Post aus der Walachei

Rumänen - die unglücklichsten Menschen der Welt?

Von Hilke Gerdes
04.02.2004. Es gibt keinen öffentlichen Raum in Rumänien. Der öffentliche Raum ist keine Aktionsfläche, sondern ein gezwungenermaßen zu betretendes Terrain.
Im Autobus herrscht eisiges Schweigen. Nur ein kleiner Junge kommentiert laut, was er draußen sieht. Einige wenige schauen mit unbewegter Miene kurz auf und wenden die Augen schnell ab, wenn man sie anblickt. Nie bekommt man ein Lächeln. Selbst das blonde Kind nicht, dem man im westlicheren Südeuropa so gern über den Kopf streicht. Die Gesichter bleiben unbewegt.

Ich bilde mir ein, das schwere Leben während der Ceausescu-Zeit, die Enttäuschung über die Wende, die für viele keine Besserung gebracht hat, und den anstrengenden Kampf um die eigene Existenz in den Gesichtern ablesen zu können. Es ist ein harter Zug, eine sehr ernste Haltung bei vielen zu erkennen.

Die Allgemeine Deutsche Zeitung zitiert die Ziua, nach der eine Umfrage zwischen 1999 und 2001 ergeben hat, dass die Rumänen zu den unglücklichsten Menschen der Welt gehören. Noch unglücklicher als Russen und Armenier, wie betont wird. Womit man wohl sagen möchte: Und das will was heißen.

Kommt man mit den Menschen ins Gespräch, weicht die kühle Distanz meistens schon nach kurzer Zeit einer sehr freundlichen, zuvorkommenden Haltung. Bereitwillig gibt man Auskunft. Und beschreibt mit einem Lächeln im Gesicht, wie schwierig das tägliche Leben ist. Es kommt vor, dass gescherzt wird, doch auch dann schwingt ein ernster und manchmal verbitterter Ton mit.

Liest man E.M. Cioran, der mit 26 Jahren von Transsilvanien nach Paris ausgewandert ist, so könnte man meinen, dass dieser Wesenszug weniger den harten Lebensbedingungen der letzten Jahrzehnte geschuldet ist, als dass er dem Land innewohnt:

"Mein Land, dessen Dasein offensichtlich sinnlos war, erschien mir wie ein Resümee des Nichts oder eine Materialisierung des Unbegreiflichen, wie eine Art Spanien ohne Goldenes Zeitalter, ohne Eroberungen und ohne Wahnsinn, auch ohne einen Don Quijote unserer Bitterkeit." (aus: "Dasein als Versuchung")

Rumäniens geographische Randlage in Europa mit all ihren politischen, kulturellen und sozialen Konsequenzen hat Spuren hinterlassen.

Optimismus

Anfang Januar berichten die Zeitungen von einer Meinungsumfrage, die in sechzig Ländern durchgeführt wurde und nach der die Rumänen zu 39 Prozent glauben, dass 2004 ein besseres Jahr sein wird als das vorherige. Nur in den USA und Großbritannien werde die allgemeine Perspektive noch positiver eingeschätzt. Rumänien ein Land des Optimismus, wie in den Schlagzeilen behauptet wird? Auslegungssache, 2004 ist Wahljahr, da nützt die positive Stimmungsmache.

Ich scheine nur Menschen zu treffen, die den restlichen sechzig Prozent angehören: Skeptiker und Pessimisten.

"Wir haben keine Demokratie, wir haben reine Interessenpolitik." - "Es fehlt eine politisch aufgeklärte Mittelklasse" - "Unter Ceausescu wurde jede neue Verordnung mit der Tilgung der Auslandsschulden begründet, heute heißt es immer, es muss so sein, denn wir wollen in die EU."

Öffentlichkeit

Der öffentliche Raum ist keine Aktionsfläche, sondern ein gezwungenermaßen zu betretendes Terrain. Der Mensch nicht Akteur, sondern ein fliehendes Teilchen. Orte, die Plätze genannt werden, sind mit wenigen Ausnahmen entweder Achsenkreuze wichtiger Verkehrsstraßen oder kümmerliche Grünanlagen umgeben von Straßen und Parkplätzen.

Der Platz als Ort des Zusammentreffens, der Komunikation und Interaktion im Sinne der griechischen Agora, ist zerstört worden. Sagt Augustin Ioan, Assistenzprofessor an der Bukarester Universität für Architektur und Stadtplanung. "Dass sich viele Menschen versammeln, sollte nur bei Aufmärschen und politischen Massenveranstaltungen stattfinden - als gelenkte Masse auf einem einzigen Platz, der damit aber kein öffentlicher Platz war." So Ioan in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (07.01.2004).

Nur die alten Parks der Stadt bieten einen Schimmer von einem öffentlichen Raum, den sich die Menschen angeeignet haben und in dem sie sich wohl fühlen. Der Rest ist Feindesland.

Wenn auf der Straße jemand stürze, würde keiner zu Hilfe eilen, behaupten rumänische Jugendliche. Bisher hatte ich keine Gelegenheit Derartiges zu beobachten. Nur wie dem betrunkenen Mann im Bus keiner eine Antwort auf seine Frage nach der nächsten Haltestelle gab.

"Im Grunde sah mich keiner von ihnen an, alle taten so, als hätten sie beschlossen, sich nicht einzumischen, darauf zu warten, daß alles vorüberging - und Gott allein wußte, wie es enden würde, schienen sie zu sagen -, ohne selbst für die weitere Entwicklung der Dinge verantwortlich gemacht zu werden."

So wie Ana Blandiana in ihrem Roman , "Die Applausmaschine" Menschen im Ceausescu-Regime beschreibt, so erscheinen sie mir teilweise auch heute noch: teilnahmslos.

Viel "Anteilnahme" dagegen im Postamt: Ich will ein Paket abholen. Nachdem Formulare herausgesucht, verglichen, neue ausgefüllt und unterschrieben sind, wird das Paket aus dem Lager geholt. Und in meiner Gegenwart geöffnet. Das wird immer so gemacht und soll dazu dienen, dass ich kontrollieren kann, ob noch alles drin ist (nicht einfach, wenn es ein Geschenkpaket und sein Inhalt eine Überraschung ist). Die Frau (und es sind immer Frauen, die in den öffentlichen Ämtern an den Schaltern arbeiten) faltet das Tuch auseinander und hält den Spielzeug-Dinosaurier, der darin verborgen war, hoch in der Hand, um ihn ihren Kolleginnen zu zeigen. Ich fühle mich merkwürdig beschämt ob dieses Eingriffes in meine Privatsphäre. Hier wird er für selbstverständlich genommen. Es ist das Amt, welches dazu bevollmächtigt.

Intimität

Das Intime
wird an die Oberfläche gezerrt - auch in der frostigen Öffentlichkeit. Sexuelle Konnotationen und leicht bis unbekleidete Frauen finden sich auch hier in der Werbung. Das hat man schnell vom Westen übernommen. In den TV-Sendungen, Shows und Quiz fungieren die Frauen als sexuelle Eyecatcher. Die jungen Bukaresterinnen ahmen diese Medienerotik nach. In der Kleidung wie im Tanzstil. Verblüffend freizügig, oder nahezu vulgär, erscheinen mir Dekolletes und Rocklängen. Zusammen mit kniehohen Stiefeln oder High Heels macht es schnell einen nuttigen Eindruck.

Gleichzeitig besteht ein merkwürdiger Missklang zwischen dem Sexuellen in der Öffentlichkeit, imitiert von der Jugend, und der Prüderie in den Köpfen vieler Älterer. Aufklärung kommt im Lehrplan nicht vor, schlüpfrige Wörter sind tabu. Im Kindergarten lassen die Kinder ihre Unterwäsche unter dem Schlafanzug an, damit der nackte Körper nicht zum Thema wird.

Freikörperkultur ist hier nicht üblich, für ihre Anhänger gilt ein kleiner Ort an der Grenze zu Bulgarien als Geheimtipp.

Selbst lockere junge Menschen werden einsilbig, wenn man fragt, ob es irgendwo Lokale gäbe... Homosexualität ist seit zwei Jahren nicht mehr verboten, wird aber von vielen weiterhin als abnorm betrachtet.


Erziehung

Kinder aus Elternhäusern, die sich um Bildung bemühen und die finanziellen Mittel haben, sind von morgens bis abends damit befasst zu lernen. Selbst im Kindergartenalter. Der Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen steht dabei im Vordergrund. Verständlich, wenn man bedenkt, dass die Firmen hier für gut dotierte Jobs perfekte Kenntnisse in mindestens zwei Sprachen verlangen. Ich kenne einen Vater, der seit der Geburt seiner Tochter mit ihr ausschließlich englisch spricht. Jetzt lernt sie dazu noch Deutsch und hat zweimal die Woche nach dem Kindergarten, wo diese Sprache gelehrt wird, noch Nachhilfe-Unterricht. Ein 12-Stunden-Tag für eine knapp Sechsjährige. Ein Extremfall, der aber die Richtung anzeigt. Es geht bei allem um den Erwerb von Wissen. Um jeden Preis. Und wenn es anders nicht geht auch mit in der Ecke stehen und an dem Ohr ziehen.

Lernen zur Selbstständigkeit, das oberste Prinzip im deutschen Kindergarten, und soft skills, wie Rücksichtnahme auf den anderen, spielen hier keine Rolle. Selbst Sechsjährigen werden noch die Schuhe angezogen. Ist die Erzieherin für einen Moment nicht im Raum, geht das Hauen und Stechen um das beste Spielzeug los.

Bevölkerungsschwund

Die Sorge um die demografische Entwicklung des Landes hat die Tageszeitungen erreicht. "Sinkt Bevölkerung bis 2050 auf 16 Millionen?" ist die Schlagzeile auf der Titelseite der ADZ. Ähnliches kann man in der Libertatea, einer Art rumänischen Bildzeitung, lesen. Heute hat Rumänien um die 22 Millionen Einwohner. Auch hier steigt die Anzahl der Frauen, die sich gegen Kinder entscheiden. Oder immer älter werden, bevor sie eins bekommen. Besonders Frauen in mittleren Positionen sind einem enormen Druck ausgesetzt, müssen sie Arbeit und Familie in Einklang bringen. Private Arbeitgeber, die Überstunden und Wochenendschulungen für selbstverständlich halten, und ein Rollenverständnis, nach dem die Frau für Kinder und Küche zuständig ist, erschweren ihr Leben beträchtlich. "I feel like a slave", sagt die gut bezahlte Headhunterin einer internationalen Firma und Mutter von zwei Kindern. Immer mehr jüngere Frauen ersparen sich dieses Sklaventum.

Frauen

Noch nie habe ich so viele schöne Frauen gesehen wie hier in Bukarest. Vielleicht mit Ausnahme von Warschau, wo sie meinem Begleiter Blicke zuwarfen, deren offensive Art mich verblüffte. Die Bukaresterin guckt stur geradeaus. Sie legt sehr viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Selbst die bescheiden gekleidete Verkäuferin im kleinen Zeitungskiosk hat sorgfältig Lippenstift aufgelegt. Und wer hier keine lackierten Fingernägel trägt, ist mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit Ausländerin.

Selbst in sozialistischen Zeiten, als man morgens um drei aufstehen musste, um vier Stunden später einen Liter Milch zu ergattern, gab es zahlreiche Schönheitssalons, die auch heute noch in Betrieb sind. Eine Fundgrube für Anhänger alten Ostdesigns, haben sie sich doch bis auf einige hinzugefügte Plakate von Wella kaum verändert. Es sind große Ladenlokale, die alle Arten von Körperpflege bieten, Massage und manchmal auch Sauna. Häufig sitzen alte Männer oder Frauen stumm vor dieser Art von Geschäften, wo sich das schlechte Gewissen schneller regt ob des gerade konsumierten Luxus. Nicht umsonst heißt ein neuer Salon im Zentrum "Egoist".

Zu der Klientel der Schönheitssalons gehört nicht die Kategorie von Frauen, die in dick wattierten Jacken und unförmigen Stiefeln kolonnenweise in den Straßen von Bukarest auftritt. Sie gehören mehrheitlich den Roma an. Zu acht oder zehnt rücken sie mit Schaufeln an und hauen die vereiste Schneedecke der Bürgersteige auf. Für kurze Zeit ist auf kleinen Wegstreifen unbeschwertes Gehen möglich, bis es wieder schneit, die Schneedecke sich festtritt und vereist. Tage später rückt wieder die Kolonne an. Ein ewiges Spiel.

Männer

Der männliche Schönheitskoeffizient bleibt weit unter dem des weiblichen. Diese Disproportionalität verblüfft jeden Neuankömmling. Und so haben es hier ausländische Männer viel leichter. Nicht dass sie besonders attraktiv sein müssen, was das Äußerliche angeht. Es genügt, der inländischen Konkurrenz das Wasser zu reichen. Nur die finanzielle Ausstattung sollte solide sein, dann findet hier noch jeder eine Frau - fürs Leben oder für den Augenblick.

In englischsprachigen Infobroschüren über Bukarest wird auf den letzten Seiten offenherzig für "world famous escort agencies" und "masaj-oriental" geworben. Wer hier teurere Restaurants oder Hotels aufsucht, muss schon blind sein, wenn er die bilateralen Zweckbündnisse nicht wahrnimmt. Der Altersunterschied und die Inkongruenz der physischen Erscheinungen sind nicht zu übersehen.