Literatur / Sachbuch & Politisches Buch

Geschichte


György Dalos' Buch über Ungarn-Aufstand "1956" lieben alle, ob nun Zeit, FR, oder NZZ. Letztere lobt diesen groß angelegten zeitgeschichtlichen Essay als "kunstvoll, geistreich und oft witzig". Die Zeit schätzt Dalos' klaren und differenzierten Blick, etwa auf den tragischen Zauderer Imre Nagy. Der FR haben es auch die eindringlichen Schilderungen aus dem Alltagsleben des chaotischen Budapest angetan. In der SZ lobt Gerd Koenen die "leicht distanzierte Empathie" des Autors, die genau richtig sei, um die sich überstürzenden Ereignisse darzustellen. Etwas zu wenig Beachtung finden seiner Meinung nach die "elementare Wut und exzessive Brutalität" der Aufständischen, die das Land an den Rand eines Bürgerkriegs geführt hätten.

Grundseriös und absolut fair finden die Rezensenten Paul Lendvais packenden Bericht "Der Ungarnaufstand 1956" und betonen, dass der ungarisch-österreichische Journalist analytische Klarsicht bestens verbindet mit einer geradezu atemlos lebendigen Schilderung der Ereignisse. Eine umfassende Darstellung, durchsetzt mit aufschlussreichen Nahaufnahmen: von den Straßenkämpfen, den Kreml-Intrigen oder der tragischen Rolle des amerikanischen Senders Radio Free Europe. Die gesamte Kritikergarde fühlte sich bestens informiert!

Saul Friedländer legt mit "Die Jahre der Vernichtung" dem zweiten Teil seines Werks über "Das Dritte Reich und die Juden", die erste wirkliche, weil alle Dimensionen der Vernichtung umfassende Darstellung des Holocaust vor, möchte die Zeit behaupten. Die FAZ nennt das Buch ein "Meisterwerk der Geschichtsschreibung" und bescheinigt dem knapp 900 Seiten umfassenden Band auch die Eindringlichkeit und Richtigkeit eines Kunstwerks. Die NZZ sieht die Holocaustforschung vom Kopf auf die Füße gestellt, weil Friedländer auch die Opfer zu Wort kommen lässt. Überraschend kommt das alles nicht: Schon der erste Band über "Die Jahre der Verfolgung" von 1933 bis 1939 galt als das beste Buch zum Thema.

Noch ist das Gen nicht entdeckt, das britische Historiker so meisterlich über Geschichte schreiben lässt. Tony Judt jedenfalls scheint es zu besitzen. Die Zeit rühmt die narrativen Qualitäten seiner "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart", seine Ironie und die wohldosiert eingestreuten Anekdoten. Hier wird, was bisher noch selten geschehen ist, der gesamte Kontinent ausgewogen behandelt, stellt die FAZ zufrieden fest, der auch der unorthodoxe Blick Judts gefällt. Elegant und packend ist das alles schon, gibt die NZZ zu, vermisst aber eine übergreifende These.


Politik

Ein "Vermächtnis für Europa", einen Aufruf, den Islam radikal neu zu diskutieren, sieht die FAZ in der Autobiografie "Mein Leben, meine Freiheit" der Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali, die nach den Querelen um ihren Asylstatus die Niederlande verlassen hat und in den USA übergesiedelt ist. Ungeheuerlich erscheint dem FAZ-Rezensenten Christian Geyer, wie radikal Hirsi Ali den Islam als Religion und nicht nur seine kulturellen Erscheinungen in Frage stellt. Fesselnd und reflektiert findet die FR die Lebensgeschichte der aus Somalia stammenden Politikerin dargestellt. Sie mochte zwar nicht alle Positionen der Autorin teilen, konnte ihnen nach der Lektüre aber auch nicht mehr jegliche Überzeugungskraft absprechen, vor allem ihrer Kritik am exzessiven Multikulturalismus.

Von einer Reise nach Indien hat der New-York-Times-Kolumnist Thomas Friedman eine umwälzende Erkenntnis mitgebracht: "Die Welt ist flach", alle ökonomischen Hürden, Grenzen und Mauern sind eingeebnet. Die Rezensenten haben das Buch neugierig zur Hand genommen, waren am Ende aber nicht gleichermaßen überzeugt. Die FR findet Friedmans - nicht ganz neue - Einsichten in die globale Umverteilung des Wohlstands in fesselnde und kluge Reportagen eingebettet. Die FAZ allerdings hatte für Friedman nur Spott übrig: Sie fand diese Vision ökonomischer Gleichmacherei platt.


Philosophie


Peter Sloterdijks ambitionierte Weltgeschichte des Zorns hat den Rezensenten imponiert, überzeugt hat sie "Zorn und Zeit" nicht ganz. Sloterdijk will im Zorn nicht das Ventil für unbefriedigte Wünsche sehen, sondern eine bedeutende anthropolgische Konstante. Einige schöne Pointen hat die SZ in dieser mit Achill beginnenden Geistesgeschichte gefunden, besonders spannend fand sie die Passagen zu Zorn und Rache der Bourgoisie, die Sloterdijk mit Alexandre Dumas' "Graf von Monte Christo" unterfüttert habe. Ihr fehlt allerdings die Unterscheidung von Zorn, Hass und Ressentiment. Die FAZ stört sich daran nicht, sondern sieht den Zorn als produktive Triebfeder der Menschheitsgeschichte rehabilitiert.

Die FAZ ist existenziell berührt. Selten ist ihr so Tiefes, Erschütterndes und Substanzielles zum Thema Menschsein und Freiheit untergekommen - und das auf handlichen 90 Seiten - wie George Steiners Essay "Warum Denken traurig macht". Und schreiben könne der Mann! Leichthin und dicht, wuchtig und zart, bezwingend poetisch und tief philosophisch. Die Zeit will das Ganze allenfalls als persönliches Bekenntnis durchgehen lassen und kann der Argumentation Steiners nur selten folgen.


Reise


Eine untergegangene Kulturlandschaft hat Martin Pollack mit seinen "Sarmatischen Landschaften" wieder aufleben lassen: Sarmatien, das einige zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ansiedeln, andere zwischen Geografie und Historie, Mythos und Poesie. Voller Neugier haben sich die Rezensenten auf Erkundungsreise in diesen riesigen Kulturraum begeben, den dreiundzwanzig Autoren in Erzählungen, Essays und Reportagen eröffnen. Die NZZ erfreut sich an den gewaltigen Sprüngen durch die Ukraine, Litauen und Weißrussland, von zersiedelte Stadtränder in brachliegende Dörfer. Die SZ genießt die stimmungsvollen Beschreibungen, hadert allerdings mit einigen Ausführungen zur weißrussischen Nation.

Fünf Jahre war Charles Darwin als Passagier auf der Beagle unterwegs, besuchte Patagonien und die Galapagos-Inseln und umrundete die Welt. Seine auf der "Fahrt der Beagle" gemachten Beobachtungen führten schließlich zur Evolutionstheorie, von der die Zeit in dieser kongenialen Neuübersetzung schon eine feine Nuance zu verspüren glaubt. Ansonsten genießt sie einfach die lakonische Inspiration und rhythmische Fluidität von Darwins Sprache, mit der die Schönheit Haitis oder das Erdbeben von Conception ohne Umwege in den heimischen Lesesessel transportiert werden. Hier lässt sich studieren, wie empirische Forschung idealerweise funktioniert und stilistisch grandios präsentiert wird, schwärmt die SZ.


Essays

Wolf Lepenies ist der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Wenn sich die taz den vorliegenden klugen Großessay über die Beziehung von "Kultur und Politik" in Deutschland so ansieht, kann sie dieser Auszeichnung nur zustimmen. Besonders die Kulturschaffenden haben die Politik in fataler Weise gering geschätzt, behauptet Lepenies, was die meisten Kritiker auch recht überzeugend dargestellt finden. SZ und FAZ hätten einiges allerdings gerne ausführlicher erklärt bekommen.

Von den unter der Frage "Was ist ein Klassiker?" versammelten literaturkritischer Essays J. M. Coetzees aus den vergangenen zwanzig Jahren bewundert die SZ besonders diejenigen zur deutschen Literatur. Souveränität und Akribie gehen bei dem südafrikanischen Literaturnobelpreisträger eine besonders fruchtbare Verbindung ein, lobt sie. Der NZZ gefallen vorwiegend die Studien zu Kafka oder Dostojewski, für sie Etüden in intellektueller Gewissenhaftigkeit.


Gesellschaft

Mit ihrer ethnografischen Feldforschung zu "cosmobilen" Putzfrauen in privaten Haushalten hat Maria Rerrich offenbar einen Nerv getroffen. Alle Kritiker betonen die Wichtigkeit und Aktualität der an Fallbeispielen reichen Studie "Die ganze Welt zu Hause". Erstaunen erregt auch die durchweg gute Ausbildung dieser Avantgarde der Globalisierung. Ob sie selbst zur fortschreitenden internationalen Vernetzung der Dienstleistungsbranche beitragen, gibt leider keiner der Rezensenten zu. Was wahrscheinlich bedeutet, dass der Anteil illegal Beschäftigter tatsächlich so groß ist, wie Rerrich behauptet.


Kunst

Im Rembrandt-Jahr hat Gary Schwartz' "Rembrandt-Buch" am meisten Aufsehen erregt, eine reich bebilderte Darstellung des Malers und seiner Epoche, die nach einhelliger Meinung der Rezensenten durch ausgewiesenen Sachverstand und hohen Unterhaltungswert glänzt. Die NZZ fühlt sich von Schwartz bestens über Rembrandts Epoche, sein Leben, sein Genie und seine revolutionären Maltechniken informiert. Die SZ freut sich über die Aufklärung einiger langlebiger Irrtümer. Nur in der Zeit vermisst Kunsthistoriker Martin Warnke die tiefere Analyse.

Die ambitionierte "Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland" umfasst ingesamt acht Bände. Der von Andreas Beyer herausgegebene, klar gestaltete sechste Band wird seiner Aufgabe mehr als gerecht, schwärmt die SZ. Einleuchtend wird ihr hier vor Augen geführt, dass Klassik und Romantik keine Gegensätze sind. Die Begeisterung der Zeit entzündet sich am brillant geschriebenen Einleitungsessay, brennt durch den gesamten Bildteil mit Beispielen aus Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung, Druckgrafik und Kunsthandwerk auf hoher Flamme, bis sie mit der ungemein hilfreichen Bibliografie noch einmal auflodert.


Literatur / Sachbuch & Politisches Buch