9punkt - Die Debattenrundschau

Sieger wird es nicht geben

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.03.2014. Im Guardian erklärt der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow, warum er trotz seiner Eigenschaft als russischer "Volksgenosse" lieber nicht von Putin gerettet werden will. In Le Monde schimpft Juri Andruchowytsch über die russische Propaganda. In der FAZ fürchtet Swetlana Alexijewitsch einen Krieg. In der Welt polemisiert Necla Kelek gegen Pankaj Mishra, der für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires" den Preis für europäische Verständigung erhält. Wir binden Edward Snowdens Intervention beim SXSW-Festival in Austin ein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.03.2014 finden Sie hier

Europa

Im Guardian macht der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow sehr deutlich, dass er, seiner Herkunft nach Russe, nicht von Putin gerettet zu werden wünscht oder braucht: "Das Wort Russe entfacht keinerlei Aggressionen unter Ukrainern und entzündet auch keine Funken des Hasses in ihren Augen. Mein Großvater betrat als erster ukrainischen Boden. Er kam 1943, fiel in der Schlacht um Charkow und wurde in einem Massengrab an der Eisenbahnkreuzung von Walky, nicht weit von der Innenstadt. Er starb im Kampf gegen den Faschismus, und ich muss mich jetzt als Faschist bezeichnen lassen, weil ich gegen die Besetzung meines Landes durch Putins Armee bin, weil ich gegen einen Staat der totalen Korruption bin, wie ihn Janukowitsch und sein Clan errichtet haben, und weil ich in einem Land leben möchte, in dem die Grundsätze eines Rechtsstaates gelten."

Die britisch-ukrainische Autorin Marina Lewycka will dagegen nichts von einer ukrainischen Eigenständigkeit wissen und attackiert, ebenfalls im Guardian, den Westen wegen seiner "Einmischung": "Die Intervention des Westen war dumm und unangemessen, seine Scheinheiligkeit ist beschämend. Vor weniger als einem Monat wurde ein gewalttätiger Aufstand in den Straßen von Kiew gegen eine gewählte Regierung vom Westen als die Erhebung eines Volkes begrüßt, das den Westen Russland vorzieht. Jeder weiß, wenn er kurz drüber nachdenkt, dass so eine schlichte Charakterisierung des 'Volkes der Ukraine' naiv ist, aber die Ergüsse kurzatmiger Journalisten und eingeschnappter Politiker lassen für das Denken keine Zeit." Dafür gibt es die Putin-Medaille!

Die Ukraine hat die Freiheit und jede Menge Freunde gewonnen, schreibt in Eurozine der ukrainische Journalist Witali Portnikow in einer Art Abschiedsbrief an Russland, das die Sympathien eines ganzes Volkes verloren habe: "Du hast die Krim gewonnen und die Ukraine verloren. Und zwar für immer. Lebwohl. Verschon unser Leben."

Die Journalistin und Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die mütterlicherseits Ukrainerin ist, bekennt im Aufmacher des FAZ-Feuilletons ihre Furcht: "Das Schlimmste, was man sich vorstellen kann, wäre ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Ein solcher Krieg wird niemanden schonen, Sieger wird es nicht geben." Sie hat aber auch einen Witz parat: "Janukowitsch wird gefragt: Wieso ist Putin über die Ukraine hergefallen? Er sagt: Ich hab ihn darum gebeten. Und wie kamen Sie zu so einer Bitte? Antwort: Er hat mich darum gebeten."

Wütend schreibt Juri Andruchowytsch in Le Monde über die russische Propaganda: "Es gibt Lügen. Es gibt große Lügen. Es gibt krasse Lügen und schamlose Lügen. Aber die höchste Form der Lügen ist die russische Propagandamaschine. Sie ist auf unverrückbare Traditionen und derartig mächtige Geldströme gebaut, dass man sie bis heute nicht bremsen kann."
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Überwachung

(Via turi2) Hier das Video von Edward Snowdens Intervention beim Festival "South by Southwest" (SXSW) in Austin. Berichte zu Snowdens Videoauftritt gibt es bei heise (hier), im Wirtschaftsteil des faz.net (hier) und in der New York Times (hier).

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Kulturpolitik

Thomas Steinfeld, frisch inthronisierter Kulturkorrespondent in Italien, fragt sich in der SZ angesichts der einstürzenden Mauern von Pompeji, wie funktional der italienische Staat überhaupt noch ist: "Zwei Millionen Euro wurden an diesem Tag für Pompeji freigegeben. Sie stellen einen Bruchteil der 105 Millionen Euro dar, die von der Europäischen Union vor drei Jahren zur Verfügung gestellt wurden und die bis Ende 2015 ausgegeben sein müssen - die Verzögerung gehe auf die Bürokratie zurück, sagen die Verantwortlichen. Aber es gibt diese Bürokratie nicht zuletzt, um die Korruption zu verhindern, die neben dem Verwaltungswahn den anderen stehenden Vorwurf gegen italienische Verhältnisse bildet. Eigentlich sei es ein Ding der Unmöglichkeit, erklären die Verantwortlichen jetzt, in so kurzer Zeit und gemäß geltender Regeln so viel Geld auszugeben."
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Geschichte

Pankaj Mishra erhält morgen in Leipzig für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires - Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens" den Preis für Europäische Verständigung, weil es einen Blick von außen auf Europa wirft. Allerdings ist dieser Blick zutiefst antieuropäisch und verharmlost den Islamismus, meint Necla Kelek in einer Polemik zu diesem Preis. Sie hätte eine bessere Kandidatin für den Preis grewusst: "Die tunesische Soziologin Fatima Mernissi, die sich auch mit den Auswirkungen des Kolonialismus auf den Orient beschäftigt, zieht eine andere Bilanz als Mishra. Für sie gibt es bis heute keine Einsicht der arabischen Völker, dass Sklaverei ein Unrecht ist und dass erst die französischen Kolonialherren in den dreißiger Jahren in Marokko die Sklaverei abgeschafft hätten. Die doppelte Schmach, von den Besatzern befreit zu werden, quälte sie am meisten. Mishra sind solche Selbstzweifel fremd."
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Internet

Ilja Braun zieht im Perlentaucher (der ein Kapitel seines neuen Buchs vorabdruckt) eine überraschende Parallele zwischen Urheberrecht und Datenschutz: "'Meine Daten gehören mir' lautet der Slogan, mit dem Datenschützer und Netzaktivisten ihrer Forderung nach einem möglichst weit reichenden Verfügungsrecht des Einzelnen über die 'eigenen' Daten Nachdruck verleihen. Wenn man diesen Anspruch für berechtigt hält, muss man anerkennen, dass er demjenigen der Urheberinnen und Urheber, die über die Verbreitung und Nutzung ihrer Werke selbst bestimmen möchten, nicht unähnlich ist." Braun leitet darauf im folgenden seinen Vorschlag zum Umsturz der Netzökonomie ab.

Hans-Ulrich Gumbrecht eröffnet die neulich annoncierte FAZ-Serie von geisteswissenschaftlichen Betrachtungen über das Internet und rät: "Bevor wir davon träumen dürfen, die Folgen der elektronischen Revolution zu steuern oder wenigstens abzufedern, müssen wir neue Instrumente der Analyse erfinden, um ihre Strukturen und Prozesse überhaupt zu erfassen - früh genug, um zu vermeiden, dass die wachsende Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit dieser neuen Welt unumkehrbar wird."
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