Efeu - Die Kulturrundschau

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09.01.2018. Das New Yorker Metropolitan Museum gibt seine Politik auf, nach der jeder so viel Eintritt zahlt, wie er kann. New Yorker und Guardian sind  entsetzt über diese unsoziale Entscheidung. Der Standard feiert die dunkle Energie, die Lisa Hinterreithner mit ihren Choreografien im Wuk ans Tageslicht holt. Die taz staunt, wie beherzt die Beiruter Theatertruppe Zoukak über syrische Flüchtlinge spottet. Die FAZ sorgt sich um das Erbe multimedialer Kunst. Und in der SZ ruft die Schriftstellerin Petra Piuk sehr österreichisch: Ein Heimatroman darf nicht schön sein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.01.2018 finden Sie hier

Film

Die Feuilletons ziehen in der Golden-Globe-Berichterstattung zeitzonen- und redaktionsschlussbedingt nach - das Wichtigste auf einen Blick gab es bereits gestern im Efeu. In der Welt zügelt Hanns-Georg Rodek allerdings die Euphorie, mit der hierzulande auf den Golden Globe für Fatih Akins "Aus dem Nichts" reagiert wird: Verantwortlich für die Vergabe der Globes seien schließlich keine Filmexperten, sondern lediglich die Hollywood Foreign Press Association (HFPA), deren Mitglieder sich zum beachtlichen Teil nicht gerade durch besonderes Renommee auszeichnen. Auch Daniel Kothenschulte erinnert in seinem Resümee in der FR daran: "Weniger noch als die Oscars gelten die Golden Globes als Kunstpreise. Und was nicht erfolgreich ist, hat hier schon gar keine Chance." Dass Akin mit seinem Film bei den Amerikanern so gut punkten kann, ist für Anke Sterneborg allerdings kein Wunder, schreibt sie auf ZeitOnline: schließlich ist der Hamburger Regisseur "dem amerikanischen Kino der Leidenschaften" so nahe wie kaum ein zweiter seiner hiesigen Kollegen. Außerdem berichten Tagesspiegel, FR, ZeitOnline, taz und Standard.

Besonders beeindruckt waren alle von Oprah Winfreys mitreißender Dankesrede zur Verleihung des "Cecil B. DeMille"-Awards fürs Lebenswerk, in der sie für Frauen- und Bürgerrechte eintrat:



In der SZ ärgert sich Christine Dössel, dass nach den laut gewordenen Vorwürfen gegen Regisseur Dieter Wedel eine abwiegelnde Rhetorik vorherrsche: "Endlich wagen es auch in Deutschland ein paar Schauspielerinnen, die Opfer sexueller Übergriffe wurden, aus dem stillen Winkel der Scham und des Schweigens herauszutreten. ... Und dann wird ihnen gleich mal die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Dann unterstellt man ihnen Öffentlichkeitsgeilheit und späte Rache, redet man von Hexenjagd und Denunziation."

In der Welt gratuliert Hanns-Georg Rodek dem japanischen Extrem-Filmer Takashi Miike zum hundertsten Film in 25 Jahren und denkt über dessen Kino der Gewalt nach: "Manche Miikes sind kaum anzusehen, ohne die eigene Rolle infrage zu stellen, die des Konsumenten solchen Blutvergießens. Miike hebt keinen Zeigefinger, fordert keine Moral ein. Aber er hat oft genug mit Nahe-null-Budget gedreht, um mit minimalem Aufwand maximalen Effekt erzielen zu können. Und er ist ein fantastischer Genre-Shaker."

Besprochen werden die ZDF-Historienserie "Tannbach" (ZeitOnline, FAZ), Agnieszka Hollands "Die Spur" (SZ), die Amazon-Serie "The Collection" (FAZ) und Joe Wrights Historiendrama "Die dunkelste Stunde", bei dem Welt-Kritiker Alan Posener schon wegen Gary Oldman als Winston Churchill ins Schwärmen gerät: "Allein wegen dieser Leistung lohnt sich der Besuch des Films."
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Literatur

In der SZ-Reihe zum Heimatbegriff berichtet die Schriftstellerin Petra Piuk von ihren Feld-Recherchen zu ihrem Roman "Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman". Aus diesen Recherchen leitet sie für sich eine Programmatik ab: "In Zeiten, in denen Heimat wieder zum Kampfbegriff der Rechten wird und gleichzeitig verkitscht im Fernsehen oder als Hirschmotiv auf Kaffeetassen auftaucht, ist es auch wieder notwendig, Heimatromane zu schreiben. Und zwar solche, die den Heimatbegriff kritisch hinterfragen. Ein Heimatroman, den ich lesen oder schreiben mag, darf nicht harmlos und schon gar nicht schön sein. Er muss hinter die Fassade der Dorfhäuser blicken. Hinter die Fensterläden. Und hinter die verbarrikadierten Kellertüren. Er muss Themen wie Inzest und Nazi-Verherrlichung ans Tageslicht bringen."

Weitere Artikel: Benedikt Maria Trappen berichtet im Logbuch Suhrkamp von einem Besuch bei Peter Handke. In der Tell-Reihe über "Konservative, mit denen man gern ein Glas Wein trinke" denkt Anselm Bühling über Navid Kermani und dessen Sorge um den Überlieferungszusammenhang nach. Auf SpiegelOnline erinnert sich Peter Henning an den gerade verstorbenen Krimiautor Hans Werner Kettenbach. Auf Deutschlandfunk Kultur erklärt die Krimiautorin Zoe Beck die Beweggründe für die Kampagne #VerlageGegenRechts. Paul Jandl besucht für die NZZ eine Wiener Bibliothek, die sich auf ungelesene Bücher spezialisiert hat. Die FAZ hat aus der Wochenendausgabe Rüdiger Görners große Auseinandersetzung mit Henry Fieldings "Tom Jones"-Roman von 1749 online nachgereicht. Manuel Müller gratuliert in der NZZ dem Schriftsteller Adrian Naef zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Arno Geigers "Unter der Drachenwand" (Tagesspiegel, FR, FAZ), Uwe Radas "1988" (Berliner Zeitung), Grant Morrisons Horror- und Science-Fiction-Comic "Nameless" (Tagesspiegel), Ferdinand von Schirachs und Alexander Kluges Gesprächsband "Die Herzlichkeit der Vernunft" (SZ) und die Ausstellung "Harry Potter - A History of Magic" in der British Library (FAZ).
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Kunst

Seit 1970 galt im New Yorker Metropolitan Museum die Politik, dass Besucher nur so viel zahlen, wie sie für richtig halten. Das ändert sich jetzt, wie Nadja Savey entsetzt im Guardian berichtet: Künftig soll diese Politik nur noch für Bewohner des Staates New Yorks gelten, alle anderen zahlen dann 25 Dollar Eintritt. Und im New Yorker schreibt Alexandra Schwartz: "Offenheit ist ein ethischer Auftrag, und besonders wichtig in einer Stadt, die sich immer verschlossener anfühlt. Als im vorigen Jahr zum ersten Mal die Aussicht auf eine strengere Eintrittspolitik aufkam, war Bürgermeister Bill de Blasio voll dafür und erklärte gegenüber der Times: 'Ich bin sehr dafür, dass russische Oligarchen mehr dafür zahlen, ins Met zu kommen.' Das ist absurd. Milliardäre werden den erhöhten Eintritt nicht zu spüren bekommen. Die Leute, die er betrifft, sind Familien, die unsere ruchlos teure Stadt aus einem anderen Bundesstaat oder einem anderen Land besuchen, Studenten, die sich in den Bus gesetzt haben, um ihren Kopf mit Kunst zu füllen; Migranten ohne Papiere."

Die Bewahrung des Filmerbes ist vorangekommen, aber in der Kunst stellen multimediale Werke noch immer ein großes Problem dar, konstatiert Nadja Al-Khalaf in der FAZ: Wie sollen Museen Video- oder digitale Kunst bewahren, die jedes Jahr mit neuer Hard- und Software aufwartet? "Bis heute mangelt es an standardisierten Archivierungsmethoden für digitale Kunst. Die Dringlichkeit sollte nicht unterschätzt werden: Es droht ein klaffendes Loch im kulturellen Gedächtnis der vergangenen und kommenden Jahrzehnte. Künstler, Sammlungen, Museen und Wissenschaftler zeigen sich besorgt. 500 Fachleute haben mittlerweile die sogenannte Liverpool Declaration unterzeichnet, die von der Kulturpolitik neue Strukturen zum systematischen Erhalt und zur Erforschung digitaler Kunst fordert."
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Musik

In der Presse empfiehlt Samir H. Köck nachdrücklich die CD-Box "The Spirit of Memphis", die an Isaac Hayes erinnert, den "lässigen Erfinder des Breitwand-Soul". Für The Quietus erinnert sich Jeremy Allen daran, wie Air vor 20 Jahren mit dem überall gespielten Album "Moon Safari" den französischen Pop zurück in die internationale Aufmerksamkeit brachten. Frederik Hanssen porträtiert im Tagesspiegel den Nachwuchs-Pianisten Jan Lisiecki. Für die SZ plaudert Marcel Anders mit Jeff Lynne vom Electric Light Orchestra. Harry Nutt schreibt in der FR einen Nachruf auf "Moody Blues"-Musiker Ray Thomas.

Radiohead verklagen Lana del Rey, meldet Christian Schröder im Tagesspiegel: Del Rey soll sich großßzügig beim Radiohead-Hit "Creep" bedient haben. Die Ähnlichkeiten sind tatsächlich schwer von der Hand zu weisen: Hier der Radiohead-Song und hier der von del Rey.



Besprochen wird ein Konzert des Jazzduos Heinz Sauer und Michael Wollny (FR).
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Design

In der taz spricht Annabelle Hirsch mit Buchautorin Nathalie Rykiel, die gerade ein zweites Buch über ihre Mutter, die Modedesignerin Sonia Rykiel geschrieben hat. "Sie war wahnsinnig frei", sagt sie über ihre 2016 gestorbene Mutter. "Wahnsinnig lustig. Voller Ideen. Das war fast schon ein Problem. Außerhalb von ihr wirkte alles unglaublich trist und öde. Deshalb habe ich sie ja auch nie verlassen. Es war zu schön, in ihrer Nähe zu sein."
Archiv: Design
Stichwörter: Rykiel, Sonia, Modedesigner

Bühne



Lisa Hinterreithners Performance "Pink tape - Yellow tape - Black tape - Repeat!" im Wiener WukK. Foto: Eva Würdinger

Ganz hervorragend findet Helmut Ploebst im Standard die österreichischen Choreografien von Lisa Hinterreithner und Raúl Maia, die das Wiener Wuk gerade zeigt. Besonders beeindruckt hat ihn, wie Hinterreithner mithilfe von Klebeband die dunkle Energie zeigt, die eine Gesellschaft auseinanderdriften lässt: "Stets vereinzelt bewegen sich die Figuren zwischen dem Publikum. Jede von ihnen macht durchgehend klar: Ich lasse mich auf nichts festlegen. Die Klebebandrollen scheinen die diversen sozialen Rollen, die sie wählen, zu symbolisieren: Man pickt sich ein Stück von einer Rolle auf den Körper - immer kombiniert mit Abrissen von anderen Rollen. So wächst unter dem ironischen Titel Pink tape - Yellow tape - Black tape - Repeat! eine genial abstrahierte Darstellung unseres Supermarkts für Patchwork-Identitäten. In diesem Markt herrscht die soziale Funktion des Konsumenten vor, bei der Entsolidarisierung und Narzissmus wuchern - nach dem alles Gemeinsame überklebenden Motto: 'Hol dir, was dir zusteht.'"

In der taz stellt Tom Mustroph die Beiruter Theatertruppe Zoukak vor, die eine besondere Form der Drama-Therapie entwickelt habe, um Gewalterfahrungen zu verarbeiten. Mustroph spricht ihr eine besondere Kompetenz im Vermeiden der Opferhaltung zu: "Zoukak hat auch eigene Erfahrungen mit der syrischen Flüchtlingswelle im Lande gemacht. 'Natürlich waren wir solidarisch, haben mit syrischen Künstlern zusammengearbeitet. Du bist ihnen ja in den Cafés begegnet. Die Hälfte der Café-Besucher in Beirut waren Künstler aus Syrien', lacht Regisseur Junaid Sarieddeen. Die Truppe trieb aber auch ihren Spott über all das Geld, das auch im Libanon für syrische Geflüchtete bereitgestellt wird. 'Es war ja trendy, Syrer zu sein und Projekte mit Syrern zu machen. Mit einem syrischen Freund, mit dem wir sowieso zusammengearbeitet haben, entwickelten wir das Stück I Hate Theatre I Love Pornography.'"

In der NZZ sorgt sich Daniele Muscionico um die Zukunft des Theater Basel nach dem Weggang des Intendanten Andreas Beck: "In Basel nämlich steht man vor der Frage: Soll das Dreispartenhaus am Rhein sein international erstrangiges künstlerisches Niveau und seinen Repertoirebetrieb beibehalten?"
Archiv: Bühne