefonbuch. Ich würde über Leichen gehen, um an ein New Yorker Telefonbuch zu kommen.

Trudie meinte immer, ihre Augen wären braun, dabei sind sie genauso graugrün wie die von Ray. Trudie und Ray sind Cousin und Cousine zweiten Grades. Weshalb Tash und ich nicht nur Schwestern, sondern auch Cousinen dritten Grades sind. Unser Genpool hat nämlich keinen Abfluss. Das klingt wie ein billiger Witz, aber für uns ist das Ernst. Doch, sagte Trudie, sie sind braun. Ich schreibe braun in meinen Pass. Schaut noch mal hin. Tash und ich schauten hin und entdeckten nichts auch nur entfernt Braunes, keine Flecken, keine Sprenkel, keine Fussel, sagten aber trotzdem: gut, dann sind sie eben braun. Wozu brauchst du überhaupt einen Pass, fragte meine Schwester. Um mich auszuweisen, antwortete Trudie. Wahrscheinlich fand sie es abenteuerlich, einen Pass zu besitzen und sich auszumalen, dass sie eines Tages tatsächlich ins Flugzeug steigen und irgendwohin fliegen könnte, wo es ein gemäßigtes Klima gibt und die Leute tanzen.
     Mennos sollen zwar tunlichst nicht in die Großstadt vierzig Meilen weiter fahren, wohl aber in die entlegensten Ecken irgendwelcher Dritte-Welt-Länder reisen, mit Fässern voller Gideonbibeln und Haarnetzen. Vielleicht ist Mom ja irgendwo dort und gründet Kirchen im Kongo, in einem hübschen, knöchellangen Blümchenkleid, mit Gummistiefeln und Strohhut. Obwohl ich das bezweifle. So was macht Die Stimme gern mit allein stehenden älteren Frauen, die wahrscheinlich lesbisch sind, bei uns aber nur die alten Jungfern heißen: Er schickt sie in irgendeine heiße Gegend, mit einer Schaufel, ein bisschen Taschengeld im Monat und einem Fotoapparat, damit sie alle paar Jahre wiederkommen und im Kirchenkeller für all die kleinen Mennos einen Diavortrag halten können. Am Ende des Diavortrags kriegt immer der ruppigste Kerl aus dem Dorf die Erleuchtung, zieht sich ein Hemd an und hilft den frohgemuten Lesben bei ihrem guten Werk, trotz all der Anfeindungen und Drohungen aus seinem Volk. Manchmal werden die Missionare auch umgebracht. Das ist dann eben Pech. Meistens läuft in diesen Diavorträgen unterschwellig noch eine zweite Geschichte mit, entweder wird der Medizinmann aus dem Dorf vertrieben, oder er hält strahlend ein Neues Testament in die Kamera, im Sinne von: preiset den Herrn, er ist bekehrt! Nach dem Diavortrag essen wir Käse und Brötchen und spielen im Vorraum vielleicht ein bisschen Verstecken. Mit Fummeln.
     Aber als Missionarin kann ich mir meine Mutter eigentlich nicht vorstellen. Als was anderes schon, zum Beispiel beim Tiefseetauchen oder als Reiseleiterin, die Touristen in Europa herumführt. Trudie ist eine Abkürzung für Gertrude, und mit dem Namen hat sie sich erst ausgesöhnt, als sie von Gertrude Stein und den ganzen coolen Typen in Paris erfuhr. Sie wollte immer nach Paris. Sie sang die ganzen alten Jacques-Brel-Lieder auf Französisch, mit einem dicken Akzent. Sie sang sie übertrieben grandios, als komische Nummer, aber Tash meinte, das wäre alles Fassade. Trudie wäre einfach durch den ewigen Haushalts- und Alltagstrott komplett durchgeknallt, von einem tyrannischen Patriarchat fix und fertig gemacht.
     Trudie las irrsinnig gern, meistens Krimis (obwohl ungelöste Rätsel bei Mennoniten eigentlich verpönt sind) oder Bücher über den Holocaust. Außerdem sagte sie gern das gibt's doch nicht! Das gibt's doch nicht!, rief sie, wenn sie etwas überraschte, enttäuschte oder erstaunte, und das war oft der Fall. Sie sagte auch gern hui, so richtig mit Inbrunst, wenn sie irgendeine Kleinigkeit besonders freute. Wir als Familie in einem kleinen Motorboot bei Seegang auf dem Wasser zum Beispiel. Ober wir als Familie im Auto, wie wir im Leerlauf einen Hügel runterrollen. Wir als Familie beim Weihnachtsbaumschlagen im Wald. Wir als Familie. Und wenn sie beim Lesen nicht durch irgendwelche Fragen von uns gestört werden wollte, sagte sie gern Hmmmmmmm? Unheimlich lang gezogen, von ganz tief bis ganz hoch. Ohne das Buch aus den Augen zu lassen. Du, Mom, ich gehe jetzt raus, kippe mir ein bisschen Benzin drüber und zünde ein Streichholz an. Hmmmmmmm? Den Blick immer fest auf die Seite geheftet. Ich fand das klasse.
     Meine Mutter träumte davon, ins Heilige Land zu reisen. Juden faszinierten sie. Bei uns in der Stadt gab es keine. Auch keine Schwarzen oder Asiaten. Wir sahen alle mehr oder weniger gleich aus, die reinste Science-Fiction-Welt. Wenn meine Schwester und ich morgens in die Schule gingen, stand meine Mutter im Nachthemd in der Tür und rief uns nach: Wiedersehen, Wiedersehen, ich hab euch lieb, viel Glück, macht s gut, bis wir sie nicht mehr hören konnten, als wären wir fremde Matrosen, die nach einer unglaublich tollen gemeinsamen Nacht den Hafen verlassen, und wenn wir nachmittags um vier nach Hause kamen, lag sie, immer noch im Nachthemd, auf der Couch, den Finger als Einmerker im Buch, und sagte hallo, hallo, wie war euer Tag? Erzählt mir nicht, dass es schon vier ist. Doch, sagten wir, was gibt s zu essen? Und dann setzte sich meine Mutter blitzartig auf, sagte meistens, huch, ich habe mich zu schnell aufgesetzt, und wir warteten ein paar Sekunden, bis ihr nicht mehr schwindlig war. Sie hatte solche knallroten, fast kugelrunden Daunenpantoffeln. Innerhalb von einer Stunde hatte sie sich dann angezogen, war zu Tomboy gelaufen, um was fürs Abendessen einzukaufen, kam zurück, hatte gekocht und das Essen auf den Tisch gestellt - fröhlich, gut gelaunt, liebevoll und sorglos.
     Sie konnte die tollsten Sachen zaubern, mit Klik, diesem Dosenfleisch, das aussieht wie durchpassiertes Menschenfleisch und einen eingebauten Schlüssel dranhat, mit dem man den Deckel aufrollt. Ich hätte gern handfestere Tatsachen über sie, ein komplettes, scharfes Bild, aber sie war schwer zu fassen.
     Etwas schwelte in ihr, etwas Heftiges, Extremes, Unerwartetes, so im Stil "Säge im Geburtstagskuchen". Sie spielte zufrieden, wie Jack Nicholson in Einer flog über das Kuckucksnest verrückt spielt. Ray dagegen war tatsächlich zufrieden damit, in Schlips und Sakko am Kopfende des Tisches zu sitzen und Blödsinn zu machen, mit seinen beiden relativ normalen Töchtern und seiner lebenslustigen Frau, die braune Augen hatte, sexy Nachthemden und einen Pass mit einem schwarzweißen Glamour-Foto von sich, den sie in der obersten Schublade ihrer Kommode versteckt hielt.
     Am häufigsten verreiste Trudie in den Kirchenkeller. Die Frauen bei uns haben ständig dort zu tun. Ansonsten kommen sie nämlich in die Hölle. (Wem wollt ihr dienen? Missionaren in Botswana oder dem Teufel? Na bitte. Noch Fragen? Dachte ich mir.) Sie müssen Kleidung und Decken für die Missionare nähen und in Fässern verpackt nach Übersee schicken. Trudie hasste das Ganze. Einmal kriegte sie Ärger, weil sie in ein für Nicaragua bestimmtes Fass ein paar Liebesromane geschmuggelt hatte. Sie musste alles Mögliche in der Kirche erledigen, bei Hochzeiten und Beerdigungen kochen, Quilts nähen, in der Sonntagsschule unterrichten und überhaupt ihren Hintern in Bewegung setzen, um brav und sittsam gute Werke zu tun. Sie kriegte immer Anrufe, ob sie vielleicht netterweise ein bisschen Zeit zum Helfen erübrigen könnte? Was nicht als Frage gemeint war. Manchmal ging sie in letzter Minute noch hin. Ach jetzt muss ich aber los, sagte sie dann. Los, los!
     Dass ihr Bruder der Ober-Schulze war, machte die Sache nicht besser. Als Schwester von Gaddafi oder Stalin wäre ihr das ähnlich gegangen: Entweder man fügt sich, oder man hat verschissen. Mein Vater fand es gut, wenn sie irgendwo aushalf, aber er fand es auch gut, wenn sie es nicht tat. Irgendwie konnte er sich nie entscheiden, welche Trudie er lieber möchte: die brave Kirchenkeller-Maid in Moonboots oder das rebellische Girl mit der sexy Wäsche. Wahrscheinlich waren beide Extreme einfach Posen, und die wahre Trudie bewegte sich irgendwo dazwischen. Aber das ist ja das Dumme an dieser Stadt: es gibt kein Dazwischen. Man ist entweder drin oder draußen. Entweder gut oder böse. Eigentlich entweder sehr gut oder sehr böse. Oder sehr gut darin, sehr böse zu sein, ohne sich dabei erwischen zu lassen.

Teil 3