Efeu - Die Kulturrundschau

Das Böse funkelt zu verführerisch

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04.01.2018. Leider haben viele Perlentaucher-Leser und -Leserinnen zur Zeit wegen unseres abgelaufenen SSL-Zertifikats Probleme. Wir arbeiten dran!

Im Zeit Magazin beschuldigen mehrere Schauspielerinnen den Filmregisseur Dieter Wedel sexueller Übergriffe. Die Berliner Zeitung träumt sich mit dem Fotografen Willy Römer ins Berlin der Weimarer Republik. Die nachtkritik trauert dem Großkritiker hinterher - ein bisschen wenigstens. Noch nie war Bauen so teuer, seufzt die SZ und hofft auf die neuen 3-D-Drucker.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.01.2018 finden Sie hier

Film

Im Zeit Magazin beschuldigen drei Frauen - zwei mit Namen, eine anonym - den Filmregisseur Dieter Wedel der sexuellen Übergriffe. Jana Simon und Annabel Wahba haben ihnen zugehört. So erzählt die Schauspielerin Patricia Thielemann, was ihr bei einem Vorsprechen widerfuhr: "'Sobald die Tür hinter mir zufiel, veränderte sich Wedels Gesicht vollkommen.' Das Charmante sei verschwunden gewesen. Ohne Vorwarnung habe er sie bedrängt, ihre Bluse aufgerissen und versucht, sie rückwärts auf die Couch zu werfen, erzählt Thielemann. Sie wehrte sich und schrie ihn an, er solle sofort damit aufhören. Stell dich doch nicht so an, habe er gesagt. Sie habe geantwortet: 'So habe ich es mir nicht vorgestellt. Ich gehe lieber.' Da habe ihr Wedel den Hals zugedrückt und gebrüllt: wie doof sie eigentlich sei. Er könne ihre Karriere starten oder sie zerstören." Wedel bestreitet die Vorwürfe: "Nicht ausschließen könne er, dass er die Darstellerin vor versammelter Crew lautstark kritisiert, möglicherweise auch angeschrien habe. 'Es ist sehr naheliegend, dass eine Schauspielerin meine Verärgerung über ihre Leistung damit begründet hat, dass sie mir eben privat nicht entgegengekommen sei.'"

Mit dem Dokumentarfilm "Score" verspricht Filmemacher Matt Schrader nichts weniger als eine Geschichte der Filmmusik - bleibt dann aber doch am US-Kino im Allgemeinen und an der symphonischen Orchestermusik im Besonderen hängen. "Beklagenswert eng" findet Jens Balzer auf ZeitOnline diesen Korridor: Schrader interessiere sich für Filmmusik nur "als Steigerung von emotionaler Intensität". In der taz macht auch Philipp Rhensius nach diesem "redundanten Statement-Stakkato der Selbstbezogenheit" ein langes Gesicht: Keine Einordnung, "keine Fragen nach dem Wie oder Warum. ...  Ständig finden sie einen stets kommentarlos eingeblendeten Soundtrack 'amazing' oder verlieren sich in Banalitäten." Fast schon skandalös findet es Jan Kedves in der SZ, dass John Carpenters effekte Horror-Scores genauso unerwähnt bleiben wie die 70s-Klanghexereien der italienischen Combo Goblin (letztere aus Gründen der ausgleichenden Gerechtigkeit im folgenden als Video eingebettet). Weitere Besprechungen in NZZ, Welt und FAZ.



Außerdem: Wenig gelungen findet Christina Tilmann in der NZZ die Versuche, die mitunter problematische Geschichte der Ufa zum 100-jährigen Bestehen des Medienkonzerns aufzubereiten. Für die taz spricht Barbara Wurm mit der Regisseurin Agnieszka Holland, deren neuer Öke- und Rachethriller "Die Spur" über eine alte Frau, die sich in der polnischen Provinz mit der Politik anlegt, in Polen zu einem Symbol des Kampfes gegen die rechte Regierung geworden ist. Fabian Tietke schreibt in der taz über die im Berliner Zeughauskino gezeigte Reihe über die Jahre 1789-1848 im Spiegel des Films. In der Zeit porträtiert Moritz von Uslar den Schauspieler Franz Rogowski, der aktuell in Daniel Wilds Film "Lux - Krieger des Lichts" zu sehen ist.

Besprochen werden Helmut Käutners auf DVD wiederentdeckter BRD-Noir-Film "Schwarzer Kies" von 1956 (taz), der Kompilationsfilm "Lumière!" des Cannes-Direktors Thierry Frémaux (NZZ), Michael Graceys Muscial "The Greatest Showman" mit Hugh Jackman (SZ, FAZ, Tagesspiegel, Welt) und Paolo Virzìs Alzheimer-Film "Das Leuchten der Erinnerung" mit Helen Mirren und Donald Sutherland (taz, Berliner Zeitung).
Archiv: Film

Kunst

Mit großen Augen guckt Manuel Wischnewski für die Berliner Zeitung durch die Bilder des Fotografen Willy Römer, der die Weimarer Republik in Berlin festgehalten hat (ob es sich hier um eine Ausstellung oder ein Buch handelt, erfährt man leider nicht). Was für eine Zeit. Und was für ein Fotograf! "Er fotografierte aus dem uferlosen Menschengedränge am Brandenburger Tor heraus, als Philipp Scheidemann zu den heimkehrenden Truppen sprach, hockte mit seiner Kamera dicht an der Seite schießender Spartakisten im Zeitungsviertel und fotografierte die Frankfurter Allee hinunter, als Hunderttausende Rosa Luxemburg das letzte Geleit gaben. Endlose Demonstrationszüge, Massenstreiks und zerschossene Häuserzeilen, Revolution und Konterrevolution. Dazwischen nur Chaos. In Römers Fotos lässt sich das Auf und Ab dieser Monate und Jahre nachzeichnen. Wie brutal der Kampf war, mit dem sich das Kaiserreich vor hundert Jahren in eine zarte Demokratie häutete, ist mitunter vergessen worden."

Weitere Artikel: In der taz hält der Berliner Kunstprofessor Wolfgang Ruppert als Ergebnis einer von ihm organisierten Tagung fest, dass auch von den Nazis als "entartet" eingestufte Künstler Nationalsozialisten sein konnten.
Lorenzo Mattotti
Besprochen werden die Joel-Meyerowitz-Ausstellung im c/o Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Lorenzo Mattotti. Ligne Fragile" im Cartoonmuseum Basel (taz), eine Ausstellung des Fotografen Torbjørn Rødland im c/o Berlin (Zeit), die Ausstellung "Alice Neel. Painter of Modern Life" in den Deichtorhallen Hamburg (NDR, SZ), die Ausstellung der Fotografin Karin Richert mit Fotos zur rechten Szene in Nordrhein-Westfalen, "Im rechten Licht", im Kölnischen Stadtmuseum (Kölnische Rundschau, FAZ), vier Ausstellungen in Bayern - Museum Penzberg, Franz-Marc-Museum, Schlussmuseum Murnau, Buchheim Museum der Phantasie - zur Kunst der modernen Hinterglasmalerei (FAZ) und zwei Ausstellungen zur Art brut - in der Maison de Victor Hugo und im Musée d'Art et d'Histoire de l'Hôpital Sainte-Anne - in Paris (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Der Großkritiker ist auch im Theater verschwunden. Gut so, meint Falk Schreiber in der nachtkritik, aber dann auch wieder nicht: "Wenn ein Kritiker heute in einer Vollredaktion ein Theaterthema anbietet, das nicht Burgtheater heißt, dann ist die Reaktion der theaterfernen Ressortleitung meist Stirnrunzeln. Theater war präsenter in den Redaktionen, als Stadelmaier, Sucher, Iden noch schrieben, zumal sie eben nicht nur ins Burgtheater, das Deutsche Schauspielhaus und die Schaubühne schauten, sondern von Zeit zu Zeit auch an kleinere Häuser. Dass sie diese Häuser mit zunehmendem Alter fast durchgängig verrissen, steht auf einem anderen Blatt - Fakt ist, dass sie eine Sichtbarkeit fürs Theater schufen. Diese Sichtbarkeit ist verlorengegangen, im Großen wie auch im Kleinen."

Besprochen wird Jacob Suskes und Ann Cottens Kammeroper "Elektra" am Wiener Schauspielhaus (Standard).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Burgtheater, Elektra, Sichtbarkeit

Architektur

"Noch nie war das Bauen so teuer" - jedenfalls wenn man handwerkliche Qualität möchte, stellt Gerhard Matzig in der Süddeutschen fest. Zwischen Baumarkt und Kirchenfürst scheint es kein mittleres Segment mehr zu geben. Aber das könnte sich laut dem Architekten Peter Ebner ändern, so Matzig: 3-Druck macht's möglich. Ebner "sagt: 'Die Nostalgie des Bauhandwerks geht ihrem sicheren Ende entgegen, denn die Industrialisierung und Automatisation des Bauens ist nicht mehr aufzuhalten. Das ist auch gut so. Die dazu nötigen Technologien gibt es längst - in China, Japan oder den USA kommen sie immer öfter zum Einsatz. Nur Deutschland verschläft gerade diese einmalige Chance, das Bauen neu und besser zu erfinden.' ... Ebner zufolge wird das Bauen 2.0 den Entwurfsprozess befördern: 'Das Nachdenken über das Bauen, das man will, wird wichtiger als die Beschäftigung mit dem Bauen, das man kann. Gut so!'"

Besprochen wird die Brutalismus-Ausstellung im Architekturmuseum in Frankfurt (Berliner Zeitung).
Archiv: Architektur
Stichwörter: 3D-Drucker, Brutalismus, Nostalgie

Literatur

Im Zeit-Gespräch reden Daniel Kehlmann und Clemens J. Setz darüber, was sie beide bewogen hat, über Till Eulenspiegel zu schreiben. Kehlmann erklärt es mit seiner Faszination für das Bösartige der Figur: "Der Narr steht schon dafür, dass Kunst nicht nur im Dienste der Aufklärung steht. Das wird gerne von der wohlmeinenden liberalen Kunstauffassung ausgeblendet. Kunst ist nicht nur vernünftig, sie trägt nicht nur Licht ins Dunkel. Es gibt beim Narren immer auch einen leichten Mehrwert an Gemeinheit." Setz stimmt ihm zu: "Das Böse funkelt zu verführerisch."

Außerdem: Nicolas Freund schreibt in der SZ über Mary Shelleys "Frankenstein", der vor 200 Jahren erschienen ist. In Rumänien streiten Kritiker darüber, inwiefern Poetry Slams Literatur sind oder nicht, berichtet Markus Bauer in der NZZ.  In der Zeit porträtiert Anna-Lena Scholz die neue Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Sandra Richter.

Besprochen werden unter anderem eine den Comics von Lorenzo Mattotti gewidmete Ausstellung im Cartoonmuseum in Basel (taz), April Ayers Lawsons Geschichtenband "Jungfrau und andere Stories" (Tagesspiegel), eine Ausstellung über die von den Gebrüdern Grimm gesammelten Sagen im Wandel der Zeit in der Grimmwelt in Kassel (FAZ) und eine neue Edition von Giacomo Leopardis "Opuscula Moralia" (FAZ).
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Musik

Country-Musik, liberale Waffenhandhabe und markige NRA-Sprüche gehören seit je zusammen - doch seit dem Massaker in Las Vegas sind einige Risse in diesem Nahverhältnis zu beobachten, berichtet Beate Wild in der SZ. Zwar tun sich Countrymusiker nicht zuletzt seit dem Fall der Dixie Chicks, die sich in den frühen 00ern gegen Bush positionierten, schwer mit kritischen Äußerungen, "doch ein paar Country-Stars gibt es, die sich trotzdem trauen. Nach dem Massaker in Las Vegas veröffentlichte Caleb Keeter, Gitarrist der Josh-Abbott-Band, die auf dem Festival gespielt hatte, eine Stellungnahme: 'Ich war mein Leben lang ein Befürworter des Rechts auf Waffen. Bis zu den Geschehnissen von letzter Nacht. Ich kann nicht ausdrücken, wie falsch ich lag. ... Genug ist genug. Wir brauchen Waffenkontrollen. Sofort."

Außerdem beherrscht Spotify die Nachrichtenlage: Die dpa meldet, dass der auf Autorenrechte spezialisierte US-Musikverlag Wixen den Streamingdienst auf 1,6 Milliarden Dollar verklagt. Hintergrund ist der, dass Spotify es versäumt habe, neben der Rechteabklärung mit den Labels auch eine Einigung mit den Autoren und Künstlern zu finden. Inwiefern der Dienst für das größte Wachstum der Musikindustrie-Umsätze seit 1998 mitverantwortlich ist, erklärt Sarah Butler im Guardian. Außerdem melden zahlreiche Medien, darunter die New York Times, dass Spotify noch im ersten Quartal 2018 an die Börse will.
Archiv: Musik