Im Kino

Dreizeit

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
22.12.2010. In seinem Film "Drei" erzählt Tom Tykwer vom Leben in Berlins kulturell arrivierten Schichten und zwar mit einem hundertköpfigen Orchester aus Pauken und Trompeten. In "Nostalgia de la luz" begibt sich Patricio Guzman in die Atacama-Wüste, um die astronomische und chilenische Vergangenheiten zu erforschen.

Das Leben, wie es ist, jetzt, heute, in Berlin, in kulturell arrivierten Schichten, das Leben, seine Widrigkeiten, Möglichkeiten, die Liebe, der Tod, der Sex, der Erfolg, die großen Dinge, die kleinen Dinge und auch die mittleren: all das möchte Tom Tykwer in einen Film stopfen, dessen Titel "Drei" zwar den Grundriss des Films vorgibt, auf den Tykwer dann aber eine Gerümpelkammer kreuz und quer aufgelesener Bedeutsamkeiten errichtet, in deren Überzahl jeder klare Gedanke und jedes klare Gefühl heillos erstickt.

Der Grundriss: Hanna (Sophie Rois) und Simon (Sebastian Schipper) sind seit zwanzig Jahren ein Paar. Er baut Kunstwerke für Künstler. Sie moderiert eine Fernsehsendung a la Kulturzeit. Kinder haben sie keine. Sex eigentlich auch nicht mehr. Das geht, mit Robert Wilson und Sasha Waltz und was der geschmäcklerischen Dinge mehr sind, seinen Gang. Naja, Gang: Im Splitscreen hängt alles mit allem gleich am Anfang zusammen und rast durcheinander. Wie stets noch, wenn er das Drehbuch selber schreibt, spielt Tykwer Schicksal. Und zwar mit einem hundertköpfigen Orchester, das nur aus Trompeten und Pauken besteht.


Taucht also eines Abends Angela Winkler auf und ist eine Mutter bzw. Schwiegermutter, die einen Krebs hat, die euthanasiert und dann auf eigenen Wunsch plastiniert wird, die Hermann Hesses "Stufen" liebt, die als digitaler Engel gen Himmel fliegt. Erfährt also Simon, dass er Hodenkrebs hat, wird operiert und von Hanna betrogen, diskutiert am Krankenhausbett über Burka und Kopftuch. Lernt also Hanna den Stammzellforscher Adam Born (Devid Striesow) kennen, geht zum Fußball mit ihm und ins Bett auch. Adam ist aus dem Osten und wohnt, da staunt das Berliner Kulturdingsbumsmilieu mit seinen Altbauwohnungsvorlieben, in schmuckloser Platte, hat in der Wohnung kaum Bücher.

Und dann, nächster Einsatz der Schicksalstrompete, lernt im superschicken Spreebadehaus der kaum von seinem Krebs genesene Resthodentropf Simon einen Mann kennen, der ihm einen runterholt. Der runterholende Mann ist wiederum Adam, weil Tykwer es will. Es lieben also, so kurz könnte man das machen und sagen, Simon und Hanna, ohne es zu ahnen, denselben Mann. Später steht von den Zusammenhängen der Chose dann mehr als nur eine Ahnung unvermutet im Flur. So kurz macht Tom Tykwer es aber nicht. Setzt vielmehr Simon neben Angela Winkler als Plastinat. Jagt Hanna und Simon durch die Bilder einer Ausstellung im Gropius-Bau. Macht einen Alakulturzeitquatsch und dies noch und das und man fürchtet bei alledem, dass er uns seine Figuren im Ernst als typische Vertreter ihres sehr spezifischen Milieus andrehen will. (Plusminus ein paar freundlich satirisch gemeinte Spitzen.)


Der Zufall wollte es, dass ich nicht lange vor "Drei" Rudolf Thomes neuen Film "Das rote Zimmer" sah. Auch da kommt ein Naturwissenschaftler vor, der allerdings - aber im Endeffekt nicht weniger glücklich - als Liebender und Geliebter an zwei einander ihrerseits liebende Frauen gerät. Summa summarum auch Drei, aber ohne die mit schweren Zeichen belastete Pseudogegenwart, die Tykwer für seinen Film anschaffen geht. Wo Thomes Film wunderbar einfach und leicht und relaxt und märchenhaft ist, da trampelt Tykwer durch sein auch mit allerlei Filmtrickschnickschnack aufgebrezeltes Berlin. "Drei" ist ein Film, den seine Protagonisten Hanna und Simon sicher für ein Meisterwerk hielten. Ich kenne trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen solche Menschen aber nicht und hoffe inständig, dass es sie anders als in der Gestalt von Tom Tykwers Kopfgeburten auch nicht gibt.

Ekkehard Knörer

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Die Atacama-Wüste im Norden Chiles ist, so heißt es einmal im Film, der einzige braune Fleck auf dem blauen Planeten Erde. Praktisch keine Luftfeuchtigkeit gibt es in diesem Hochland, das zu einer verkrusteten, außerweltlich anmutenden Mondlandschaft erstarrt ist. Die außergewöhnlichen Witterungsbedingungen machen sich seit einigen Jahrzehnten Astronomen zu Nutze: Chilenische und internationale Forschungsteams haben Observatorien mit Dutzenden von Teleskopen errichtet und erforschen den Sternenhimmel aus privilegierter Position. In der Atacama-Wüste können die Wissenschaftler nicht nur die Vergangenheit der Galaxien erforschen - da das Sternenlicht teilweise Jahrtausende benötigt, um auf die Erde zu gelangen, beobachten Astronomen stets nur unterschiedliche Phasen des Vorher des gegenwärtigen Universums - sondern auch die menschliche Vergangenheit. Archäologen finden auf Steinwänden in der Wüste fast unversehrte uralte Inschriften und Bilder.


"Nostalgia de la luz" beginnt mit Aufnahmen von Technik und Natur, beide ins Mystische übersteigert: isolierte, im Licht glänzende Zahnräder, karge, braune Hügelketten unter glasklarem Himmel. Das fluoreszierende Farbenspiel des Sternenhimmels. Es dauert eine ganze Weile, bis zum ersten Mal Menschen auftauchen. Es geht dann allerdings im Film doch vor allem um die Vergangenheit diesseits der Sterne. Denn eigentlich interessieren sich Patricio Guzman und sein gelegentlich etwas aufdringlicher Voice-Over-Kommentar für das, was in der Atacama-Wüste gerade nicht sichtbar ist und was deshalb vom Film eingeholt, freigelegt werden muss. Weit weniger gut konserviert, schlechter zugänglich als die Zeugnisse fremder Galaxien und uralter Indianerstämme, sind die jüngsten Ereignisse der chilenischen Geschichte.

Nach dem Militärputsch 1973 errichtete Augusto Pinochet in der Atacama-Wüste Konzentrationslager, in denen Tausende politische Gefangene verschwanden. Massengräber wurden ausgehoben, Jahre später hat man die Leichen über Nacht wieder ausgegraben. Oft weiß man heute nicht, wo sie zuletzt verscharrt wurden. Manche wurden vermutlich im Meer versenkt, andere irgendwo in der Wüste vergraben. Bis heute fahren Hinterbliebene der Opfer in die Ödnis und graben Löcher in die Salzkruste. Guzmans Film nimmt seinen Ausgangspunkt bei den Naturwissenschaftlern in den Observatorien, driftet dann immer mehr in Richtung dieser Angehörigen der Opfer, die sich weigern zu vergessen; hauptsächlich sind das alte Frauen, Witwen und Mütter von Regimegegnern, jedes Jahr werden es weniger. In weiten Teilen des chilenischen Mainstreams gelten sie als störende Altlasten, Relikte einer Vergangenheit, über die man lieber nicht allzu genau Bescheid wissen möchte.


Die Erforschung der naturgeschichtlichen Vergangenheit auf der einen, der Kampf gegen das Vergessen der Pinochet-Diktatur auf der anderen Seite. Dass die Analogie schief ist, gesteht der Film selbst ein. Und am Ende bleibt der Verdacht zurück, dass sie nicht allzu weit führt, dass sie zwar - worauf Frederic Wiseman in einem Gespräch mit Guzman mehrmals hinweist - jede Menge Metaphern produziert, aber doch auch ein wenig ins Leere läuft. (Überhaupt ist, könnte man einwenden, die Metapher vermutlich nicht der produktivste Modus der filmischen Diktion.) Es wird auch nicht ganz klar, ob die Analogie zu einem erkenntnistheoretischen oder doch eher auf esoterischen Mehrwert führen soll; passend zu einigen recht wolkigen Formulierungen schwebt manchmal arg adrett glitzernder Sternenstaub durch die Bilder.

Doch das sind kleine Einwände angesichts eines Films, der viel wagt und ein dringliches Anliegen hat. Man sollte "Nostalgia de la Luz" vielleicht in erster Linie im Zusammenhang des eindrucksvollen Gesamtwerks Guzmans sehen. Im Putschjahr 1973 drehte der Regisseur das wahrscheinlich wichtigste Werk der chilenischen Filmgeschichte: "La Batalla de Chile", eine fünfstündige Chronik der Präsidentschaft des von Pinochet gestürzten linken Hoffnungsträgers Salvador Allende. Auch Guzmans spätere Filme beschäftigten sich immer wieder mit der jüngeren Geschichte Chiles und ihrer beiden antipodischen zentralen Figuren: Allende und Pinochet. "Nostalgia de la Luz", ein schwer zu realisierendes Projekt, an dem der Regisseur vier Jahre lang arbeitete, wendet das Projekt Guzmans gelegentlich ins Metaphysische. Im Kern bleibt es jedoch der geduldigen, unerbittlichen Arbeit an und in der Geschichte verpflichtet.

Lukas Foerster

Drei. Deutschland 2010 - Regie: Tom Tykwer - Darsteller: Sophie Rois, Sebastian Schipper, Devid Striesow, Annedore Kleist, Angela Winkler, Alexander Hörbe, Winnie Böwe, Hans-Uwe Bauer, Peter Benedict, Edgar M. Böhlke

Nostalgia de la Luz - Nostalgie des Lichts. Regie: Patricio Guzman - Darsteller: (Mitwirkende) Victoria & Violeta, Lautaro, Gaspar, Miguel, Luis, Valentina - Chile / Frankreich / Deutschland 2010 - Länge: 94 Minuten