Efeu - Die Kulturrundschau

Buntfarbig Zweifelhaftes

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11.08.2020. Die taz fürchtet den Angriff der Tradition auf die bescheiden-elegante Nachkriegsmoderne. Die SZ staunt, vor welch rauschenden Dekors die Fotografin Deana Lawson ihre meist armen Modelle in Szene setzt. Flüssiges Gold bewundert die FAZ in der Innsbrucker Inszenierung von Ferdinando Paërs Oper "Leonora". Der Dlf wirft einen ersten Blick auf Lisa Eckharts misanthrope "Omama". Auf Tell plädiert Frank Heibert gegen den Verriss und für eine Demut der Erkenntnis. Die NZZ sorgt sich um die modische Zukunft der Socke.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.08.2020 finden Sie hier

Kunst

Deana Lawson, Vera, 2020. Bild: Kunsthalle Basel

Die Bilder der Fotografin Deana Lawson schmeicheln ihren Modellen nie, trotzdem geben sie ihnen Würde, staunt SZ-Kritikerin Kito Nedo beim Besuch der Ausstellung "Centropy" in der Kunsthalle Basel: "Viele ihrer Modelle spricht die inzwischen in New York lebende Fotografin in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, auf der Straße, in der U-Bahn oder auf ihren Reisen an. Dann baut Lawson gezielt zu den von ihr ausgewählten Menschen eine Beziehung auf. Am Ende dieses Prozesses entstehen dann diese Bilder in denen Pose, Nacktheit und Interieurs in eigentümliche Konstellationen gebracht werden. Die Armut ihrer Modelle wird weder kaschiert und noch vordergründig thematisiert. Sie ist Teil der Wirklichkeit."


Links: Alberto Giacometti,Homme qui marche III en plâtre, 1960, reconstitution de l'atelier de Giacometti, Institut Giacometti, 2018. Coll. Fondation Giacometti, Paris. Rechts: Auguste Rodin, "L'Homme qui Marche" (1905) in Rotterdam. Foto: K. Siereveld/Wikipedia

Das Pariser Institut Giacometti zeigt in einer kleiner Ausstellung dessen schreitenden Mann - in der NZZ vergleicht Philipp Meier ihn sehr schön mit Auguste Rodins "Homme qui marche", der so kraftvoll, selbstbewusst und revolutionär den modernen Menschen verkörperte: "Giacomettis 'Homme qui marche' ist schrundig, dürr und ausgezehrt, einer Mumie gleich, die sich aus den Bandagen befreit hat. Dieser Mann ist kein Held und steht weder für das starke Geschlecht noch für eine heroische Menschheit. Er liest sich vielmehr als zerbrechliche Chiffre für alles Menschliche in seinen Irrungen und Wirrungen. Bei Giacometti gibt es diese schreitenden Männer in allen Variationen und Ausführungen. Und allesamt sind sie keine Eroberer, keine voranschreitenden Söldner und Soldaten. Es fehlen ihnen schlicht die Muskeln dafür. Es fehlt ihnen auch an einer Mission."

Weiteres: Bernd Graff freut sich in der SZ über den Spekulationsaktivismus des Hacker-Künstler Paolo Cirio, der Digital-Reproduktionen von berühmten Bildern erstellt, sie mit einem riesigen Aufdruck des Auktionspreises versieht und sie dann zu einem Bruchteil dessen verkauft: "Dieses Geschäft sei völlig undurchsichtig geworden, der Handel nicht nachvollziehbar, Steuerhinterziehung und Geldwäsche seien an der Tagesordnung, ebenso Insider-Deals, Marktmanipulation, Lobbyismus und Monopolismus." Ivona Jelčić streift für den Standard durch Salzburgs Galerien, die zu den Festspielen auf Bewährtes und Bekanntes setzten. Nicola Kuhn sieht im Tagesspiegel das geplante Exilmuseum in Berlin Gestalt annehmen.

Besprochen werden John Millers Schau "An Elixier of Immortality" im Schinkel Pavillon Berlin (die Georg Imdahl in der FAZ als komplexen Kitsch goutiert) und Bilder des Berliner Malers Max Kaus im Potsdamer Kunstsalon Chiericati (Tsp).
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Architektur

Das Café Seeterrassen in Hamburg, ein ausgesprochen elegantes Beispiel der Nachkriegsmoderne soll abgerissen werden, in der taz sieht der Architekturkritiker Claas Gefroi darin nicht nur einen technokratischen Angriff auf die Nachkriegsmoderne, sondern auch einen ideologischen Furor, der die Rückkehr zur vormodernen Stadtplanung betreibe: "Diese Haltung wird von einer einflussreichen Fraktion deutscher Baudirektoren, Stadtplaner und Architekten geteilt. Eine Schlüsselrolle nimmt das Deutsche Institut für Städtebaukunst unter Architekt Christoph Mäckler ein, eine einflussreiche Organisation für die Wiedererrichtung der traditionellen europäischen Stadt... Sie verlangt die Rückkehr zu Blockstrukturen, hoher Dichte und 'schönen Stadträumen' und übt dafür auch Druck auf die Politik aus. Dahinter steht eine reaktionäre Modernekritik, die nicht nur den Städtebau und die Architektur der (Nachkriegs-)Moderne bekämpft, sondern auch deren soziale und gesellschaftliche Wirkungen negieren will, um in die Stadtgesellschaft des späten 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Publizisten helfen dabei." Gefroi hat eine Petition gegen den Abriss initiiert.

In Hamburg, München und Berlin werden spektakuläre Wolkenkratzer geplant, in der FAZ warnt Matthias Alexander dabei allerdings vor zu großer Vorsicht. Wenn Wolkenkratzer, dann richtig: "Jene 50 bis 90 Meter hohen Stummel, wie sie bisher schon das Baugeschehen in München dominieren, sind städtebaulich wie architektonisch zumeist unbefriedigend, weil das Verhältnis von Höhe und Breite nicht stimmt. Von der ursprünglichen, in Amerika geprägten Entwicklung, Hochhäuser in Clustern in Innenstadtnähe zu errichten, wie sie auch in Frankfurt Anwendung findet, ist dieses Konzept denkbar weit entfernt. Es bewahrt zwar das Stadtbild im Zentrum vor visuellen Veränderungen, nimmt den Hochhäusern aber auch ein entscheidendes Qualitätsmerkmal: In ihnen zu arbeiten oder zu wohnen, macht erst dann richtig Freude, wenn man auf andere Türme in der Nähe schaut. Wolkenkratzer sind gewissermaßen Herdentiere."
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Bühne

Eleonora Bellocci und Paolo Fanale in Ferdinande Paers "Leonora" © Brigitte Duftner ( Festwochen Innsbruck

Beseelt kommt FAZ-Kritiker Werner Grimmel aus Mariame Cléments minimalistischer Inszenierung von Ferdinando Paërs Oper "Leonora" bei den Innsbrucker Festwochen, die er als italienische Version von Beethovens "Fidelio" vorstellt - und zwar als eine überlegene: "Während sich Regisseure bis heute bei 'Fidelio' an den Brüchen zwischen heiterem Singspiel und heroischem Freiheitspathos die Zähne ausbeißen, müssten sie bei Paërs Version keinerlei dramaturgische Schwächen kompensieren. Alle Figuren und Handlungsstränge sind hier psychologisch und musikalisch triftig entwickelt." Und weiter lobt er: "Gesungen wird großartig. Eleonora Bellocci beglaubigt ihre 'Mission' als Fedele alias Leonora gleich zu Beginn vokal souverän mit einer grandiosen Auftrittsarie. Breitbeinig steht sie später mit strahlkräftig aufdrehendem Sopran 'ihren Mann'. Paolo Fanale entpuppt sich in der Rolle des Gefangenen Florestano als nobler Aktivist mit sensationellem, im Forte wie im Piano präsentem, in allen Registern wie flüssiges Gold tönendem Tenor."

Besprochen werden Bruno Max' Schreckensszenarien "Utopia" im Theater im Bunker in Mödling (Nachtkritik, Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Glückselig erinnert sich Paavo Järvi in der FAZ an Kindeszeiten zurück, als Beethoven schon am Frühstückstisch Gesprächsthema mit dem Vater war, sodass der Dirigent mit zehn Jahren schon meinte, "alles über Beethoven zu wissen". Ein Irrtum, wie ihn die spätere Konfrontation mit abweichenden Beethoven-Interpretationen lehrte. Mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen erkundete er dann selbst das Werk des Komponisten und drang zum Kern des Pudels vor: "Nur die ausdauernde Untersuchung jedes Punktes, jeder Linie, jeder Artikulationsanweisung mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die ausgedehnten Experimente, die endlose Wiederholung der Aufführungen brachte uns langsam dahin, zu verstehen, was Beethoven mit seiner Notation tatsächlich gemeint habe."

SZ-Kritiker Harald Eggebrecht atmet in der SZ auf: Was für ein Segen, wieder Musiker live spielen zu sehen. Konkret geht es um die Sommerlichen Musiktage in Hitzacker. Zu sehen gab es dort unter anderem "wie Isabelle Faust sich in die vertrackte Poesie Bachscher Violinpolyphonie versenkt; wie Valeri Afanassiev aus dem Bösendorfer Flügel majestätischen Klavierklang bei Schubert und Chopin herausholt; wie das Signum- Quartett das Publikum unwiderstehlich rockt mit Musik von Led Zeppelin und Radio Head; wie der Musikweise Eberhard Feltz mit dem Kuss Quartett die Knappheiten der Musik György Kurtags erkundet; wie sich die Open-air-Konzerte im Kurpark mit Vogelsang, Grillenzirpen und Hundegebell wundersam mischen."

Weitere Artikel: Für den Freitag spricht Jakob Buhre mit der Rapperin Nura, die gerade ihre (in der Berliner Zeitung besprochene) Autobiografie "Weißt Du, was ich meine" veröffentlicht hat. In der Zeit stellt Jonas Vogt Peter Pichler vor, der sich wissenschaftlich mit der Frühgeschichte von Metal befasst. Die Berliner Zeitung plaudert mit Jürgen Drews.

Besprochen werden das von Andris Nelsons dirigierte Mahler-Konzert der Wiener Philharmoniker bei den Salzburger Festspielen (SZ, weiteres dazu und ein Mitschnitt hier), die Compilation "Tonal Unity Vol. 2" mit experimenteller Musik aus Korea (taz), David Yaffes Biografie über Joni Mitchell (Jungle World) und ein Buch von Peter Kemper über Eric Clapton (SZ).
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Literatur

In der Berliner Zeitung verneigt sich Götz Aly vor Lisa Eckhart, die "ihr Publikum nicht mit ziemlich vorhersehbaren links-sozialen Witzeleien streichelt". Statt dessen stößt sie "den geneigten Zuschauer in gut verdeckte Fallgruben. Sie verstört, zudem stammt sie aus Österreich. ... Sie hat Erfolg. In wenigen Tagen erscheint 'OmamaÄ, ihr erster Roman. Aber der Erfolg einer ausländischen, irgendwie rätselhaften Frau scheucht die heimischen Neider aus ihren Schnarchkojen - gerade so, als gelte es, einen Führerbefehl zu exekutieren." (Mehr zu den Diskussionen um Eckhart hier). Für den DLF hat Jan Drees bereits Eckharts für den 17. August angekündigtes Romandebüt "Omama" gelesen und erklärt: "Schon früher hat Lisa Lasselsberger, so ihr bürgerlicher Name, "hingewiesen auf die Differenz zwischen ihr und Lisa Eckhart. Diese Differenz wird auf den letzten Seiten von 'Omama' eklatant. Rassismus, Sexismus und Ausgrenzung werden deutlich abgewehrt. Die Erzählerin beklatscht die Ansichten ihrer Großmutter nicht."

In der FAZ erzählt Michael Hanfeld, dass es nie "Drohungen" gegen den Auftritt von Eckhart im "Nochtspeicher" gegeben habe, sondern nur "Warnungen vor Gewaltanwendungen". Auf Nachfrage "habe der 'Nochtspeicher' mitgeteilt, 'dass man hinsichtlich der Einschätzung zu erwartender Gewalttätigkeiten nicht zwischen Warnungen und Drohungen unterscheide und bei der Absage einer Veranstaltung mit Lisa Eckhart bleibe'." Kurz: Der Nochtspeicher hat erst Eckharts Auftritt ohne Not abgesagt und anschließend vor der "bedrohlich um sich greifenden 'Cancel Culture'" gewarnt. So behält man seinen Kuchen und isst ihn.

Tell diskutiert weiter darüber, was Literaturkritik soll, darf und sein könnte. Man müsse schon Elefanten und Fliegen voneinander trennen können, schrieb Sieglinde Geisel in einem früheren Plädoyer für den beherzten Verriss. Dieses "hohe Ross des Bescheidwissens" bereitet Frank Heibert jedoch "Unbehagen". Wer so auftritt, müsse sich das Recht dazu auch "erwerben (und sich dessen auch bewusst bleiben): erstens, indem er seine Maßstäbe offenlegt, zweitens, indem er sich bemüht, argumentativ zu überzeugen, und drittens durch die Demut der Erkenntnis, dass andere Meinungen möglich sind und mit einem Verriss nicht gleich mitverrissen werden dürfen. Oft beschränkt sich ein Verriss ex cathedra auf die Verkündung eines Urteils und verlässt sich dabei mehr auf Prominenz und Polemikgeschick des Kritikers als auf eine transparente Argumentation."

Außerdem: In der "55 Voices"-Reihe von SZ und des DLF kommt die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Heike Paul unter anderem auf das zuletzt wieder populär gewordene literarische Genre der feministischen Dystopie zu sprechen: Die darin "beschriebenen fundamentalistischen Renationalisierungen erscheinen leider weder weit hergeholt noch völlig unrealistisch." In der NZZ meditiert Sarah Pines über die Rose im Lichte der Literatur.

Besprochen werden unter anderem Monika Marons "Artur Lanz" (Tagesspiegel), eine neue Kurzgeschichtensammlung von Stephen King (SZ), Christoph Höhtkers "Schlachthof und Ordnung" (Intellectures) und Dirk van Gunsterens und Nikolaus Stingls Neuübersetzung von John Dos Passos' "USA-Trilogie" (FAZ).
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Film

Mit seiner Entscheidung, Kinofilmen nur noch ein Auswertungsfenster von 17 Tagen zu gewähren, könnte der US-Major Universal, den eh schon angeschlagenen Kinobetrieb noch zusätzlich ramponieren, fürchtet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Die Art, wie in Hollywood seit jeher Geschäfte gemacht werden, stellt dieser Deal einfach mal auf den Kopf. Der Grund sind die großen Verluste der Filmproduzenten in der Coronazeit, die sie mit dem Heimkinogeschäft wenigstens mindern möchten."

Außerdem: Jenni Zykla bespricht im Freitag die Netflix-Serie "Cursed". In der FAZ gratuliert Martin Lhotzky dem Schauspieler Peter Weck zum 90. Geburtstag.
Archiv: Film

Design

"Die Socke ist das Sorgenkind der Mode", seufzt Paul Jandl in der NZZ, denn wer mit Socken hantiert, steht eigentlich immer schon einem halben Fuß im Aus dessen, was gerade noch zulässig ist: "Brave Bürger in ihren Brave-Bürger-Anzügen sagen plötzlich: Aber meine Socken, hey!, wenn sie zwischen grauer Hose und Komfortschuh buntfarbig Zweifelhaftes tragen. Socken! Mit keinem anderen Kleidungsstück kann man so schnell in No-go-Bereiche tappen, vor denen uns die Anziehgouvernanten und Karrierecoaches warnen. Zu Anzügen immer Strümpfe, niemals Socken. Zu Sandalen weder Socken noch Strümpfe. Beim Geschlechtsakt auch keine Socken. Wann denn überhaupt?"
Archiv: Design
Stichwörter: Socken