Vorgeblättert

Roberto Bolano: Amuleto, Teil 5

Zum Beispiel fing ich an, an meine verlorenen Zähne zu denken, obwohl ich in diesem Augenblick, im September 1968, noch alle meine Zähne besaß, eigentlich ziemlich seltsam. Aber wahr ist, daß ich an meine Zähne dachte, meine vier Vorderzähne, die ich in den darauffolgenden Jahren nacheinander verlor, weil ich kein Geld hatte, um zum Zahnarzt zu gehen, keine Lust, keine Zeit. Komisch war das, an meine Zähne zu denken, denn einerseits machte ich mir keine Sorgen, daß mir die vier wichtigsten Zähne im Gebiß einer Frau fehlten, und andererseits traf mich dieser Verlust im tiefsten Innern, und diese Wunde brannte. Noch jetzt, wenn ich daran denke, verstehe ich es nicht. Aber nun gut, ich hatte meine Zähne in Mexiko verloren, wie so viele andere Dinge auch, und obwohl immer wieder Stimmen zu mir sprachen, wahrhaft und angeblich befreundete Stimmen, und sagten, Auxilio, wir veranstalten eine Kollekte, damit du dir endlich ein paar künstliche Zähne kaufen kannst, Auxilio, wußte ich doch, daß mir diese Lücke bis ans Ende meiner Tage als Fleisch und Blut erhalten bleiben sollte, weshalb ich auf ihre Worte nicht viel gab, obwohl ich sie auch nicht rundheraus abschlägig beschied.
Dieser Verlust aber brachte eine neue Gewohnheit mit sich. Von da an bedeckte ich, wenn ich sprach oder lachte, meinen zahnlosen Mund mit der Hand, eine Geste, die, soweit mir bekannt, schon bald in einigen Kreisen populär wurde. Ich verlor meine Zähne, aber mein Gefühl für Dis-kretion, meine Zurückhaltung, ein gewisser Sinn für Eleganz, sie gingen damit keineswegs verloren. Die Kaiserin Josefina litt wie bekannt unter Zahnverfall, der die Vorderzähne ihres Gebisses schwärzte, und trotzdem raubte ihr dieser Umstand auch nicht ein bißchen von ihrer bezaubernden Erscheinung. Sie schützte sich mit einem Taschentuch oder einem Fächer; ich, ein weitaus irdischerer Bewohner der luftigen und der unterirdischen Gefilde der mexikanischen Hauptstadt, ich bedeckte meine Lippen mit der Innenseite meiner Hand, lachte und redete mich in aller Freiheit durch die mexikanischen Nächte. Für die, die mich noch nicht lange kannten, bot ich das Bild einer Verschwörerin oder eines seltsamen Wesens, halb Sulamith, halb Fledermaus-Albino. Mir aber war das nicht wichtig. Da ist Auxilio, sagten die Dichter, und da saß ich, am Tisch mit einem Dichter im Delirium tremens oder mit einem selbstmörderischen Journalisten, lachend, schwatzend, heimlichtuerisch, ein klatschhaftes Schandmaul, und niemand konnte behaupten: ich habe den verwundeten Mund der Uruguayerin gesehen, das nackte Zahnfleisch der einzigen Person, die in der Universität blieb, als dort im September 1968 die Grenadiere aufmarschierten. Wohl konnten sie sagen: Auxilio spricht wie die Verschwörer, sie rückt ganz nahe heran und bedeckt ihren Mund mit der Hand. Sie durften sagen (unter Gelächter): Wie schafft sie das bloß, ständig mit einem Buch oder einem Glas Tequila, und sie bedeckt sich den Mund mit der Hand, und so spontan und natürlich? Welches Geheimnis steckt hinter diesem Spiel mit den Zauberhänden? Das Geheimnis, meine lieben Freunde, ich werde es nicht mit ins Grab nehmen - dorthin soll man sowieso nichts mitnehmen. Das Geheimnis sind die Nerven. Die Nerven, die sich strecken und zusammenziehen, um die messerscharfen Ränder der Geselligkeit und der Liebe zu erreichen. 
Meine Zähne verlor ich auf dem Altar, auf dem Menschen geopfert wurden.

4

Aber mir gingen nicht nur meine Zähne durch den Kopf, die mir damals sowieso noch gar nicht ausgefallen waren, da waren noch ganz andere Sachen, der junge Arturo Belano zum Beispiel, den ich kennenlernte, als er sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, 1970, ich war längst zur Mutter der jungen mexikanischen Poesie aufgestiegen, er hingegen war noch ein Knirps, der nicht einmal wußte, wie man trinkt, aber stolz war er, daß Salvador Allende in seinem fernen Chile gerade die Wahlen gewonnen hatte.
Ich lernte ihn kennen während einer ohrenbetäubenden Dichterversammlung in einer Bar namens "Encrucijada Veracruzana", ein fürchterliches Loch, eine Kneipe, wo sich hin und wieder ein bunt gemischter Trupp junger und nicht mehr ganz so junger Talente versammelte. Er auf jeden Fall der Jüngste. Und der einzige, der schon mit siebzehn einen Roman geschrieben hatte. Ein Roman, der später verloren ging, verbrannte oder auf einem der riesigen Müllhaufen am Rande der Hauptstadt landete und den ich las, zuerst mißtrauisch, dann mit Vergnügen, nicht, weil er gut war, nein, sondern weil aus jeder Seite ein großer Wille hervorblitzte, die anrührende Willenskraft eines Jünglings: Der Roman war schlecht, er aber war gut. Und so wurde ich seine Freundin. Ich glaube, weil wir unter lauter Mexikanern die einzigen Südamerikaner waren. Ich freundete mich mit ihm an, ging auf ihn zu, redete mit ihm, die Hand vor dem Mund, und er schaute auf meinen Handrücken, fragte aber nicht, warum ich mir den Mund zuhielt, allerdings glaube ich, im Unterschied zu den anderen ahnte er den Grund sofort, er erriet, daß hier das letzte Residuum meiner inneren Freiheit lag, und es war ihm egal.
Damals, eines Abends, freundete ich mich mit ihm an, trotz des Altersunterschieds. Trotz alledem! Wochen später erzählte ich ihm, wer Ezra Pound sei, wer William Carlos Williams, T.S.Eliot. Einmal brachte ich ihn nach Hause, er war betrunken und krank und hing mit herunterbaumelnden Armen auf meinen schmalen Schultern, und ich freundete mich mit seiner Mutter an, mit seinem Vater und seiner Schwester, die so nett war, alle waren sie so nett.
Als erstes sagte ich zu seiner Mutter: Señora, ich bin nicht mit Ihrem Sohn ins Bett gegangen. Ich bin immer gern offen und ehrlich zu Leuten, die das auch sind (obwohl ich mir wegen dieser unverbesserlichen Angewohnheit schon endlos viel Ärger eingehandelt habe). Ich hob beide Hände, grinste, und dann nahm ich die Hände wieder runter, und sie sah mich an wie jemand aus einem der Manuskripte ihres Sohnes Arturito Belano, der längst schlief wie ein Murmeltier, in der Höhle, die sein Zimmer war. Und sie sagte, ja, ja, aber warum sagst du Señora zu mir? Wir sind doch fast gleichaltrig. Ich hob eine Augenbraue und fixierte sie mit dem blaueren meiner blauen Augen, dem rechten, und dachte bei mir: Aber ja doch, sie hat ja Recht, wir müssen tatsächlich ungefähr gleichaltrig sein, ich vielleicht ein, zwei, drei Jahre jünger, aber im Grunde gehörten wir zu ein und derselben Generation, der einzige Unterschied bestand darin, daß sie ein Dach über dem Kopf und eine Arbeit hatte, für die sie jeden Monat bezahlt wurde, ich hingegen nicht, daß ich mit jungen Leuten ausging und sie mit Leuten gleichen Alters, daß sie zwei heranwachsende Kinder hatte und ich nicht, aber auch das spielte keine Rolle, denn zu jener Zeit hatte ich ebenfalls, allerdings auf meine Weise, unzählig viele Kinder.
So wurde ich eine Freundin der Familie - reiselustige Chilenen, die 1968 nach Mexiko ausgewandert waren. In meinem Jahr. Einmal habe ich?s der Mama von Arturo erzählt: Sieh mal, sagte ich, als ihr mit den Vorbereitungen zu eurer Reise beschäftigt wart, saß ich eingesperrt auf der Frauentoilette im vierten Stock der Fakultät für Philosophie und Literatur an der UNAM. Ich weiß, Auxilio, sagte sie. Komisch, nicht? sagte ich. Ja, komisch, sagte sie. So saßen wir oft lange beieinander, nachts, hörten Musik und lachten. 
Mit diesen Leuten freundete ich mich also an. Und ich verbrachte viel Zeit in ihrer Wohnung, wohin sie mich einluden, einmal blieb ich einen ganzen Monat, ein anderes Mal zwei Wochen, dann wieder eineinhalb Monate, denn zu jener Zeit hatte ich schon kein Geld mehr für die Miete oder ein Zimmer auf dem Dachboden, und mein tägliches Leben war ein Herumstreifen von einem Ende der Stadt zum andern, grad wie der Nachtwind durch die Straßen und Alleen von Mexikos Hauptstadt blies. Tagsüber war ich in der Universität, beschäftigt mit tausend Dingen, und nachts lebte ich das Leben einer Bohemienne, schlief und verstreute meine wenigen Sachen in den Wohnungen von Freundinnen und Freunden, meine Kleider, Bücher, Zeitschriften, Fotos - ich als Remedios Varo, als Leonora Carrington*, als Eunice Odio*, als Lilian Serpas. Und für meine Freundinnen und meine Freunde kam natürlich irgendwann der Moment, in dem sie genug von mir hatten und mich baten zu gehen. Dann machte ich eine witzige Bemerkung und ging. Ich versuchte, die Sache so tief wie irgend möglich zu hängen und ging. Ich schlug die Augen nieder und ging. Ich gab ihnen einen Kuß, sagte danke und ging. Böse Zungen behaupten, daß ich nicht ging. Das ist gelogen. Wenn man mich darum bat, ging ich auf der Stelle. Vielleicht habe ich mich das eine oder andere Mal im Badezimmer eingeschlossen und ein paar Tränen vergossen. Es gibt Schandmäuler, die behaupten, ich hätte eine Schwäche für Badezimmer und Toiletten. Aber da irren sie sich. Toiletten waren für mich schon immer ein Alptraum, seit dem September 1968 allerdings stand ich mit Alpträumen auf vertrautem Fuß. Man gewöhnt sich an alles. Ich mag Badezimmer, und ich mag die Badezimmer meiner Freundinnen und Freunde. Wie jeder Mensch, nehme ich gern eine Dusche, um mit sauberem Körper einen neuen Tag zu beginnen. Ich dusche auch gerne, bevor ich schlafen gehe. Arturitos Mama sagte immer: Nimm das saubere Badetuch, das ich dir hingelegt habe, Auxilio, ich aber rührte nie ein Badetuch an. Hab ich nie gemocht. Ich ziehe mich lieber mit noch nassem Körper an, damit meine eigene Hitze die tropfende Haut trocknet. Die Leute fanden das komisch. Ich auch.     
Aber ich hätte auch ohne weiteres verrückt werden können.

Mit freundlicher Genehmigung des Antje Kunstmann Verlags

Informationen zu Buch und Autor finden Sie hier