9punkt - Die Debattenrundschau

Quasi eine Abofalle

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.12.2021. Religiöse Besinnlichkeit in vielen Medien. Die FAZ erzählt, dass sich die katholische Kirche in Frankreich nach den Berichten über Missbrauch in einer Identitätskrise befindet. In der NZZ fragt Rainer Hank: Erklärt sich der Antikapitalismus des Papstes aus seinem Monarchismus? In Berlin wird laut Welt über "konfrontative Religionsbekundungen" und die Frage, ob man sie untersuchen soll, gestritten. Vice.de erklärt, was ein Kirchenaustritt ist. Die FAZ staunt auch, wie die öffentlich-rechtlichen Medien ihre Staatsferne aufrechterhalten. Und die Übermedien über Coronazahlen, die überall brav rezitiert werden, obwohl alle wissen, dass sie falsch sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.12.2021 finden Sie hier

Europa

Als regelrechten Paukenschlag schildert Reinhard Veser in der FAZ die Pressekonferenz des polnischen Präsidenten Andrzej Duda, in der dieser erstmal das polnische Mediengesetz einkassierte - mit dem Gesetz sollte bekanntlich der letzte kritische Privatsender TVN gleichgeschaltet werden. "Angesichts der abschätzigen bis aggressiven Äußerungen über TVN, die unter PiS-Politikern sonst zum guten Ton gehören, ließ schon aufhorchen, dass Duda TVN gleich zu Beginn seiner Erklärung als 'wichtiges und ernsthaftes Medium' bezeichnete. Es folgten eine Reihe verbaler Ohrfeigen für die Regierungspartei. So hob Duda hervor, dass sich angesichts der kurzen Übergangsfrist im Gesetz die Frage stelle, 'ob die Bedingungen rein menschlich betrachtet fair sind'."

Jesper Vind erinnert in Weekend Avisen an Rudi Dutschke, der Weihnachten 1979 im dänischen Aarhus gestorben ist. Seine Kinder leben nach wie vor dort. Sie "haben alle eine gute Schulbildung. Sie haben gewissermaßen 'den langen Marsch durch die Institutionen' angetreten. Aber nicht als Teil des revolutionären Klassenkampfes, von dem ihr Vater sprach, sondern eher als sozialer Kern des Wohlfahrtsstaates. Hosea Che ist jetzt Direktor für Gesundheit und Pflege in der Stadtverwaltung von Aarhus. Auch Polly hat den Wohlfahrtsstaat in der Praxis funktionieren lassen. Sie absolvierte eine Ausbildung als Krankenschwester und später als Leiterin eines Pflegeheims in Aarhus - und ist außerdem eine aktive Sozialdemokratin. Letzten Monat wurde Polly mit 1.170 persönlichen Stimmen in den Stadtrat von Aarhus gewählt."

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Religion

Die katholische Kirche in Frankreich befindet sich in einer Identitätskrise, berichtet Michaela Wiegel in der FAZ. Viel zu tun hat sie damit, dass Kirchenobere wie der Lyoner Erzbischof Philippe Barbarin den Untersuchungen über sexuellen Missbrauch lange Zeit mit Abwiegelung begegneten. Nach François Ozons Film "Grâce à Dieu" (mehr hier) wurde diese Vertuschung weithin diskutiert. Nun nennen die Berichte exorbitante Opferzahlen von über 300.000 Missbrauchten in den letzten Jahren: "Die Debatte über die Validität der Zahlen ist berechtigt. Aber sie geht am Kern des Missbrauchsberichts vorbei. Dessen zentrale Botschaft ist die 'systemische Verantwortung' der Kirchenführung, die jahrzehntelang dem Schutz der Institution Vorrang gab vor dem Schutz der Opfer, indem sie Verbrechen vertuschte und Verbrecher deckte. Hierin liegt die Verantwortung der Kirche, die wohl niemand so zynisch umschrieb wie Barbarin im Jahr 2016: 'Gott sei Dank sind die meisten Fälle verjährt.'"

Derzeit wird im Vatikan ein Strafprozess verhandelt, in dem der Kurienkardinal Angelo Becciu und neun weitere Angeklagte wegen Veruntreuung, Amtsmissbrauch, Korruption, Erpressung, Geldwäsche und Betrug angeklagt sind. Doch dann hat der Papst seinen Kabinettschef entlassen und Dokumente zurückgehalten. Droht der Prozess zu platzen? Wie auch immer, die Vorgänge zeigen auf jeden Fall, schreibt Rainer Hank in der NZZ, dass der Papst, der gern für die Demokratie eintritt, "einem theokratischen Staat vorsteht, der sich weder zu Rechtsstaatlichkeit noch zu Gewaltenteilung je bekannt hat. Der Papst ist der letzte absolutistische Monarch der Welt. In Analogie zu Viktor Orban in Ungarn, der stolz in einer 'illiberalen Demokratie' regiert, müsste man den Papst als Souverän einer illiberalen Monarchie bezeichnen (England zum Beispiel wäre eine liberal-demokratische Monarchie). Das Grundgesetz des Vatikans, in Kraft seit dem 1. Februar 2001, hält in Artikel 1, Absatz 1 fest: 'Der Papst besitzt als Oberhaupt die Fülle der gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalt.' Die richterliche Gewalt 'wird im Namen des Papstes' ausgeübt, heißt es in Artikel 15. Der grobe Antikapitalismus des gegenwärtigen Papstes ('Diese Wirtschaft tötet') speist sich aus dieser Rechtstradition einer Ablehnung von Aufklärung und Liberalismus."

Neun von zehn befragten Berliner Bildungseinrichtungen sagen nach einer Befragung, dass ihnen das Phänomen "konfrontativer Religionsbekundung" nicht unbekannt sei. Die taz stellte diese Studie gestern als problematisch dar, weil sie im Sinne des Berliner Neutralitätsgesetzes agiere (unser Resümee). Heute befragt Frederik Schindler in der Welt Sprecher der Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus: "Die Grünen-Abgeordnete Susanna Kahlefeld, Vorsitzende des Ausschusses für Bürgerschaftliches Engagement und Partizipation im Berliner Abgeordnetenhaus, hält das Projekt für fachlich falsch aufgesetzt: 'Statt Lehrer*innen eine Hilfestellung zu bieten, wenn sich Schüler*innen provozierend verhalten, ist das Ziel einzig und allein, Religion an sich als ein Problem darzustellen.' Zur Befragung an den Neuköllner Schulen möchte sich Kahlefeld nicht äußern, da sie zur 'undifferenzierten' Meinung der Welt passe und 'daher ohnehin nicht sozialwissenschaftlich ernsthaft beurteilt' werde."

Aus der Kirche "austreten" kann man nur in Deutschland, erklärt Tarek Barkouni bei vice.de. Es handelt sich eigentlich nur um die Bekundung gegenüber den Behörden, nicht mehr die vom Staat eingetriebene Kirchensteuer zahlen zu wollen. "Carsten Frerk ist Fachmann für das Thema Kirche bei der humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung. Er kritisiert diese Sonderstellung: 'Bei der Taufe geben Eltern eine Absichtserklärung ab. Sozusagen ein 'Vorkaufsrecht' auf das Seelenheil. Das wird aber erst mit der Konfirmation eingelöst.' Wenn man Kirchenrecht ernst nehmen würde, so erklärt er es, müsste jeder, der sich nicht auch konfirmieren lässt und mit 14 Jahren seine Zustimmung gibt, von der Kirche vergessen werden. Das passiert aber nicht. Die Kirchensteuer ist damit quasi eine Abofalle."
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Kulturpolitik

Mitte Dezember hatten Architekten in einem Offenen Brief gefordert, den Posten der Berliner Senatsbaudirektion von einem Gremium besetzen zu lassen. In einem weiteren Offenen Brief wurde jetzt die Ernennung von Petra Kahlfeldt - "ohne ein Auswahlverfahren und ohne eine öffentliche Diskussion" - zur neuen Baudirektorin von neun Architekten, darunter Philipp Oswalt und Matthias Sauerbruch, kritisiert: "Petra Kahlfeldt steht für die Wiederkehr der Baupolitik der 1990er Jahre. Mit ihr droht der Rückfall in die ideologischen Grabenkämpfe einer Ära, in der zentrale Zukunftsthemen lange vernachlässigt wurden. Mit ihr ist zu befürchten, dass anstelle integrativer Bemühungen für eine 'Stadt für Alle' eine erneute Polarisierung und vordergründige Ästhetisierung baukultureller Fragen tritt. Als Vertraute des ehemaligen Senatsbaudirektor Stimmann steht sie konservativen Kreisen nahe, die sich für die Rekonstruktion der Stadt nach historischem Muster eingesetzt haben. Sie trat mehrfach für eine Privatisierung öffentlicher Flächen ein."

In der Welt ist Gerwin Zohlen vom Verlag Wasmuth & Zohlen empört. Er findet den Brief "hetzerisch" und erhebt vor allem gegen Oswalt schwere, bis ins Persönliche reichende Vorwürfe: "Philipp Oswalt ist als notorischer Querdenker bekannt geworden. Er stammt aus der Frankfurter Bauunternehmer-Dynastie Holzmann und ist seit mehr als 30 Jahren publizistisch tätig, zumeist mit hohem Aufmerksamkeitswert. Er ist Apologet der Formlosigkeit (Berlin - Stadt ohne Form, 2000) ... Oswalt hasst alle Rekonstruktionen, sofern sie nicht die Bauhaus-Moderne betreffen (etwa den Barcelona-Pavillon und die Dessauer Trinkhalle von Mies van der Rohe). Als wortgewandter Rhetoriker trägt er Züge der besessenen Tugendhaftigkeit eines Robespierre."
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Ideen

Langsam aber sicher verschwindet das Bargeld. Das hat viele Vorteile, aber etwas mulmig ist es Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ doch bei der Vorstellung einer endgültigen Entmaterialisierung des Zahlungsaktes. "Auf die Laienfrage, wo genau in einem Computer sich die Strukturen von Information befinden, gibt es keine Antwort. Sie werden also die Auflösung unserer konkreten Beziehung zur Welt doch nicht kompensieren können. So wirkt die bargeldlose Welt wie das Emblem eines breiten Horizonts von Dimensionen, in denen die menschliche Existenz ihren physischen Halt in der Welt zu verlieren droht. Inzwischen macht sich die elektronische Technik daran, genau das, was sie verschwinden lässt, durch das Metaversum - durch die elektronisch erzeugte Suggestion von Raum und Materie - zu ersetzen. Dieses Paradox der digitalen Wiederherstellung dessen, was Elektronik beseitigt, könnte die Zukunft der Menschheit beherrschen. Banknoten werden dann bloß noch eine anekdotische Erinnerung an die Zeit sein, wo das Erleben von Raum und Materie an unsere Körper gebunden war.
Archiv: Ideen

Medien

Die ARD hat demnächst drei Sprecherinnen und drei PressesprecherInnen, zählt Michael Hanfeld in der FAZ auf und nennt die Namen Andrea Barthélémy, Sabine Müller und Anna-Mareike Krause und Justus Demmer, Ulrike Simon und Pia Stein. Nun hat Krause allerdings ihren Rückzug angekündigt, weil ihr Mann stellvertretender Sprecher des Berlines Senats wird. Aus "Staatsferne" wolle sie sich nun weiter mit ihrer Aufgabe als Leiterin des Social-Media-Teams der ARD-Presse begnügen. Hanfeld kommentiert: "das ist auch der Job mit wesentlich mehr Einfluss, von dem wir im Augenblick allerdings nicht wissen, warum sich hier die Frage der Staatsferne nicht stellt."

Stefan Niggermeier thematisiert in seinen Übermedien die bestürzende Ritualisierung deutscher Medien - nicht nur der öffentlich-rechtlichen -, die unbeirrt die "aktuellen Coronazahlen" melden, obwohl alle wissen und auch erwähnen, dass diese Zahlen wegen Weihnachten und schlechter Datenlage schlicht falsch sind: "Auch die 20-Uhr-'Tagesschau' brachte den Hinweis, dass die Zahlen gerade einigermaßen unbrauchbar sind, ebenso wie die Zahlen selbst, unbeirrt anmoderiert mit: 'Hier die aktuellen Infektionszahlen.' Warum? Wären das nicht knapp 30 Sekunden Sendezeit, die man stattdessen mit, sagen wir: Nachrichten füllen könnte?"
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Politik

Nicht nur Wladimir Putin, auch Xi Jinping ist vom Zerfall der Sowjetunion vor dreißig Jahren zutiefst verstört, schreibt China-Korrespondentin Friederike Böge in der FAZ. Anders als die Liberalisierer in der chinesieschen KP zog er darauf die Konsequenz, die Modernisierung mit einem Neostalinismus zu verbinden. Inzwischen, so Böge, gibt es noch eine dritte Erzählung, "in der China zum Sieger eines neuen Systemwettbewerbs deklariert wird: 'Wir haben einige interessante Ähnlichkeiten zwischen den Vereinigten Staaten von heute und der früheren Sowjetunion der siebziger und achtziger Jahre entdeckt', wird ein 'anonymer Experte' in der Global Times zitiert. Als Ähnlichkeiten werden aufgelistet: 'Machtmissbrauch und militärische Expansion, Gerontokratie, übersteigertes Vertrauen in die eigene Ideologie, Unfähigkeit, Fehler zu korrigieren und effektive Reformen durchzuführen'. Der Autor stellt die Frage: 'Werden die Vereinigten Staaten den gleichen Weg gehen wie die Sowjetunion?'"
Archiv: Politik