Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
23.08.2005. Die Franzosen verreißen den neuen Houellebecq, die Deutschen feiern ihn - bis jetzt zumindest. Der Economist ertastet die Muckis der deutschen Wirtschaft. Outlook India fragt, ob koloniale Demütigung der Grund für Selbstmordattentate sei. Al-Ahram hält das für Unsinn. Der Spectator geißelt ein Bündnis zwischen islamischen Fundamentalisten und westlichen Marxisten. In Tygodnik Powszechny erzählt Andrzej Stasiuk von einer Reise ins schwarze Loch Europas. Im ES-Magazin denkt der Schriftsteller Yann Martel über Identitäten nach. Die New York Times stellt einen jüdischen Sammler antisemitischer Kunst vor.

Nouvel Observateur (Frankreich), 18.08.2005

Die französischen Magazine stehen in dieser Woche alle im Bann des neuen Romans von Michel Houellebecq, "La Possibilite d'une Ile" (Fayard), der am 31. August in die Buchläden kommt und um den es im Vorfeld jede Menge Geheimniskrämerei gab. Der Nouvel Obs prophezeit in seinem Ausblick auf den französischen Bücherherbst, dass es "der absolute Renner" werden dürfe. Die Science-Fiction Geschichte um die Hauptperson Daniel und ihre Klone geht mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren an den Start. An das zu erwartende Verkaufsereignis hängen sich naturgemäß noch ein paar andere: So erscheint eine - nicht-autorisierte - Biografie des Le-Point-Journalisten Denis Demonpion über Houellebecq, die mit "Enthüllungen" aufwarten will. Eric Naulleau legt mit "Au secours, Houellebecq revient!" (Chiflet & Cie., mehr hier) einen Verriss vor und bezeichnet den Autor darin als "literarischen Absturz" (degringolade litteraire). Bei Cherche Midi erscheint schließlich eine "Verteidigung" durch Houellebecqs Freund, den spanischen Schriftssteller und Lyriker Fernando Arrabal (mehr); eine Gedichtzeile Arrabals stiftete den Titel von Houellebecqs neuem Buch.

Figaro (Frankreich), 18.08.2005

Im Figaro litteraire verrät der Schriftsteller Angelo Rinaldi (mehr) - dem die Fahnen des Buchs zugespielt worden waren, dies aber in der fiktiven Geschichte verpackt, er habe das Buch auf einer Parkbank gefunden - dann etwas über den Inhalt von Houellebeqcs Buch: Es geht um eine Zukunft, in der Menschen geklont, eingefroren werden und bei Bedarf wieder aufgetaut werden und auf diese Weise immer wieder auferstehen können. Erzähler ist Daniel, der "sehr oft geklont wird". "Als sein 25. Klon irrt Daniel über einen Planeten, auf dem man die 'Rotationsachse verändert' hat. Er ist von 'Neu-Menschen' (neo-humains) bevölkert, Individuen des alten Modells, die den Laborexperimenten entkommen sind und nun nicht mehr sind als neandertalerartige Gnome mit knurrendem Mägen. Man schießt auf sie, um sich zu amüsieren. War es nicht Cocteau, der über die 'tödliche Langeweile der Unsterblichkeit' sprach?" Am Ende seines Verrisses fragt sich Rinaldi, ob der ganze Roman "nicht von einem Humor zeugt, der nur für ein paar Eingeweihte taugt". Sein Urteil ist erbarmungslos: "Lächerlich". Und: "ein Blindgänger".
Archiv: Figaro
Stichwörter: Langeweile, Unsterblichkeit

Le Monde (Frankreich), 20.08.2005

In Le Monde gibt Michel Houellebecq dann persönlich Auskunft über sein Buch und seine Schreibgewohnheiten. Er erklärt, dass er am liebsten schreibe, wenn er "noch nicht ganz wach" ist. Außerdem habe er nach dem Schreiben des jüngsten Buchs eigentlich den "Geschmack an Science-Fiction" und dem Thema Klonen schon wieder verloren. "Ich habe den Eindruck, dass mich das alles nur interessiert hat, um es schreiben zu können." So sei es ihm auch schon mit dem Thema seines Romans "Plattform" gegangen. Schließlich bekennt er, "militanter Schopenhauerianer, und deshalb Antihegelianer" zu sein. Nietzsche habe den "Zugang zu Schopenhauer nachhaltig versperrt". Allerdings verdanke er ihm seinen ersten "öffentlichen Auftritt". Im Gymnasium habe er bei der Nietzsche-Lektüre im Deutschunterricht dessen Text über den "letzten Menschen" widersprochen. "Ich wurde aus dem Kurs ausgeschlossen und bin mit der Würde eines Märtyrers gegangen. Und dann habe ich Schopenhauer entdeckt und festgestellt, dass Nietzsche nur einen winzigen Teil von dessen Denken abdeckt."
Archiv: Le Monde

Spiegel (Deutschland), 22.08.2005

Auch Romain Leick hat den neuen Houellebecq bereits gelesen - und ist begeistert. Ganz klar, meint Leick, "Houellebecq, der Depressive, der Erschöpfte und Gehetzte, der skandalöse Sexwütige, das Inbild des Weltschmerzes" ist in Wahrheit ein "unheilbarer Romantiker". Und noch ein Missverständnis kann Leick ausräumen: Houellebecqs Kritiker haben keine Ahnung und sind "in Wahrheit meist neidvoll, hasserfüllte Verfolger". "Nur weil Houellebecq mit aufreizender Flachheit eine flache, sich zu Grunde richtende Welt beschreibt, ist das Ergebnis nicht selbst flach und hohl. Sein Sujet ist der moderne Trash, der alle Lebensbereiche der Spaßgesellschaft durchdringt; aber der Roman ist deswegen nicht auch Trash." (Auch Volker Weidermann lobt den Roman in der FAZ am Sonntag, wenn auch nicht ganz so enthusiastisch.)

Weiteres: Zwei Wochen sind es bis zum großen Fernsehduell Schröder-Merkel. Thomas Tuma kann schon jetzt das ganze Polit-Gequassel nicht mehr ertragen: "Die Republik wird zerredet. Rund 40 Talk-Formate bieten die Sender mittlerweile regelmäßig auf. Das Palaver ist billig und einfach herzustellen. Getalkt wird über alles, und wenn dabei noch ein paar Polit-Köpfe zu sehen sind, gilt die Show bereits als seriöses Informationsprogramm."

Der Titel beschäftigt sich mit der neuen Linken, die vor allem im Osten erfolgreich agiert. In einem kurzen Interview spricht FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher über die geplatzten Pläne, mit Hans Magnus Enzensberger die Buchreihe "Frankfurter Allgemeine Bücherei" herauszugeben. Auf die Frage "Ist die Buchreihe damit beerdigt?" antwortet er erstaunlich: "Keineswegs. Im September geht es weiter. Da beginnt eine sehr schöne Comicreihe, die von den Donaldisten des FAZ-Feuilletons herausgegeben werden wird."
Archiv: Spiegel

Economist (UK), 18.08.2005

Der Titel des Economist war der Online-Ausgabe des Spiegels am Donnerstag eine Meldung wert, und am gleichen Abend hielt Bundeskanzler Schröder ihn stolz bei Maybrit Illner hoch. Und ist er nicht schön? "Germany's surprising economy" steht da über einem anmutigen Adler, der beachtliche Muckis zeigt. Danke! Die Deutsche Wirtschaft - lange Zeit belastet durch zweistellige Arbeitslosenzahlen und ein geringes Wachstum - scheint kurz vor einem Aufschwung zu stehen, "wenn die Politiker nach den Bundestagswahlen im kommenden Monat nicht alles zunichte machen", meint das liberale Wochenmagazin (leider nicht online). "Der enorme Wettbewerbsdruck hat die großen Unternehmen in den vergangenen Jahren dazu gezwungen, sich umzustrukturieren und die Kosten zu senken. Zum ersten Mal wurde dieser Weg gemeinsam mit den Gewerkschaften beschritten, die lange Zeit jeglichem Wandel im Wege standen. Die deutschen Arbeiter haben mit Verspätung erkannt, dass Änderungen zum Überleben notwendig geworden sind. Dehalb haben sie in den vergangenen Jahren Neuerungen wie die Ablösung des Flächentarifvertrags durch Branchenvereinbarungen, längere Arbeitszeit und sogar Lohnkürzungen akzeptiert. Wenn der Motor der stärksten Wirtschaftsnation Europas wieder anspringt - immerhin erbringt Deutschland fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts der Euro-Zone - dürfte sich das auch außerhalb der deutschen Grenzen auswirken".

Online lesen dürfen wir einen weiteren Special Report, der Parallelen zieht zwischen Bombenattentaten, die Anarchisten im 19. Jahrhundert verübten, und denen der Islamisten heute. Eine kritische Besprechung widmet sich Howard M. Sachars "A History of the Jews in the Modern World".

Archiv: Economist

New Yorker (USA), 29.08.2005

In einem schwindlig machenden, faktenreichen Bericht erklärt Malcolm Gladwell, warum das amerikanische Gesundheitssystem nicht funktioniert. Es habe laut der Studie "Uninsured in America" inzwischen eine "Gruppe von Menschen geschaffen, die zunehmend anders aussehen als andere und unter anderen Krankheiten leiden als andere". Der Hauptgrund für private Bankrotte seien "unbezahlte Arzt- und Arzneirechnungen". Dabei sei es "eines der großen Geheimnisse des politischen Lebens in den USA, warum sich die Amerikaner derartig anhänglich gegenüber ihrem Gesundheitssystem zeigen. Sechs Mal wurde im letzten Jahrhundert versucht, irgendeine Art allgemeiner Krankenversicherung einzuführen und jedes Mal scheiterten sie." Letztlich, so versucht Gladwell dies zu erklären, sei das amerikanische Gesundheitssystem nichts als ein "geschichtlicher Unfall". Anders als in Europa, wo sich die Gewerkschaften politisch für die Durchsetzung entsprechender Programme für alle Bürger eingesetzt hätten, konnten die amerikanischen Gewerkschaften "nur für ihre Mitglieder einen Vorteil erzielen. Krankenversicherung war hierzulande immer etwas Privates und Selektives, und jeder Versuch, die Leistungen zu erweitern, endete in einer paralysierenden politischen Schlacht."

Peter Schjeldahl rezensiert den zweiten Band einer Biografie über Henri Matisse ("Matisse the Master: The Conquest of Colour 1909-1954", Knopf). Die Kurzbesprechungen widmen sich Büchern mit Korrespondenzen, Schriften und Gedichten von Lyrikern, darunter Dick Barnes, Amy Clampitt und Louise Bogan. Sasha Frere-Jones schwärmt vom "intimen Sound" der Sängerin Emiliana Torrini. Alex Ross schreibt über das Programm des diesjährigen Mostly Mozart Festival im Lincoln Center, das noch bis 27. August läuft. Hilton Als bespricht die Musikrevue "Lennon" und das Theaterstück "Dedication or The Stuff of Dreams" von Terrence McNally. David Denby sah im Kino "Pretty Persuasion" des Musikvideo-Veteranen Marcos Siega und den Dokumentarfilm "The Aristocrats" über amerikanische Komiker von Paul Provenza and Penn Jillette. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The View from Castle Rock" von Alice Munro.

Nur in der Printausgabe: eine Bericht über liberale Medien, eine Reportage über - vermutlich ökologisch korrekte - Leichenhemden und Beerdigungen in Kalifornien und Lyrik von Ishmael Reed und Vijay Seshadri.
Archiv: New Yorker

Outlook India (Indien), 29.08.2005

Moderne Selbstmordattentate haben eine Geschichte, die ins Jahr 1972 zurückreicht, als ein Mitglied der Japanischen Roten Armee auf dem Flughafen von Tel Aviv um sich schoss und am Ende seinem Leben ein Ende setzte. Und sie setzen in der Gegenwart des islamistischen Terrors eine Flut von widersprüchlichen Erklärungen frei: Die einen, fasst Ashish Kumar Sen im Aufmacher dieser Ausgabe zusammen, sehen die Attentäter unter dem Einfluss "apokalyptischer Visionen", mit denen die erlittene "kulturelle Demütigung exorziert" werden solle. Andere, beispielsweise Robert A. Pape in seinem Buch "Dying To Win: The Strategic Logic of Suicide Terrorism", gehen von vollkommen rationalen, strategischen Motiven aus: Die Anschläge würden demnach verübt, um "moderne Demokratien zu zwingen, ihre Militärkräfte aus Territorien abzuziehen, die Selbstmordattentäter als ihre Heimat betrachten".

Auch in Indien stellt sich derzeit eine kulturelle und politische Elite dar, indem sie mit viel Aufwand eines großen Autors der Vergangenheit gedenkt: Vor 125 wurde Munshi Premchand geboren, der die traditionsverhaftete Hindi-Literatur der Moderne öffnete. Im Zuge der Feierlichkeiten könnten am Ende ausgerechnet einige von denen als Verlierer dastehen, deren Schicksal Premchand ins Zentrum seiner Literatur gestellt hatte - Indiens Arme. Warum, verrät Anuradha Raman.
Archiv: Outlook India

Spectator (UK), 20.08.2005

Douglas Davis wundert sich über die neuen Allianzen, die sich "im Kampf gegen den Kampf gegen Terror" formieren: rote Bündnisse aus islamischen Fundamentalisten und westlichen Marxisten, wie zum Beispiel die International Campaign Against US and Zionist Occupations (mehr hier): "Mögliche Differenzen zwischen der äußeren Linken und dem radikalen Islam - unter anderem zu den Punkten Demokratie, Menschenrechte, Fremdenfeindlichkeit, freie Meinungsäußerung, Homosexualität, Abtreibung - sollten unüberwindliche Hürden für eine solche Union darstellen. Sind sie aber nicht. Die Hürden wurden einfach eingestampft im Interesse eines beidseitigen Hasses: auf Amerika, Israel, Globalisierung , Kapitalismus und Imperialismus. Und nicht weit unter der Oberfläche scheint auch der Antisemitismus durch."
Archiv: Spectator

Al Ahram Weekly (Ägypten), 18.08.2005

Der Politologe Abdel-Moneim Said weist alle zurecht, die islamistischen Terror mit kolonialer Demütigung begründen: "China ist ungefähr genauso groß wie die arabische Welt und hat etwa so viele Einwohner, wie es Muslime gibt. Auch die Chinesen hielten sich für das Zentrum der Welt und die zivilisierteste aller Nationen." Dann kamen die Briten, forderten Zugang zum Kaiser und der Verbotenen Stadt und begannen den Opiumkrieg. Am Ende brach das chinesische Reich zusammen, fährt Said fort. Die Chinesen mussten 1842 das Abkommen von Nanking unterzeichnen, das den Briten Immunität zusagte, selbst wenn sie Verbrechen auf chinesischem Gebiet begingen. Das Opium wurde in China legalisiert, gleichzeitig wurden Tausende Chinesen in die Sklaverei verschleppt. "Ähnliche Dinge geschahen in der arabischen und muslimischen Welt, wenn auch nichts so extremes wie Opium und Sklaverei. Doch es waren nicht Chinesen, die in London Menschen töteten. Stattdessen erwarben sie die Stärke, die in der Welt von heute von Nöten ist."
Archiv: Al Ahram Weekly

Tygodnik Powszechny (Polen), 21.08.2005

Andrzej Stasiuk ist wieder nach Albanien gereist - ins "schwarze Loch Europas", wie er es nennt. "Hier war 600 Jahre lang die feudale Türkei, dann ein kurzer Paroxysmus der Freiheit zwischen den Krieg, und dann eine Katatonie des tribalen Kommunismus. Ich weiß selbst nicht, warum ich hergekommen bin. Es gibt hier keine Exotik. All diese Dinge, die Gerüche und all der Rest - das gibt es auch anderswo. Hier sind sie nur übersteigert, vervielfacht und herausfordernd wie billiges, starkes Parfüm in einem engen Raum."

Israel ist kein europäischer Außenposten im Nahen Osten, sondern ein Teil dieser Kultur - des Mittelmeerraums, stellt der israelische Schriftsteller Amos Oz im Interview mit dem polnischen liberal-katholischen Magazin fest. "Gerade in Israel sind die Traditionen der mediterranen Zivilisation am stärksten. Wir sind ein Land des Weins und der heißen Sommer, der Mittagsruhe und der langen Abende, ein Land des Handels und der schlechten Böden - so wie Griechenland, die Provence oder die Türkei."

Außerdem: Joachim Trenkner erzählt die Geschichte von Roland Jahn - einem deutschen Rebellen, der in den Achtzigern in Jena öffentlich die Solidarnosc unterstützte. "Er ließ sich von der Stasi nicht einschüchtern - obwohl er jahrelang verfolgt, von der Universität geschmissen, oft verprügelt und im Gefängnis isoliert wurde - er blieb ein Rebell. Einer der außergewöhnlichsten Oppositionellen in der Geschichte Ostdeutschlands. Ein sturer Individualist, ein enfant terrible der Friedensbewegung in Jena."

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.08.2005

Der Schriftsteller Peter Nadas hat die ständige Ausstellung des kleinen französischen Dorfes Le Vernet besucht, wo die von Serge Klarsfeld gesammelten Fotografien der im dortigen Konzentrationslager ermordeten Kinder zu sehen sind: Klarsfeld "drang in die Wildnis der Geschichte ein und trug nach jahrzehntelanger hartnäckiger Arbeit Amateurfotografien aus dem Dickicht heraus, mit denen niemand gerechnet hatte. Niemand wollte mit ihnen rechnen. Warum sollte sich jemand an die Gesichter der ermordeten Kinder von unbekannten Menschen erinnern, wen interessiert das?" Nadas überlegt, warum er die lange Reise nach Le Vernet gemacht hat: "Es ist nicht die Neugier, in mir ist kaum noch Neugier. Emotional hat es sicher Ähnlichkeit mit dem, was Jahrhunderte früher die Pilger leitete: Für eine Schuld zu büßen, die ich nicht auf mich geladen habe, nie auf mich laden will, mich seelisch gegen die Realität der kontinuierlichen und massenhaften Ermordung und Folterung von Menschen zu verteidigen. Büßen für das bloße Überleben, obwohl mein Überleben nicht mein persönlicher Verdienst ist, ich kann es nicht einmal als ein Geschenk betrachten. Zu Orten zu laufen, wo Menschen gelitten haben und gestorben sind. Die letzte Ehre erweisen, aber nicht im weltlichen oder im geistlichen Sinne des Wortes, nein, sondern um weder den Ort noch die Existenz dieser Menschen zu vergessen."

Der kanadische Autor und Booker-Prize-Träger Yann Martel erklärt im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Laszlo L. Szigeti, warum Identität komplexer ist, als die nationalen und sprachlichen Schubladen, in die man sie oft hineinquetschen will: "Meine Kultur ist französisch, aber ich schreibe auf Englisch. Wissen Sie, heutzutage betrachten wir jede Art von Komplexität mit einem gewissen Argwohn. Aber die Identität ist nun mal eine sehr komplexe Sache ... Unsere Identitäten gestalten sich nach Rasse, Kultur, Religion, Geschlecht, sogar nach unserer Figur. Es gibt korpulentere Menschen unter uns, die diesen Zustand in ihr alltägliches Selbstbild integrieren. Aber wenn man morgens aufsteht, denkt man nicht darüber nach, ob man die Identität eines Dicken, eines Vegetariers, eines Homosexuellen, eines säkularen Katholiken, eines Italieners oder Kanadiers hat, man erlebt einfach diesen Morgen. ... Ich bin mit Chomsky der Meinung, dass die Sprache nichts anderes ist als ein ausgefeiltes Geschnaube. Ob wir auf Ungarisch, Deutsch oder Englisch schnauben, hat keine Bedeutung. Die wahre Tragödie ist es, keine einzige Sprache wirklich gut zu kennen, denn dann bleibt einem der Reichtum aller Sprachen verborgen - aber es ist egal, welche Sprache das ist."

Espresso (Italien), 25.08.2005

Marco Müller, Leiter des in einer guten Woche beginnenden Filmfestivals in Venedig, verteidigt sich im Interview mit Alessandra Mammi gegen den Vorwurf, die diesjährige Auswahl sei zu konventionell. Filmfestivals sind nicht dazu da, schimpft Müller, um Medienevents wie einen Michael Moore zu präsentieren, sondern um Filme ins Kino zu bringen, die sonst untergehen würden. "Roberto Benignis Film ist nicht in Venedig, weil er das nicht braucht. Aber Ang Lees homoerotischer Western 'Brokeback Mountain' über zwei verliebte Cowboys muss auf dem Festival vertreten sein. Und ohne Venedig würde Laurent Cantet, der derb den Sextourismus der reichen und reifen Damen beschreibt, die in Haiti auf der Jagd nach Gigolos sind, wahrscheinlich nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die er verdient." (Cantets Film heißt "Vers le Sud")

Für die Titelgeschichte befragt Andrea Visconti die in England geborene und in den USA arbeitende Journalistin Tina Brown, was sie denn so großartig an den "American Women" findet, deren prominentesten Vertreterinnen der Fotograf Bryan Adams einen glamourösen Bildband gewidmet hat. "In den Vereinigten Staaten sind die Frauen überzeugt von sich selbst, und es gibt für sie kein Limit bei dem, was sie erreichen können. Die Engländerinnen - die ich genauso gut kenne wie die Amerikanerinnen - verlieren im Laufe ihres Lebens Schritt für Schritt die Sicherheit, die sie als Zwanzigjährige einmal hatten."

Außerdem begrüßt der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun im Meinungsteil den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen als notwendige Form einer Reparationszahlung an die Palästinenser, die den Weg zu dauerhaftem Frieden ebnen könnte.
Archiv: Espresso

Polityka (Polen), 17.08.2005

Papst Benedikt XVI. wird auf jeden Fall der Star des Weltjugendtages in Köln werden, schreibt Anna Tyszecka. Nur - wie kommt er eigentlich in seiner Heimat an als Kirchenoberhaupt? "Für die Polen war ein Landsmann als Papst ein Grund zum Stolz, Balsam für die Seele. In Deutschland, dem Land der Reformation, der rebellischen Theologen und der leeren Kirchen, ist das Verhältnis zum Papsttum ambivalent. Was die Polen freut - die Fortführung der konservativen Glaubenslehre von Johannes Paul II. - stößt in Deutschland auf Widerstand, auch innerhalb der Kirche." Vielleicht deshalb hatte Lech Walesa letztens die Idee, Benedikt XVI. die polnische Staatsbürgerschaft zu verleihen.

Weitere Artikel: Ungeachtet der aktuellen Spannungen im polnisch-russischen Verhältnis dreht ein russischer Fernsehsender in einem polnischen Schloss in Grodziec gerade eine weitere Reality Show, berichtet Igor T. Miecik. "Imperium" heißt die Show. "Im russischen Fernsehen gibt es keine wirkliche Information, dafür aber Spiele, wie sie es nicht mal in den USA gibt. Eine Show von byzantinischer Fülle und Größe - man kann den ganzen Tag nur mit diesen Sendungen verbringen." Und: "Nowa Huta wird trendy". Der proletarische Vorort von Krakau, ein Denkmal der sozialistischen Architektur, wirbt sogar mit einer eigenen Kampagne. "Dass Nowa Huta für Westler interessant ist, zeigen viele Internetseiten. Für einige Besucher sind solche Orte wie Nowa Huta oder der Kulturpalast der einzige Beweis für die Existenz des Kommunismus in Polen. Man sollte sie erhalten, pflegen und besser promoten", finden die drei Autoren des Artikels.
Archiv: Polityka

New Statesman (UK), 22.08.2005

Michael Bywater beklagt den Tod des britischen Witzes. Auf dem Fringe Festival in Edinburgh hat nun die politische Comedy übernommen. "Die Welt des Witzes ist zunehmend leer, wie ein heruntergekommener Urlaubsort. Sie war klein, diese Welt des Witzes, dünn besiedelt aber abwechslungsreich, mit übermäßig vielen Juden (inklusive Gott), Iren, Pakistanis, Bartendern, Richtern, abgerichteten Hunden, Geigern, Prostituierten, Blonden und Ärzten. Und jetzt ist ihre Zeit abgelaufen. Wenn die Comedians, die für uns mit den glitschigen, ironischen Zweideutigkeiten des Lebens hantieren, die postmoderne Priesterkaste sind, dann ist der Witz das brutale Tieropfer eines alten Glaubens."
Archiv: New Statesman

New York Times (USA), 21.08.2005

Im New York Times Magazine versucht Boris Fishman herauszufinden, warum der britische Arzt Simon Cohen als orthodoxer Jude antisemitische Kunst sammelt und sie nächstes Jahr in London als Warnung ausstellen will. "Jüdische Sammler von antisemitischem Material finden, anders als die meisten anderen ernsthaften Sammler, ihr Thema abstoßend, aber genau wie alle anderen sammeln sie doch wie besessen. Die Nachfrage hat dazu beigetragen, einen Markt zu schaffen, auch wenn der meist im Untergrund stattfindet."

Weitere Artikel: Der Ölverbrauch steigt, die Fördermenge könnte aber bald aus geologischen Gründen stagnieren, wenn nicht sogar fallen, warnt Peter Maass in einer alarmierenden Titelgeschichte. Andrew Rice beobachtet den ehemaligen Starfußballer George Weah, der als Präsidentschaftskandidat für Liberia antritt und hofft, mit seiner Prominenz den seit Jahrzehnten immer wieder aufflackernden Bürgerkrieg beenden zu können. Obwohl sie sich kürzlich praktisch aufgelöst hat, ist die Unterstützerorganisation America Coming Together der Anfang vom Ende der herkömmlichen Parteien, prophezeit Matt Bai. Jack Hitt sieht das steigende Bedürfnis vieler Landsleute, sich einen Indianer im Stammbaum zuzulegen, als Verlangen nach mehr Bodenhaftung im so mobilen und flexiblen Amerika.

Die New York Times Book Review: Reichhaltig, aber ein wenig zu chaotisch findet Daphne Merkin Stephen G. Kellmans Biografie "Redemption" des Schriftstellers Henry Roth. Der Mann bleibt ein Geheimnis, da hilft auch die Enthüllung des inzestuösen Verhältnisses mit seiner Schwester nichts. Es gibt nicht mehr viele gute Porträtisten, meint Jeff MacGregor, weshalb er die Auswahl von neun "Character Studies", die der "grandiose" Reporter Mark Singer für den New Yorker über besessene Magier, Bauern oder Bauherren verfasst hat, auch sehr genossen hat. Die Präsidenten der Vereinigten Staaten haben ihre Macht in Sachen Krieg weit über das, was die Verfassung zulässt, ausgedehnt, da stimmt Emily Bazelon Peter Irons zu. Seinen Rat, in Sachen "War Powers" einfach auf die Gerichte zu vertrauen, hält sie aber für naiv. Dass in Robert Littells neuem Spionagethriller "Legends: A Novel of Dissimulation" weder Hochgeschwindigkeitsjagden noch artistischer Sex eine Rolle spielen, beweist Neil Gordon wieder einmal, dass Littell zu den Besten des Genres zählt. Und Christopher Hitchens stellt drei neue Bücher über Piraten in Amerika vor.

"Die Hölle sind die anderen Kunden", wütet Charles Taylor frei nach Sartre, der nicht in Ruhe bei Barnes and Nobles stöbern kann, ohne über am Boden sitzende Buchladenbewohner zu stolpern. Krimispezialistin Marilyn Stasio seufzt dagegen über ein neues Sub-Genre: Mystery-Chick-Lit. "Dünne Geschichtchen. Witzige Titel. Saftige Umschlagskunst. Na, wird hier ein Muster deutlich?" Vielleicht wird es das in dieser netten kleinen multimedialen Beigabe.
Archiv: New York Times