Dokumentation

Ein weiterer Offener Brief chinesischer Dissidenten

21.10.2008.
Am 9. Oktober veröffentlichten 49 deutsche Intellektuelle, die meisten von ihnen Sinologen, aber auch Persönlichkeiten aus der Politik, Schriftsteller und Journalisten, einen offenen, an die Deutsche Welle und den Deutschen Bundestag gerichteten Brief, in dem sie die Freiheit von Nachrichtenmedien und die Rechte der angeblich unfair behandelten Redakteurin Zhang Danhong verteidigten. Den Unterzeichnern des Briefes ging es im wesentlichen um folgende Punkte: Erstens um die Verteidigung der Meinungsfreiheit und der Rechte der Deutsche-Welle-Journalistin Zhang Danhong. Zweitens ging es darum, die "Autorenvereinigung der Bundesrepublik Deutschland" und chinesische Dissidenten für ihren vorausgegangenen offenen Brief, in dem sie eine gründliche Untersuchung des Hintergrunds bestimmter Mitarbeiter der Deutschen Welle gefordert hatten, zu verurteilen - mit der Begründung, dass so etwas das Prinzip der Pressefreiheit verletze; dabei bezeichneten sie die chinesischen Dissidenten, die den ersten offenen Brief mitverfasst hatten, als Aktivisten der Falun-Gong-Sekte. Drittens unterstellten sie, dass der Brief der "Autorenvereinigung" und der Dissidenten zum Ziel habe, einen normalen Austausch zwischen China und dem Rest der Welt zu unterbinden und eine differenzierte, vorurteilsfreie Berichterstattung der Medien über China zu verhindern.

Bei vielen der 49 Erstunterzeichner des offenen Briefes handelt es sich um Intellektuelle, die in ihren jüngeren Jahren die 68er-Stundentenbewegung in Europa miterlebt haben. Jetzt bilden sie das Rückgrat der Gesellschaften Europas - und sie tendieren unweigerlich zu "politischer Korrektheit". Ihr offener Brief missachtet jedoch eine grundlegende Maxime für Nachrichtenmedien und Wissenschaft: den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.

Zhang Danhong hat das Glück, in einem freien Land journalistisch arbeiten zu können. Sie hat jedoch ihrem eigenen Gewissen und journalistischer Ethik zuwidergehandelt, indem sie zur Fürsprecherin eines autokratischen Systems wurde, eines Systems, das Mitglieder ihres eigenen Berufsstandes mundtot macht, ausgrenzt oder sogar einsperrt. Es musste Zhang Danhong bekannt sein, dass es im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking vielen chinesischen Journalisten und Schriftstellern verboten wurde, sich öffentlich zu äußern, dass viele von ihnen unter Hausarrest gestellt, von ihrem Wohnort vertrieben oder sogar inhaftiert wurden. Trotzdem versuchte sie mit ihren Äußerungen bei öffentlichen Auftritten weiterhin, sich die Gunst des totalitären Regimes zu erhalten, mit Aussagen wie: "Die Kommunistische Partei Chinas hat mehr als jede andere politische Kraft für die Verwirklichung des Artikels 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geleistet." Das ist nicht nur unverantwortlich, sondern eine gravierende Falschaussage, und es ist daher vollkommen nachvollziehbar, dass es Menschen gibt, die eine Überprüfung ihres Hintergrunds verlangten. Das hat absolut nichts mit einer "Verletzung der Pressefreiheit" zu tun. Tatsächlich ist die Deutsche Welle in dieser Angelegenheit mit Zhang Danhong so nachsichtig wie möglich umgegangen.

Der offene Brief der 49 Intellektuellen warf die Frage auf, wie mit dem Aufstieg und der Entwicklung Chinas medial umzugehen sei, und er verlangte, dass die deutschen Nachrichtenmedien unparteiisch über China berichten sollten. Mit diesem Scheinargument wird die eigentliche Frage vermieden. Wie soll diese unparteiische Berichterstattung denn aussehen? Indem nur Positives und nichts Negatives über China berichtet werden darf, wie es den chinesischen Medien abverlangt wird? Sollten die "Skandal-"Berichte deutscher Medien über China möglicherweise nur von Vorurteilen geprägt sein? Es ließe sich die einfache Gegenfrage stellen: Wie hätte denn damals, vor Jahrzehnten, die Außenwelt über den Aufstieg Deutschlands und Japans und der Sowjetunion unparteiisch berichten sollen?

Erinnern Sie sich bitte an die deutsche Geschichte: Hätte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg keine Entnazifizierung stattgefunden, wären die Kriegsverbrecher nicht gezwungen worden, sich in den Nürnberger Prozessen ihren Richtern zu stellen, wäre Willi Brandt nicht voller Trauer und Scham an der Gedenkstätte für die im Warschauer Ghetto ermordeten Juden niedergekniet, dann hätte sich das deutsche Volk niemals von dem geistigen Schaden, den der Nationalsozialismus angerichtet hatte, erholt und der wirtschaftliche Wiederaufschwung Deutschlands nach dem Krieg hätte vom Rest der Welt niemals akzeptiert werden können. Und hat nicht gerade die 68er-Bewegung genau diese "historische Wahrheit" eingefordert?

Führen Sie sich die schätzungsweise 20 bis 30 Millionen unschuldigen Opfer von Gewalt und Demütigung vor Augen, welche die chinesische Bodenreformbewegung, die Kampagne gegen Rechts, die große Hungersnot nach dem Großen Sprung, die Kulturrevolution und die Landverschickung von städtischen Jugendlichen zu verantworten hatten. Bis zum heutigen Tag hat die chinesische Regierung keine Untersuchung dieser Verbrechen zugelassen, geschweige denn, sich mit einem Wort dafür entschuldigt. Seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen in den achtziger Jahren hat die chinesische Regierung auf jede Form von sozialer Erhebung immer gleich reagiert: indem sie sie durch Polizei oder Militär unterdrücken ließ. Von der "Kampagne zur Verbrechensbekämpfung" ("Hartes Durchgreifen") 1983 über die Demokratiebewegung 1989 bis hin zum Fall des 2000-Seelen-Dorfes Taishi, (in dem die Bewohner im Jahr 2005 versuchten, den KP-Bürgermeister abzusetzen) hat sich die Regierung regelmäßig gegen ihr eigenes Volk gestellt. China verdankt sein heutiges Image von einer prosperierenden Wirtschaft großenteils einem riesigen Heer verarmter Wanderarbeiter, das Arbeitsschutz oder Krankenversicherung nicht einmal ansatzweise kennt. Die chinesische Regierung hat die Rolle übernommen, die früher den Grundbesitzern und Kapitalisten zufiel: des brutalen und gnadenlosen Ausbeuters, der sich an der Schaffens- und Arbeitskraft des Volkes bereichert.

Natürlich ist das heutige China viel "freier" als zu Zeiten Mao Zedongs; damals konnte mit dem Tode bestraft werden, wer versehentlich eine Zeitung besudelte, auf der Maos Bild prangte. Inzwischen genießt die Mehrheit der Bevölkerung zweifellos viel größeren Wohlstand, aber soziales Unrecht, staatliche Korruption und soziale Unruhen haben ebenfalls dramatisch zugenommen. Die Menschen sehen sich immer wieder gezwungen, sich zu erheben und ihr Recht einzuklagen. Der blinde Anwalt Chen Guangcheng, die Menschenrechtsanwälte Guo Feixiong und Gai Zhisheng, der Schriftsteller Du Daobin, der Journalist Shi Tao, der AIDS-Aktivist Hu Jia haben sich auf die Seite des einfachen Volks gestellt, aber die chinesische Regierung hat sie alle ins Gefängnis geworfen.
Verehrte Wissenschaftler, die Sie in einem Land leben, das die freiheitlichen Grundrechte verteidigt, wie kann es sein, dass Sie Partei für die Mächtigen ergreifen, wenn Sie zwischen den mächtigen Verfolgern und den machtlosen Opfer entscheiden müssen? Warum haben Sie sich entschlossen, die Rechte von Zhang Danhong zu verteidigen, die nichts weiter zu befürchten hat als den Verlust ihrer Funktion als stellvertretende Leiterin innerhalb der China-Redaktion der Deutschen Welle, wenn Sie sich andererseits noch nie für die Rechte der zu schweren Haftstrafen verurteilten Chen Guangcheng oder Shi Tao eingesetzt haben? Haben Sie sich, während Sie das chinesische Volk, dem seine Grundrechte weiterhin versagt werden, aus akademischer Distanz beobachten, je öffentlich für diese Menschen eingesetzt und deren Misshandlung angeprangert? Worin unterscheiden Sie sich von dem großen Schriftsteller Romain Rolland, der sich in den dreißigerJahren mit den Kritikern des internationalen PEN anlegte, aber seine Augen vor den Menschenrechtsverletzungen des Naziregimes verschloss?

Als Sinologen haben Sie mit großen Mühen die chinesische Sprache erlernt, worüber Ihnen vielleicht das deutsche Adjektiv "unbequem" abhandengekommen ist, eine Eigenschaft, die den unabhängigen Intellektuellen auszeichnet. Ein echter Intellektueller wird sich nie mit den Mächtigen arrangieren; einem hemmungslos totalitären Regime sollte er mit um so größerer kritischer Wachheit und Reserviertheit gegenüberstehen und den Mächtigen das Leben so unbequem wie möglich machen. Wir bedauern zutiefst, dass Sie, die 49 Unterzeichnenden, sich weder in die Reihe Ihrer großen deutschen literarischen Tradition gestellt noch vom indirekten Einfluss der hohen Ideale in der chinesischen Kultur einen Nutzen gezogen haben. Ihr offener Brief hat die Propagandamaschine der chinesischen Diktatur weiter befeuert und ihr neue Munition gegeben, die Demokratie in Deutschland ebenso anzugreifen wie die chinesischen Dissidenten, während das einfache chinesische Volk und die Verteidiger von Recht und Gerechtigkeit mit ihrer Enttäuschung und Demütigung alleingelassen werden.


Tienchi Martin-Liao, Direktorin der "Laogai Research Foundation?, Washington, DC , Herausgeberin der Reihe Arcus Chinatexte, Bochum
Emily Lau, Former Chairperson of Hong Kong Journalists Association, Legislative Councillor, Convenor of the Frontier, Vice-chairperson of China Human Rights Lawyers Concern Group, Hong Kong

Albert Ho, Solicitor, Legislative Councillor, Chairman of Hong Kong Democratic Party, Chairman of China Human Rights Lawyers Concern Group, Hong Kong

Wing Mui Tsoi , Chefredakteurin von "Open Magazine?, Hongkong

Yi Zheng , Schriftsteller, Vorsitzender des "Independent Chinese PEN", Washington DC,

Yisan Wu, Autor, Hongkong,
Xiaogang Zhang, Generalsekretär des "Independent Chinese PEN ?, Schriftsteller, Sydney,

Lian Yang, Poet, Vorstandsmitglied des "Internationalen PEN", London,

Yu Zhang,Ph D., Chefredakteur des "Bulletin of the Chinese in Nord Europe?, Koordinator für das "Writers in Prison Committee?, Stockholm,

Harry Wu, Geschäftsführender Direktor der "Laogai Research Foundation?, Verleger und Verantwortlicher Publizist des "China Information Center?, WashingtonDC ,

Chu Cai, Poet, Chefredakteur "Wild Grass?, Herausgeber "Democratic China?,

Lili Yang, Ph.D., Chefredakteur der Internetseite "Guancha? (observechina.net),

Kuide Chen, Ph.D., Wissenschaftler, Geschäftsführender Direktor der "Princeton China Initiative?, Chefredakteur der Internetseite "China in Perspective? (www.chinainperspective.com), Princeton/Washington DC,

Emily Wu, Autorin von "A Feather in Storm? (dt.: "Feder im Sturm?, Verlag Hoffmann und Campe) ,San Francisco,

Jiazhen Qi, Schriftsteller, Melbourne,
Wa Jing, Dichterin, Kalifornien,
Patrick Kar-wai Poon, ehemaliger Journalist der "South China Morning Post?, Mitglied des "Writers in Prison"-Komitees des Internationalen PEN, Hongkong,

Luoying Hai, Schriftsteller, Melbourne
Ping Hu, Schriftsteller, Chefredakteur von "Beijing Spring", New York,

Yongyi Song, Schriftsteller, Geschichtswissenschaftler, Kalifornien,

Nan Zhao, Publizist, Japan

David Ding, Schriftsteller,
Liyong Sun, Publizist, Sydney,
Yue Jiang, Freier Autorin, New York,
Minru Yan, Schriftstellerin, Zürich,

Yue Sun, Publizist, Moskau,
Jianhong Li, Schriftstellerin, Shanghai/Stockholm,
Xiaodong Liu, Publizist, Chicago,
Xue Sheng, Schriftstellerin, Journalist, Toronto,
Pei Xu, Ph.D., Dichterin, Köln,
Rongfen Wang, Ph.D., Schriftstellerin, Wissenschaftlerin, Wiesbaden,
Fengshi Yang , Ph.D., Komponistin, Chicago,
Dan Wang, Ph.D., Wissenschaftler, Herausgeber von "Beijing Spring", New York,
Pinchao Jiang, Herausgeber von "Poetry Anthology of June 4th", San Francisco,
Jianli Yang, Ph.D., Senior Researcher an der Harvard University, Boston,
Liangyong Fei, Wissenschaftler/Ingenieur für Reaktorsicherheit, Vorsitzender der Föderation für ein Demokratisches China, Nürnberg,
Xiayang Zhang, Publizist, USA
Lisa Zhao, Publizistin, USA
Weiguang Zhong, Wissenschaftler, Schriftsteller, Essen, Germany,
Qing Zhou, Schriftsteller, Preistraeger des Lettre Ulysses for the Art of Reportage, Beijing/Koeln,
Xi Chen, Schriftsteller, Dissident, Guizhou Provinz
Sile Ni, Mogolish Schriftsteller, Xiaolu Huang, Redakteurin, Geschaeftsfuehrerin"Huang Wanli Foundation?, Washington DC
Gu,Yuan, Redakteurin von Guancha website (observechina.net) , Washington DC,
Simon Si, Attorney, Washington DC,
YingZhang, Schriftsteller, Amsterdam.