Heute in den Feuilletons

Im Weichzeichner der Erinnerung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2013. In der taz ruft der syrische Autor Yassin al-Haj den Westen auf, endlich in Syrien einzuschreiten: "Es gibt keine gleichgewichtigen Bösen in Syrien." Die NZZ findet es ganz okay, dass die große Le Corbusier-Ausstellung im Moma seine Zeit als Berater des Vichy-Regimes nicht thematisiert. In der Welt kritisiert Gidon Kremer die Putinisten unter seinen Klassikkollegen. Die FAZ findet Götz Georges Filmporträt seines Vaters beschönigend. Und nach der Zeit wird jetzt auch die Zeit Online hinter eine Paywall gesteckt, meldet Horizont.

TAZ, 19.07.2013

Helft Syrien jetzt, morgen ist es vielleicht zu spät, schreibt der oppositionelle syrische Journalist und Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh in einem Aufruf an die internationale Gemeinschaft. "Die Politik ist nicht nur kurzsichtig und verlängert den Konflikt, sie ist zutiefst unmenschlich. Es gibt keine gleichgewichtigen Bösen in Syrien - so wie es die Mehrheit der westlichen Medien behauptet, im Kontrast zu den Berichten der UN und anderer internationaler Organisationen. Es gibt nur ein faschistisches Regime, das bereits mehr als 100.000 Syrer getötet hat, auf der einen Seite, und auf der anderen diverse revolutionäre Gruppen, von denen manche sich im Laufe des anhaltenden Konflikts radikalisiert haben."

"Gangsta-Rap für Dummies" sei Bushidos auf den Index gesetzter Song "Stress ohne Grund", meint Fatma Aydemir, und allenfalls "ein gelangweilter, schlecht gereimter und auf Originalität komplett verzichtender Schrei nach Aufmerksamkeit". Bernd Pickert informiert über die in den USA durch den Freispruch von George Zimmerman angestoßene Rassismusdebatte. Stephanie Grimm berichtet über das Traena-Festival, das auf einer kleinen Inselgruppe am norwegischen Polarkreis stattfindet und damit das wohl abgelegenste Musikfestival der Welt sei; etwa ein Drittel der gut 2.000 Gäste stamme aus dem Ausland, "gefühlte 80 Prozent davon aus der Schweiz - vielleicht weil die Eidgenossen das nötige Kleingeld und angemessene Outdoor-Ausrüstung mitbringen". Julian Weber stellt die "funkensprühenden" Elektronik-Alben von Stellar OM Source und Dean Blunt vor. Thomas Purschke erinnert sich an das legendäre Konzert von Bruce Springsteen vor 25 Jahren in Ost-Berlin. Christian Werthschulte kommentiert die Aufregung über das aktuelle Cover des Rolling Stone, das den mutmaßlichen Boston-Attentäter Jahar Tsarnaev zeigt.

Besprochen wird das neue Album "Electric" der Pet Shop Boys.

Und Tom.

Welt, 19.07.2013

Gidon Kremer bereitet in Berlin ein Konzert zur Unterstützung der russischen Opposition vor (bei dem auch Martha Argerich und Daniel Barenboim mitmachen). Im Gespräch mit Lucas Wiegelmann kritisiert er Musiker wie Anna Netrebko und Valery Gergiev, die sich für den Putinismus stark machen: "Was solche Leute tun, könnte ich nicht tun und würde es auch nicht tun. Sie nennen ihre Haltung Patriotismus. Für mich hat das mehr mit Opportunismus zu tun und verfolgt das Ziel, eigene Interessen zu wahren." Zum Urteil gegen Alexej Nawalny äußert sich Kremer noch nicht. Auf der Forumsseite sieht Julia Smirnowa Russland auf dem Weg zur Diktatur.

Weitere Artikel: Hannes Stein berichtet über die Empörung in den USA über ein arg ikonenhaft anmutendes Cover des Rolling Stone mit dem mutmaßlichen Terroristen Dzhokhar Tsarnaev.

Besprochen werden eine "Zauberflöte" in Bregenz und J.K. Rowlings Krimi "The Cuckoo's Calling".

Im Forum setzt der ehemalige amerikanische Botschafter John Kornblum die Reihe der Welt-Artikel zur Verteidigung des Prism-Spionageprogramms fort.

NZZ, 19.07.2013

Andrea Köhler berichtet von einer großen Le Corbusier-Ausstellungen im MoMA: "Die über 5 Säle gehende Schau mit 320 Objekten ist die erste große Übersicht, die das MoMA dem ambitionierten Avantgardisten aus dem Schweizer Jura gewidmet hat; ein Versuch im Jahr 1950 scheiterte daran, dass Le Corbusier die damals geplante Ausstellung (wie die gesamte Architektur von New York) zu mickrig fand." Dass die Kuratoren die Jahre zwischen 1940 und 1945, in denen Le Corbusier städtebaulicher Berater der Vichy-Regierung war, einfach ausklammern, akzeptiert Köhler mit dem Hinweis, es handle sich eben um "eine Ausstellung für Eingeweihte".

Weitere Artikel: Aldo Keel erläutert Uwe Stolzmann, der am vergangenen Samstag Hallgrímur Helgasons Roman "Eine Frau bei 1000°" rezensiert hatte, die Hintergründe: es handelt sich um einen Schlüsselroman, hinter dessen Protagonisten sich der isländische SS-Mann Björn Sveinsson Björnsson verbirgt. Alfred Zimmerlin fasst die Höhepunkte des diesjährigen Festivals d'Aix-en-Provence zusammen. Knut Henkel stellt den Neo-Calypso-Musiker Drew Gonsalves und seine Band Kobo Town vor. Lorenz König wird beim Auftritt von Kraftwerk auf dem Montreux Jazz Festival ganz poetisch: "Die Sounds verflüchtigten sich in der Weite der Nacht wie Vögel, die endlich freigelassen werden."

Besprochen werden das TV-Biopic "George" ("eine unruhige Nahaufnahme, der man durchgehend das Bemühen um Wahrhaftigkeit anmerkt", meint Claudia Schwartz ) und Bücher, darunter Christoph Wagners Studie "Der Klang der Revolte" über den westdeutschen Musik-Underground um 1970 (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 19.07.2013

(Via turi2) Nicht nur die Zeit, die ohnehin hinter Zahlschranken verschanzt ist, sondern auch die Zeit Online soll eine Paywall bekommen, berichtet Jakob Steinschaden auf horizont.at - Zeit-Geschäftsführer Rainer Esser hat dies im Gespräch mit der Branchenzeitschrft annonciert: "Welche Inhalte bei Zeit Online hinter die Paywall geräumt werden sollen, ist derzeit noch nicht klar. Möglich ist, dass etwa exklusive Interviews wie jenes mit Angela Merkel oder Uli Hoeneß, die bis dato lediglich online angekündigt werden und in vollem Umfang nur in der Print-Ausgabe Die Zeit zu kaufen sind, dann im Web gegen Gebühr verfügbar sind."

(Via Thomas Knüwer) Im Guardian erklärt Jeff Jarvis, warum er die viel gefeierte TV-Serie "Newsroom" zutiefst hasst. Er hat klare Gründe: "I hate it because it attempts to glue a patina of supposed respectability, thoughtfulness, intelligence, professionalism, care, and concern onto television news when the truth is that television news is just crap."

FAZ, 19.07.2013

Der griechische Schrirftsteller Periklis Korovesis berichtet im Gespräch mit Hansgeorg Hermann über die Probleme und Vorteile im Betrieb der neuen Zeitung Efimerida ton Syntakton, die vor allem auf Basis der Gehaltrückstellung wirtschaftet: Man bezahlt "zuerst diejenigen, die es nachweislich am nötigsten brauchen. Danach die anderen, die vielleicht eine zweite oder dritte kleine Einkommensquelle haben. Was unser Projekt auszeichnet, ist dies: Wir haben keine Schulden. Alle anderen Zeitungen sind überschuldet, sie gehören den Banken. Das heißt für den Leser: Wir können die Wahrheit schreiben, die anderen können es nicht."

Ziemlich problematisch, ja beschönigend findet Andreas Kilb das heute in der ARD laufende Dokudrama über Heinrich George, in dem Sohn Götz seinen Vater spielt: "Dabei fällt vieles von dem, was Georges Theater- und Filmfiguren und offenbar auch seine private Existenz geprägt hat, dem Weichzeichner der Erinnerung anheim - Verführbarkeit, Hemmungslosigkeit, Eitelkeit, Naivität, all das, was auch viele andere Künstler für die Schmeicheleien der Nazis empfänglich machte. Götz Georges Heinrich ist dagegen ein Grandseigneur, der immer nur spielen, immer nur für die Kunst leben wollte und dafür das Lied der Schlächter mitgesungen hat."

Weitere Artikel: Swantje Karich gerät beim Besuch des Hitlergruß-Prozesses gegen Provo-Künstler Jonathan Meese ziemlich ins Gähnen: "Sein Werk verkommt auf diesem Weg zum One-Liner: Meese ist der Künstler, der Hitlergrüße macht. Das wird nicht reichen." Für Mark Siemons stellt es eine Zäsur in China dar, dass der Jurist Xu Zhiyong für seine Forderung nach Verfassungstreue der Regierung verhaftet wurde. Thomas David bereist mit dem Schriftsteller Norbert Gstrein das Tiroler Bergdorf, in dem dieser seine Kindheit verbrachte. Der Literaturwissenschaftler Sven Kramer liest in Marbach den noch nicht veröffentlichten Briefwechsel zwischen Bettina Gross und dem von den Nazis verfolgten Schriftsteller H.G. Adler. Patrick Bahners schwärmt vom "Manhattanhenge"-Phänomen, wenn der Sonnenuntergang in Manhattan für ein atemberaubendes Schauspiel sorgt. Gerwin Zohlen sorgt sich um den denkmalgerechten Fortbestand des Berliner Hotels Bogotá am Ku'damm.

Besprochen werden neue CDs, Bence Fliegaufs neuer Film "Just the Wind", die Ausstellung "Social Fabric" in der ifa-Galerie in Berlin und Bücher, darunter Hans Pleschinskis Roman "Königsallee" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 19.07.2013

Ben Scott von der Stiftung Neue Verantwortung fürchtet, dass das transnationale Gemeingut Internet durch das Prism-Spähprogramm Schaden genommen haben könnte und sich die Staaten netztechnisch auf nationale Inseln zurückziehen. Er wünscht sich stattdessen vertrauensbildende Maßnahmen: "Wir müssen uns in einer historisch einzigartigen Anstrengung damit befassen, neue internationale Standards zu verhandeln, mit denen wir die Gesetze zwischen und in den Nationen gestalten. Diese Standards müssen definieren, welche Arten der Überwachung notwendig und angemessen sind." Auf der Medienseite erläutert EU-Kommissarin Viviane Reding im Gespräch mit Claudia Fromme, wie sie den Datenschutz in der EU nach dem Prism-Skandal neu regeln will.

Weitere Artikel: Catrin Lorch unterhält sich mit Fulya Erdemci, der Kuratorin der kommenden Istanbul Biennale, deren Ausgangsfrage - "das öffentliche Terrain als politisches Forum" - von den Ereignissen der letzten Wochen geradezu überrollt wurde: "Jetzt ist es nicht einfach", sagt Erdemci, "auf die entstandene Situation mit einer Ausstellung im Format einer Biennale zu antworten." In Salvador besucht Michaela Metz die Bloggerin und Autorin Laura Castro.

Besprochen werden Adam Sandlers neue Komödie "Kindsköpfe 2", Patrice Chéreaus "Elektra" in Aix (Reinhard J. Brembeck erlebt den "aufrüttelndsten und packendsten Opernabend" der Saison), Jerôme Bels "Cour d'honneur" in Avignon und Sandy Nairnes Buch "Die leere Wand" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).