9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn die Schweizer das können, können wir das auch

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2017. Der Guardian erklärt, warum Schadenfreude über May und Jubel über Corbyn unangebracht sind: die Tories bleiben, der Brexit kommt. Die jamaikanische Kulturwissenschaftlerin Imani Tafari-Ama erzählt in der taz, weshalb es das Thema Kolonialismus in Deutschland besonders schwer hat. Zweifel und Glauben sind nach evangelischem Verständnis nicht Gegner, sondern Brüder, erklärt Johann Hinrich Claussen im Tagesspiegel mit Blick auf die Berliner Schlosskuppel. Und die NZZ tendiert nach reiflicher Überlegung gegen offene Grenzen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.06.2017 finden Sie hier

Politik

Donald Trump wird als impulsiv, launisch und wechselhaft wahrgenommen. Das kann der britische Historiker Brendan Simms, der sich für sein neues Buch mit der Weltsicht Trumps beschäftigt hat, im Gespräch mit Michael Hesse (FR) nicht bestätigen: "Was mich besonders überrascht hat, war, dass er schon seit 30 Jahren sagt, was wir heute Trumpismus nennen. Das hat er nicht erst im Wahlkampf 2016 zusammengebastelt. Es fing mit scharfer Kritik an Japan an. Seit 2000 ist China für ihn der große Buhmann in Asien. Deutschland hatte er übrigens immer schon im Visier. Bereits in den späten achtziger Jahren, Anfang der neunziger Jahre sprach er davon, dass die amerikanischen Automobilhersteller durch die deutschen Importe benachteiligt würden. Er hat damals schon betont, er würde am liebsten Importzölle auf deutsche Autos erheben. In den letzten Wochen hat er das erneut bekräftigt."

Die NZZ setzt sich auf zwei Doppelseiten mit dem Thema Migration und der Utopie von "open borders" auseinander. Für den Wiener Philosophen Hans Bernhard Schmid hat die Theorie der für jedermann offenen Grenzen einen entschiedenen Haken: "Die Erfahrungen mit internationaler Freizügigkeit, für welche die EU ein einzigartiges Großexperiment darstellt, plausibilisieren die These, dass internationale Freizügigkeit mit großem Druck in Richtung politischer Integration auf fiskalischer, rechtlicher, ökonomischer Ebene einhergeht. Von hier aus weitergedacht, legt die Utopie globaler Freizügigkeit einen globalen föderalen Weltstaat nahe. Wem es in diesem Weltstaat dann aber nicht gefällt, der kann nicht mehr auswandern, denn der Weltstaat ist überall. Das Recht auf Emigration würde damit für all jene, die sich die dannzumal vielleicht mögliche Ansiedlung auf einem anderen Planeten nicht leisten können, völlig wertlos."

Noch skeptischer nimmt sich der Beitrag des Schweizer Autors Hans Widmer aus: "Wohl fördert der Transfer von Know-how die Wirtschaftsentwicklung, doch leisten diesen wenige Know-how-Träger, nicht Massen. Die Zuwanderung von Massen verbessert nichts, erhöht vielmehr nur die Bevölkerungsdichte."

Der Unternehmer und Jurist Titus Gebel schlägt als Lösung die Einrichtung privater Migrantenstädte an Brennpunkten vor: "Aufgrund der garantierten Sicherheit, der Bindung an Recht und Vertrag, der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten und der Nichtzulassung politischer oder religiöser Konflikte spricht alles dafür, dass solche Gemeinwesen wachsen und gedeihen werden. Sie können vielen Menschen eine echte Perspektive bieten, die sie anderweitig aufgrund der Ungnade der Geburt am falschen Ort nicht haben."

Einzig Johan Rochel, assoziiertes Mitglied am Ethik-Zentrum der Universität Zürich, sieht starke Argumente für offene Grenzen. Er spielt das Gedankenexperiment durch, welche Gesellschaftsordnung und welche Migrationsregeln wir - vor der Geburt - wählen würden, wenn wir nicht wüssten, in welchem Land wir leben werden: "Jegliche Beschränkung der Freiheit im Rahmen der Migrationspolitik, insbesondere die Beschränkung der Bewegungsfreiheit, steht a priori unter Rechtfertigungsdruck. Das wäre gleichbedeutend mit einer Umkehrung des Status quo: Einwanderung sollte im Grundsatz erlaubt sein (und von allen Staaten garantiert werden), außer es gibt legitime Gründe, die für ihre Beschränkung sprechen."
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Europa

Nach der Wahl in England mag Deborah Orr im Guardian keine Genugtuung oder Schadenfreude gegenüber Theresa May empfinden, und schon gar keinen Jubel über das überraschend gute Abschneiden Jeremy Corbyns. Schließlich habe die Wahl nichts geändert: der Brexit bleibt unabwendbar und die Tories bleiben an der Regierung. "I'm supposed to be thrilled that Corbyn got the kids out. Maybe he should have got the kids out a year ago during that terrible, dishonest EU referendum, that Cameron promised in order to be prime minister for what turned out to be an extra 13 inglorious months. The kids have voted for the man who made it plain that he didn't really care about the EU, one way or the other, even though the kids who did vote last time voted overwhelmingly to stay in Europe."
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Internet

Das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz von Justizminister Heiko Maas gegen Hate Speech in sozialen Netzwerken gefährdet die Menschenrechte auf Meinungsfreiheit und Privatsphäre, warnt der UN-Sonderberichterstatter David Kaye in einem offenen Brief, wie Alexandra Hiller auf Netzpolitik berichtet: "Hohe Bußgelder und kurze Deadlines könnten die Unternehmen zu einer Überregulierung der Inhalte antreiben, wodurch mehr gelöscht würde, als nötig. Auch legale Inhalte könnten durch diesen vorauseilenden Gehorsam entfernt werden. Zudem bemängelt der UN-Sonderberichterstatter in seinem offenen Brief die mangelnde juristische Kontrolle und Delegation der Verantwortung zur Löschung an private soziale Netzwerke. 'Ohne juristische Kontrolle ist die Abgabe der Verantwortung für die Löschung von Inhalten Dritter an private Firmen nicht mit den internationalen Menschenrechtsbestimmungen vereinbar.'"
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Medien

Die Affäre um einen vom WDR für Arte finanzierten Dokumentarfilm über Antisemitismus in Europa, den Arte nun doch nicht ausstrahlen will, zieht weite Kreise, nachdem der Zentralrat der Juden und Experten wie die Historiker Götz Aly und Michael Wolffsohn zur Freigabe des Films aufgefordert haben. In der Welt rekapituliert Christian Meier nocheinmal die Geschichte von der Entstehung bis zur Absetzung des Films.

Ebenfalls in der Welt nimmt Richard Herzinger Artes Argumente für die Absage unter die Lupe und befindet sie als wenig stichhaltig. So sieht er etwa für die Entscheidung der Autoren Sophie Hafner und Joachim Schröder, sich nicht ausschließlich mit Europa, sondern auch mit den Zuständen in Israel selbst zu befassen, zwingende Gründe: "Denn der Judenhass von heute, der sich etwa im Sommer 2014 bei Protestdemonstrationen in Deutschland gegen die israelischen Luftangriffe auf Stellungen der Hamas in Gaza in Parolen wie 'Hamas, Hamas, Juden ins Gas' auf schockierende Weise äußerte, stützt sich weitestgehend auf Propagandalügen über Israel. Diese zu widerlegen, sahen die Autoren Hafner und Schröder daher als wichtige Aufgabe an. Dies umso mehr, als sich manche böswillige Legende über die Entstehung des jüdischen Staates und sein Verhältnis zu den Palästinensern längst zu einer auch im gesellschaftlichen Mainstream tief verwurzelten Vorurteilsstruktur verfestigt hat. Das gilt etwa für die Behauptung, der Staat Israel gründe auf der systematischen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, wenn nicht gar einem 'Völkermord', oder Israel betreibe gegenüber seinen arabischen Bürgern und den Palästinensern im Westjordanland eine Politik der 'Apartheid'."
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Kulturpolitik

Durchaus reizvoll findet Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter des Rats der Evangelischen Kirche, im Tagesspiegel die Idee, dem Kreuz auf der Kuppel des Humboldt-Forums die ursprünglich am Palast der Republik ausgestellte "ZWEIFEL"-Installation des norwegischen Künstlers Lars Ø Ramberg gegenüberzustellen: "Nach evangelischem Verständnis ist der Zweifel nicht das Gegenteil des Glaubens, sondern sein Bruder. Weithin sichtbare Kreuze sind in Deutschland längst keine Herrschaftszeichen mehr, vor denen man sich selbst fürchten oder eingeschüchterte Menschen schützen müsste, sondern Anstöße, ernsthaft und differenziert über die eigene Geschichte und religiös-kulturelle Identität nachzudenken. Laizistischer Waschzwang ist dabei eher hinderlich."
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Gesellschaft

Immer mehr Deutsche machen Waffenscheine oder legen sich Schreckschusspistolen zu. Aufrüstungsbefürworter verweisen gerne auf die Schweiz, wo es viele Waffen und wenig Gewaltverbrechen gibt. Doch der Vergleich ist unzulässig, meint der Kriminalpsychologe Jérôme Endrass im Interview mit tazlerin Steffi Unsleber: "Die Schweizer haben Waffen durch die Armee. Die Waffe ist dort ein Arbeitsinstrument. Man muss regelmäßig schießen gehen. Das ist eine Pflicht und kein Ausdruck einer Waffenaffinität. Und das macht etwas mit den Leuten. Das Land ist ein Beispiel dafür, dass friedliche Gesellschaften mit hoher Waffendichte möglich sind. Aber der Schluss: Wenn die Schweizer das können, können wir das auch, der funktioniert nicht. Man kann die Erfahrungen eines Landes nicht auf ein anderes übertragen, nur weil man sich sprachlich und religiös ähnlich ist."
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Geschichte

Im Flensburger Schifffahrtsmuseum eröffnet morgen die Ausstellung "Rum, Schweiß und Tränen", die sich mit der Kolonialgeschichte Flensburgs auseinandersetzt. Die jamaikanische Kulturwissenschaftlerin Imani Tafari-Ama, die die Ausstellung kuratiert hat, berichtet im Gespräch mit David Joram (taz) von der Schwerigkeit, dem Thema Kolonialismus in Deutschland Aufmerksamkeit zu verschaffen: "Wenn ich Deutsche nach ihrer kolonialen Schuld befrage, heißt es oft, das kollektive Gedächtnis sei eben mit dem Holocaust viel zu sehr beschäftigt gewesen. Der habe alles andere verdrängt. Das mag stimmen. Trotzdem bleibt der Genozid an den Herero & Nama in Namibia bestehen; trotzdem bleiben die Unterdrückungsmaßnahmen in Togo, in Ruanda, in Tansania, in Kamerun - oder eben auf den Jungferninseln - Verbrechen, für die jemand haften muss. Die Europäer müssen anerkennen, dass die Verschleppung der Afrikaner das größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte ist, größer noch als der Holocaust."
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