9punkt - Die Debattenrundschau

Die Hütte steht noch

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2018. In Zeit Online erklärt der Lehrer Mansur Seddiqzai, wie subtil der Zwang zum Kopftuch bei Schulmädchen funktionieren kann. Bei cicero.de befürwortet Necla Kelek das Kopftuchverbot in Kindergärten und Grundschulen in Österreich. Mit Befremden betrachtet Thomas Schmid in der Welt all jene konservativen Herren, die sich seit den Fünfzigern ideenlos in Selbstmitleid wälzen. Zeitungsredakteure, die sich über Horst Seehofers reines Männer-Team mokieren, sollten sich zunächst an die eigene Nase fassen, rät die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Necla Kelek befürwortet bei cicero.de das von der österreichischen Regierung geplante Kopftuchverbot an Kindergärten und Grundschulen: "Das Kopftuch bei kleinen Mädchen ist nicht religiös begründet, sondern folgt der Auffassung, dass auch das Mädchen ein Sexualwesen ist, das vor fremden Blicken zu schützen ist. Es ist zudem eine Maßnahme der (Selbst-)Ausgrenzung von konservativen muslimischen Eltern, die offenbar Probleme mit einer offenen demokratischen Gesellschaft haben. Sie leben nicht als Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens bei uns, sondern wollen als Gläubige mit entsprechenden Sonderrechten wahrgenommen werden. Es geht also auch darum, ob wir den Wettstreit um die Idee der Freiheit aufnehmen und für freie Köpfe streiten."

Für einige muslimische Mädchen und Frauen in Deutschland mag das Kopftuch inzwischen auch ein Symbol der Selbstbestimmung sein - ein säkulares Kleidungsstück ist es indes noch lange nicht, beobachtet der in der Dortmunder Nordstadt Deutsch, Philosophie und islamische Religion unterrichtende Lehrer Mansur Seddiqzai auf Zeit Online. Die Frage nach der Freiwilligkeit müsse gerade bei Mädchen in der Unterstufe nach wie vor gestellt werden: Es sei "nicht immer ein Patriarch, der mit Gewalt das Kopftuch durchsetzt. Angst und Zwang funktionieren oft viel subtiler. Eine Schülerin der Mittelstufe erwähnte ihren Hodscha, der erzählte, dass sich das Haar von Frauen, die kein Kopftuch trügen, im Jenseits in Schlangen verwandeln und die Sünderinnen lebendig verzehren würde. Wie freiwillig ist es, wenn das Mädchen sich danach verhüllt? Tatsächlich ist solch ein Aberglaube in den Köpfen der Jugendlichen oft präsenter als eine religiöse Begründung für eine Kopftuchpflicht."

Streng antwortet die Rassismusforscherin Noah Sow auf die Frage Hengameh Yaghoobifarahs in der taz, was sie sage, wenn sie erklären soll, dass es keinen Rassismus gegen weiße Menschen geben könne: "Mit Anfängern rede ich schon länger nicht mehr und kann das als performativ-didaktische Maßnahme allen nur total empfehlen. Bevor jetzt einige 'überheblich' schreien: Von Gesprächen, in denen ich zusätzlich zum Thema erst mal meine Subjektposition mitverhandeln müsste, habe ich wirklich nichts. Wer das noch nie erlebt hat, denkt bitte erst mal darüber nach."

Im großen historischen Bogen von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart rechnet Thomas Schmid in der Welt mit den reaktionären Konservativen ab, die sich bereits seit den bundesrepublikanischen Fünfzigern ideenlos im Selbstmitleid wälzen, jeden Fortschritt ablehnen und die eigentliche Aufgabe des Konservatismus, das Bewahren in Zeiten allzu schnellen Wandels, negieren. Den viel beschworenen Untergang kann er im Übrigen nicht feststellen: "Verlässt man das Berliner Regierungsviertel, das angeschlossene journalistische Milieu und andere Erregungsproduzenten, dann merkt man schnell, dass so viel Wandel und Beschleunigung nun auch wieder nicht am Werke sind. (…) Kein Indiz für die revolutionäre Durchschüttelung des Gemeinwesens und eine wachsende Heimatlosigkeit. Die Mehrheit der Deutschen findet sich - sicher zuweilen mit einigem Befremden - in ihrem Ambiente zurecht, hält es für berechenbar, für bewohnbar. Wohl gibt es reichlich Probleme, von der sozialen Frage über die Einwanderung bis zur Aushöhlung des Föderalismus. Aber man kann nicht sagen, das stabile deutsche Gemeinwesen drohe vom großen Feuer der Globalisierung, der Digitalisierung und einer allgemeinen Erneuerungswut vernichtet zu werden. Die Hütte steht noch, und zwar ziemlich stabil."
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Medien

Zeitungen reagierten mit großer Häme auf Horst Seehofers reines Männer-Team - aber in den Zeitungshäusern sieht es meist nicht besser aus, schreibt Anna Fromm in der taz. Und "man muss keine Ressortleiterinnen und Chefredakteurinnen zählen, um zu sehen, dass Journalismus auch 2018 immer noch Männersache ist. Auf der Einladung für die diesjährige Preisverleihung des Henri-Nannenpreises ist als Dresscode nur 'schwarzer Anzug' angegeben. Frauenkleidung wird nicht erwähnt. Das ist wenigstens ehrlich: Unter den 54 Nominierten sind vier Frauen."
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Europa

Die spanische Demokratie ist die beste seit vierzig Jahren, insbesondere Katalonien profitiert davon, schreibt der spanische El-Pais-Journalist José Torreblanca seinen "deutschen Freunden" in der Welt und fordert: Liefert Puigdemont aus, denn er hat die Verfassung verletzt, die Demokratie bedroht und den sozialen Frieden gefährdet: "Die katalanischen Separatisten unterscheiden sich in keiner Weise von Nigel Farages Brexitern, von den Anhängern des Front National von Marine Le Pen, von Italiens Lega Nord oder Deutschlands AfD. Sie wollen diejenigen ausschließen, die anders sind, ärmer und ihnen unterlegen - und keine Steuern in die allgemeine Staatskasse bezahlen. Sicher, sie tun all das im Namen der Demokratie und sind stolz auf den friedlichen Charakter ihrer Forderungen. Aber wir sehen dennoch, dass ihre Demokratie nicht für diejenigen gilt, die anders sind, und dass ihre Gewaltlosigkeit nicht bedeutet, dass sie nicht Menschen unter Druck setzen, die anderer Meinung sind als sie."
 
Im SZ-Interview mit Peter Münch spricht die ungarische Philosophin Agnes Heller über Rechtsnationalismus, Korruption und die Diktatur unter Viktor Orban - und sucht nach Erklärungen: "Ungarn hat 1990 die Freiheit als Geschenk erhalten. Wir haben dafür nicht bezahlt, so wie zum Beispiel die Rumänen, und wir konnten mit dieser Freiheit nichts anfangen. Unsere Politiker waren tödlich naiv - und deswegen haben wir Orbán bekommen, der überhaupt nicht naiv ist. Er ist ein Machtmensch, und nichts anderes als die Macht interessiert ihn. Mit Orbán zahlen wir nun die unbezahlte Schuld von damals ab."
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Internet

Dass Facebook nun verkündet, weniger Daten an Dritte weiterzugeben, ist eher ein Zeichen seiner Stärke als der Einsicht, meint Patrick Beuth bei Spiegel online: "Keiner der bisher verkündeten Schritte - darunter auch die beendete Zusammenarbeit mit bestimmten Datenhändlern - tut dem Unternehmen weh. Facebook hatte sich einst zur mehr oder weniger offenen Plattform für externe App-Entwickler erklärt und den Facebook-Login zur zentralen Identität im Internet, um zu wachsen. Um jedem Internetnutzer einen Grund zu geben, sich ein Profil einzurichten. Um ein eigenes Internet zu werden. Das hat es mittlerweile geschafft."

Höchste Zeit für eine dezentralisierte, emanzipatorische Politik, in der die staatlichen Institutionen gemeinschaftliche Rechte auf Daten anerkennen, schaffen und fördern, bevor Firmen wie Facebook, Alphabet und Amazon immer mehr Funktionen des Staates übernehmen, ruft derweil Evgeny Mozorov in der SZ. Das Ziel sei, dass diese Firmen für den Zugriff auf Daten bezahlen müssen: "Denn sie sind zu weiten Teilen ein Gemeinschaftsgut, kein privater Besitz."

(Via turi2) Twitter schrumpft seine Niederlassungen in Deutschland bis zur Unkenntlichkeit, berichtet Kai-Hinrich Renner in der Morgenpost: "Bis vor etwa zweieinhalb Jahren hatte Twitter an den Standorten Hamburg und Berlin noch knapp dreißig Mitarbeiter. Die Niederlassung in der Hauptstadt wurde bereits zum Jahreswechsel 2016/2017 geschlossen. Wie es in Unternehmenskreisen heißt, soll es am Standort Hamburg nun nur noch fünf Planstellen geben, von denen derzeit aber nur vier besetzt seien. Der Twitter-Sprecher sagt auf Nachfrage, in Deutschland konzentriere man sich 'auf ein Kern-Team'. Zu dessen Größe will er keine Angaben machen."
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Stichwörter: Twitter, Facebook, Alphabet, Morgenpost

Politik

Der brasilanische Präsident Lula und sein südafrikanischer Kollege Zuma verkörperten einst die Hoffnungen eines erstarkenden Südens, bringt Dominic Johnson in der taz in Erinnerung: Nun sind beide "auf ähnliche Weise in Ungnade gefallen: in komplexe Korruptionsaffären verstrickt, aus denen die einst von ihnen geführten Parteien nicht mehr herausfinden. Im Lichte dieser Skandale entpuppt sich der Aufstieg des globalen Südens als Siegeszug nicht einer progressiven Alternative, sondern mächtiger Privatinteressen, die den Geltungsdrang der progressiven Herrscher für sich zu nutzen wussten." Andreas Behn erläutert in einem taz-Bericht die Vorwürfe, die Lula gemacht werden.
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Kulturpolitik

Die aktuelle Debatte um Kolonialismus-Aufarbeitung ist wichtig, wichtiger noch für Erhalt und mögliche Restitution ist allerdings eine systematische, transparente Dokumentation aller Objekte in ethnologischen Sammlungen - diese scheitert jedoch an zu wenigen Finanzmitteln und zu viel deutscher Bürokratie, meint der Ethnologe und Politologe Andreas Schlothauer im DLF-Gespräch mit Dina Netz. Das Humboldt-Forum sei nicht mehr als eine Ausstellungsfläche, fügt er hinzu: "Das Depot selber und die Depotflächen sind seit dreißig Jahren in dem Zustand, wie sie gewesen sind. Da wird ein Insektenmanagement betrieben, also täglich werden die Objekte von Insekten vernichtet. Und natürlich gibt es dann Leute, die das kontrollieren, und dann werden die Stücke behandelt gegen die Insekten, kommen in so eine Kältekammer, aber es ändert nichts an dem Umstand, dass das Depot vollkommen ungeeignet ist und das auch allen bekannt ist. Und auch die Verantwortung, die man da nicht erfüllt, die ist auch bekannt, und trotzdem passiert nichts."
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