Post aus Neapel

Land der Kaktusfeige

Von Gabriella Vitiello
11.01.2002. Der Dramatiker und Theaterregisseur Michele Perriera hat eine Debatte über die kulturellen Priorität der Regierung Berlusconi losgetreten.
Der Einsatz kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Wie in einer gut geplanten Inszenierung gab Michele Perriera auf den Seiten der Turiner Tageszeitung La Stampa den Anstoß zu einer Debatte über die Auswirkungen der Berlusconi-Regierung auf das kulturellen Leben Italiens; und das nur wenige Tage bevor Renato Ruggiero, der nunmehr ehemalige italienische Außenminister, die politischen Bühne des Landes verließ. Womit Berlusconi erneut im europäischen Rampenlicht stand.

Schlicht und geschickt hatte der Dramatiker und Theaterregisseur Perriera seinen Artikel mit den Worten begonnen: "Ich bin gespannt, welchen Effekt Mitte-Rechts auf die italienische Kultur haben wird." Das hörte sich zunächst so an, als gestehe Perriera der jetzigen Regierung tatsächlich einen konkreten kulturpolitischen Ansatz zu, der es ihr ermöglicht, an eine liberale, laizistische und feinsinnige Tradition anknüpfen, die Perriera durch Namen wie Ezra Pound, Celine, Luigi Pirandello oder den jungen Elio Vittorini (mehr hier) des 'Garofano Rosso' (Rote Nelke) verkörpert sieht; und die von der Linken wiederum oft genug mit dem Urteil 'irrational' verschmäht wurden.

Anhand eines langen Kataloges rhetorischer Fragen macht Perriera jedoch zwischen den Zeilen deutlich, dass die Berlusconi-Regierung leider die falsche Richtung eingeschlagen hat. Und damit seiner Meinung nach zu den Vertretern des 'schlechten Geschmacks' zählt, die aus dem 'intellektuellen Unterholz' kommen: "Welche Impulse wird die Rechte der stillen und unscheinbaren wissenschaftlichen Forschung geben? Welche Initiative wird sie ergreifen, damit anspruchsvolle Verlage nicht vom kommerziellen Opportunismus überwältigt werden? Was wird sie unternehmen, damit nicht alle Mittel in die großen Theater und Opernhäuser fließen? Wird sie in angemessener Weise andere Formen szenischer Produktionen unterstützen, die weder kommerziell sind noch dem Starkult huldigen? Wie will sie das Kino internationaler Couleur fördern, das in der Lage ist, die großen Fragen unserer Zeit zu stellen?" Perrieras mit Fragezeichen getarnte Auflistung der kulturpolitischen Aufgaben der Regierung endet mit einer konkreten Aufforderung: "Wer auch immer an der Macht ist, er höre auf, uns mit der Diktatur der Zahlen zu langweilen."

Von den rhetorischen Tricks des Theaterprofis fühlte sich als erster der italienische Minister für Kulturgüter, Giuliano Urbani, herausgefordert. Er beschwichtigte, was Verkaufszahlen, Zuschauerquoten und Statistiken anbelangt: "Denn wenn es um Kultur geht, ist das Gesetz der großen Zahlen nur schwer mit der Entwicklung einer authentischen Qualität vereinbar." Urbani verordnet gegen den "Despotismus des - anarchischen - Marktes" ein adäquates Rezept: eine "strenge liberale Therapie". Liberal - in verschiedenen Variationen - lautet Urbanis Credo und Lieblingswort in seiner Replik auf Perriera: "Ich appelliere an die liberale Inspiration", "mehr Freiheit, mehr Möglichkeiten" oder: "Ich glaube vor allem an die Früchte des Pluralismus und der individuellen Freiheit." Er verrät sogar, was er darunter konkret versteht: zum Beispiel Steuervergünstigungen bei Investitionen im Kulturbereich.

Das waren dem Philosophen und linken Europa-Parlamentarier Gianni Vattimo (mehr hier) zu viele liberale Slogans. Er konterte, ebenfalls in La Stampa: Viel eher als irgendein verspäteter Anarcho-Dannunzianer (damit meint Vattimo den Staatssekretär für Kultur, Vittorio Sgarbi, der "vor allem wegen seiner TV-Bildschirm-Bekanntheit in die Regierung gerufen wurde", wozu auch eine Werbung für Zucker beigetragen hat), sei Urbani derjenige, der die kulturelle Rechte repräsentiere, deren Einfluss stetig wachse. Vattimo widerstrebt besonders die "angelsächsische Neutralität", mit der die kulturelle Rechte vorgibt, "die Vernunft gepachtet zu haben (im Gegensatz zur populistischen Gefühlsduselei der Linken), nur weil sie sich auf der Seite der (bestehenden) Ordnung befindet." Für den Philosophen Vattimo tritt die Frage nach rechts oder links in den Hintergrund - "Wozu sollte uns der Unterschied zwischen Celine und Brecht noch wichtig sein" - angesichts sich immer weiter verbrüdernder unterschiedlicher rechter Kräfte, die zur medialen Überflutung führen: "Es ist die kulturelle Rechte, die sich problemlos verbindet mit der Rechten des Fernsehens und der Werbung, die uns immer weiter zuschüttet." In Anbetracht des immer noch nicht gelösten Berlusconischen Interessenkonflikts ist das nicht weiter verwunderlich.

Auch der Historiker und Faschismusforscher Angelo D'Orsi sieht - wie Vattimo - statt liberalem Geist nur Quote. Gerade die Aushängeschilder der Rechten, die wiederum oft die Kommentar-Seiten des Corriere della Sera füllen, riefen nicht nur zur Raison der bestehenden Ordnung auf. Sondern, schlimmer noch, sie stünden auch für den Einsatz 'gleichgeschalteter' Intellektueller in den Schlüsselpositionen. Und beides passt so wunderbar gut zum zähen, dickflüssigen Massenprogramm der RAI-Mediaset-Sendern - so der Historiker. Aber D?Orsi analysiert nicht nur, er weist die Kulturpolitik auch in ihre Schranken. Es sei nicht die Aufgabe der politischen Kräfte, eine Kultur zu erarbeiten. Stattdessen müsse sie die Rahmenbedingungen und Hilfsmittel für freie, ungehinderte und unzensierte Äußerungen schaffen. D?Orsi verabschiedet sich mit einem Seitenhieb auf die kulturelle Kompetenz der Regierung und warnt sie gleichzeitig vor Größenwahn, indem er an die Kulturpolitik des frühen Faschismus erinnert: "Damals war ein Philosoph, Giovanni Gentile, sowohl Minister als auch graue Eminenz der Kultur. Heute heißt der Philosoph an der Macht Rocco Buttiglione." Und außer der lautstark geforderten Erneuerung des Abtreibungsparagraphen war von ihm, dem Minister für EU-Fragen, bislang nicht viel zu hören. Von Gedanken über einen italienischen Beitrag zu einer europäischen Kultur ganz zu schweigen.

Zu einer intellektuellen Mode werden in Italien gerade Vergleiche zwischen dem Faschismus und der Regierung Berlusconis. Nach dem Rücktritt Ruggieros, der europaweit für Aufregung sorgte, beschreibt eine der führenden Federn der römischen Tageszeitung La Repubblica, Curzio Maltese, die Stimmung im Land: "Das Regime hat die Stammtische auf seiner Seite und schert sich wenig um die gehobenen Wohnzimmer. Soziologen wie Ilvo Diamanti informieren anhand entsprechender Umfragen darüber, dass zwar das Vertrauen abnimmt, nicht aber der Konsens. Aber ist nicht gerade die 'Zustimmung ohne Vertrauen', bzw. das resignierte Hängen lassen des Kopfs in Ermangelung von Alternativen, die perfekte Ausgangssituation für jedes Regime?"

Vernichtend und fast verbittert ist das Urteil, das der sizilianische Schriftsteller Vincenzo Consolo (mehr hier), ebenfalls in dem römischen Blatt, über Berlusconi abgibt: "Er besitzt keine Ethik, keine moralischen Prinzipien. Er verkörpert die neue faschistische Macht, die regressiv ist, ungebildet und ohne historische Kenntnisse. In diesem Land sind humane und zivile Werte verloren gegangen. Das Land ist das Opfer dessen, was Carlo Levi den ?ewigen italienischen Faschismus? nannte."

Consolo hatte auf Bitten der Repubblica über die knappen wie scharfen Worte des Fiat-Chefs Giovanni Agnelli nachgedacht. Dem Avvocato war nämlich nach dem letzten Schachzug Berlusconis der Kragen geplatzt. Als der sonst politisch zurückhaltende Großindustrielle erfuhr, dass der italienische Premier Ruggiero kurzer Hand via Telefon aus einem sardischen Badeort abserviert hatte, drohte er regelrecht: der Regierung sei gar nicht klar, was der Verlust Ruggieros bedeute. Das werde sie erst später verstehen. Agnelli hatte sich in der Zeit der Kabinettbildung, genauso wie Staatspräsident Ciampi, dafür eingesetzt, dass der versierte Diplomat Ruggiero das Amt des Außenministers erhält. Er könnte jetzt also sogar persönlich beleidigt sein. Vielleicht hat er sich deswegen auch in La Repubblica zu der hübschen, aber sehr stacheligen Charakterisierung Italiens hinreißen lassen: "Wissen sie, was die Wahrheit ist? In unserem Land gibt es leider noch nicht einmal Bananen. Hier gibt es nur Kaktusfeigen."

Und die stacheligen Kakteen mit den wohlschmeckenden Früchten in ebenso stacheliger Schale wachsen vor allem in Sizilien. Was aber für den Sizilianer Consolo nicht bedeutet, dass Agnelli auf eine 'mafiosita' oder eine Versüdlichung Italiens anspielen wollte. Consolo interpretiert den Avvocato im Sinne der kulturellen und politischen Stacheligkeit, Traurigkeit und Depression.

Bei so viel Tristesse schreibt Adriano Sofri zur Ehrenrettung der Kaktusfeige eine kurze, poetische und sehr sizilianische Kulturgeschichte des aus Südamerika importierten Fico d?India. Um einen politischen Vergleich kommt er aber auch nicht herum: "Italien wird zur Wüste werden. Ich weiß nicht, welche Pflanze die müde Republik besser darstellen könnte. Die Politik hat schon mehrere beschlagnahmt, Rosen und Nelken, Olivenbäume und Eichen, Margeriten und Sonnenblumen. Die Zypresse ist großartig, aber zu toskanisch und zu sehr durch Krankheiten dezimiert. Auch zu schaurig, meinen manche - zu Unrecht."

Einen Ausweg aus dem dunklen Unterholz sehen die italienischen Intellektuellen leider auch nicht. Luigi Pintor stellt sich in il manifesto die Frage, ob Ruggiero die Bananenschale sein könnte, die Berlusconi zu Fall bringt und Italien zurück zur Demokratie. Der Altkommunist gibt allerdings anschließend resigniert und sarkastisch zu: "Weder Kaktusfeigen noch Bananen. Wir sind jenseits der Früchte. Silvio Berlusconi, der bestenfalls einer Kokosnuss oder einer Pampelmuse gleicht, ist schon so gut wie auf dem Quirinal (dem Sitz des Staatspräsidenten), gewählt durch das souveräne Volk und durch die kritische Enthaltung der Brüssler Regierung."

Kaum weniger frustrierend ist Curzio Malteses Prognose: "Der Tag an dem die Leute den Fernseher ausschalten werden und sich die Straßen mit dem Volksprotest füllen, wird für den Populisten Berlusconi der Anfang vom Ende sein. Doch der Tag scheint nicht besonders nah." Die italienische Piazza ist leer - mit einer Ausnahme, meint Vauro, der Cartoonist des manifesto: Agnelli. Doch der ist nicht das Volk.