Vorgeblättert

Leseprobe zu Nicolas Dickner: Nikolski. Teil 3

02.02.2009.
Ich kann diese dreißig Hefte nicht durchblättern ohne zu zittern. Kein anderes Werk zeigt so deutlich, wie die Zeit vergeht: Manche Kunden, die hier namentlich auftauchen, sind seit vielen Jahren tot, einige haben jegliches Interesse an diesen Büchern verloren, andere sind nach Asien gezogen, ohne ihre neue Adresse zu hinterlassen - und viele werden das Buch, das sie einst begehrten, niemals finden.

Ich frage mich manchmal, ob irgendwo eine Enzyklopädie Lavoisier für all unsere Wünsche existiert, ein vollständiges Verzeichnis unserer kleinsten Träume, der noch so unscheinbaren Begierden, in der nichts verloren geht, nichts hinzukommt, in der sich aber die unaufhörliche Veränderung aller Dinge in ständigem Kommen und Gehen vollzieht - wie ein Paternoster, der die verschiedenen Stockwerke unseres Daseins verbindet.

Unsere Buchhandlung ist alles in allem eine gänzlich von Büchern erschaffene und regierte Welt - und es erscheint mir vollkommen natürlich, mich ganz und gar darin aufzulösen, mein Schicksal den Tausenden auf Hunderten von Regalbrettern ordentlich übereinander gestapelten Schicksalen zu widmen.

Manchmal wirft man mir vor, es mangele mir an Ehrgeiz. Vielleicht leide ich auch einfach nur an einer leichten magnetischen Anomalie?

~

Damit sind wir fast am Ende des Prologs angekommen.

Ich brauchte zwei Wochen, um die dreißig Müllsäcke zu füllen, die die Müllmänner an diesem Morgen in ihren Wagen werfen. Eintausendachthundert Liter Ultra-Plastik, dreißig Jahre Leben. Ich habe nur das absolute Minimum aufgehoben: einige Kisten mit Erinnerungsstücken, ein paar Möbel, meine eigenen Sachen. Der Bungalow steht zum Verkauf, zwei Käufer scheinen interessiert. Die Sache sollte innerhalb der nächsten Woche über die Bühne gehen.

Ich werde dann schon woanders sein, in meiner neuen Wohnung in Petite Italie, direkt

gegenüber der Statue des alten Dante Alighieri.

Die Müllmänner haben ihre Arbeit erledigt und wischen sich den Schweiß von der Stirn, ohne etwas von der Geschichte zu ahnen, in der sie soeben auch einen Part übernommen haben. Ich schaue zu, wie der Müllwagen die Säcke mühelos zerkaut und das, was von meiner Mutter übrig ist, hinunterschluckt.

Das Ende einer Ära - ich betrete Neuland, ohne jeden Haltepunkt. Nervös blicke ich mich um. Der Nikolski-Kompass liegt auf dem Boden in der Nähe des Schlafsacks und zeigt immer noch 34° westlich am Norden vorbei. Ich lege mir seine kirschrote Schur um den Hals.

Das Müllauto entfernt sich. In seinem Kielwasser kommt der Umzugswagen.

Granpa

Noah schreckt aus dem Schlaf.

Alles ist ruhig im Wohnwagen, er hört nichts als das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos auf der Straße. Eine Etage unter ihm liegt Sarah in ihren Schlafsack gerollt und atmet ruhig. Er dreht sich auf die Seite, in der Hoffnung wieder einzuschlafen, kann aber keine bequeme Position mehr finden. Im Alter von fünf Jahren war ihm diese enge Schlafkoje noch riesengroß erschienen. Jetzt vergeht keine Nacht, ohne dass er sich eine Beule am Kopf oder eine Schürfwunde am Ellenbogen zuzieht.

Ein paar Minuten plagt er sich noch in der Hoffnung auf eine komfortable Liegeposition und wird durch diesen stillen Kampf schließlich vollends wach. Er seufzt und beschließt aufzustehen. Lautlos steigt er die Leiter hinab und schlüpft in T-Shirt und Jeans. Am Küchentisch sitzen zwei Chipewyan-Indianer. Sie haben lange weiße Zöpfe und zerfurchte Hände. Noah weiß nicht, wie sie heißen. Der eine ist sein Ur-Ur-Großvater. Was den anderen angeht, hat er keine Ahnung. Es ist fast nichts über die beiden bekannt, außer dass sie im Norden Manitobas lebten und gegen Ende des 19. Jahrhunderts dort auch starben.

Noah grüßt sie stillschweigend und geht hinaus. Der Wohnwagen steht inmitten von vierzig Millionen Hektar Roggen, über denen ein leichter Nebel liegt, aus dem hin und wieder einige Strommasten aufragen. Die Sonne steht noch unter dem Horizont und die Luft riecht nach nassem Heu. In Böen trägt der Wind das weit entfernte Brummen eines Traktors heran.

Noah geht barfuß vor bis an den Rand des Feldes. Auf dem Grund des Bewässerungsgrabens rinnt etwas Wasser. Der beißende Gestank des Diazinon vermischt sich mit dem Duft der feuchten Erde - bekannte Gerüche.

Er ist gerade dabei, sich die Hose aufzuknöpfen, als er auf der Straße einen Kleintransporter herannahen hört. Die Hände in die Seiten gestemmt unterbricht er sein Vorhaben. Ein alter roter Ford taucht auf, der voller Karacho vorbeirast und nach Westen verschwindet. Sobald er weit genug entfernt ist, schickt Noah einen langen, glitzernden Strahl Urin in den Bewässerungsgraben.

Auf dem Weg zurück in den Wohnwagen denkt er über dieses seltsame Gefühl von Scham nach. Er wird den unangenehmen Eindruck nicht los, dieses Fahrzeug sei in einen Bereich seiner Privatsphäre eingedrungen, als führe die Route 627 quer durch ihr Badezimmer.

Wenn man es sich genau überlegt, ist dieses Bild gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt.

~

Auf die Frage, wo er aufgewachsen sei, hat Noah über Jahre hinweg immer nur vage Antworten genuschelt - in Saskatchewan, in Manitoba, oder auch in Alberta - und schnell vom Thema abgelenkt, bevor man ihn weiter über dieses rätselhafte Tabu ausfragte.

Nur ganz wenigen Menschen würde Noah die wahre (und wenig glaubwürdige) Geschichte der Sarah Riel, seiner Mutter, erzählen.

Alles begann im Sommer 1968, als sie ihr heimatliches Reservat nahe von Portage La Prairie verließ. Sie war 16 und hatte die Absicht, einen gewissen Bill zu ehelichen. Seine Haut verschwand die meiste Zeit über unter einer dicken Schicht Rohöl, diese Tarnung aber täuschte niemanden: Der Kerl war weiß, leicht rosa sogar in den Gelenken - und Sarah verlor, indem sie ihn heiratete, ein für alle Mal ihren Status als Indianerin, mitsamt dem Recht, in einem Reservat zu wohnen.

Diese verwaltungstechnische Spitzfindigkeit erlangte zehn Monate nach der Hochzeit höchste Bedeutung, als sich Sarah vom ehelichen Wohnsitz davonmachte - mit einem blauen Auge, einem auf die Schnelle gepackten Müllsack voller Kleidung und dem festen Entschluss, nie wieder dorthin zurückzukehren. Sie borgte sich Bills Auto mit Wohnanhänger und begann, die Gegend von den Rockies bis nach Ontario zu durchkämmen, je nachdem, wohin die Saisonarbeiten sie verschlugen.

Als das Ministerium für indianische Angelegenheiten achtzehn Jahre später den Indian Act mit Zusatzartikeln versah, hätte Sarah ihren Status als Indianerin wieder einfordern können. Die dafür notwendigen Schritte würde sie jedoch niemals eingeleitet haben: Sie würde sich in der Zwischenzeit so gut an das Leben unterwegs gewöhnt haben, dass sie es gar nicht mehr in Erwägung zog, sich jemals wieder in einem Reservat einzuschließen. Sie ließe sich, bekräftigte sie immer wieder gerne, auf gar keinen Fall von einer Handvoll Beamter sagen, ob sie Indianerin sei oder nicht. Ihr Stammbaum weise zwar ein paar französischsprachige Einschläge auf, aber schon drei Generationen zurück ließen sich nur noch alte indianische Nomaden finden, die sesshaft gemacht und anschließend in unzähligen, exotisch benannten Reservaten geparkt wurden: Sakimay, Peepeekisis, Okanese, Poor Man, Star Blanket, Little Black Bear, Standing Buffalo, Muscowpetung, Day Star, Assiniboine.

Ein halbes Dutzend dieser Ahnen spukte noch immer in ihrem Wohnwagen, saß für die Ewigkeit am Küchentisch aus sternenbesätem Holzimitat. Reglose und schweigsame Geister, die die vorbeiziehende Landschaft betrachteten und die sich fragten, wo zum Teufel all die Büffel abgeblieben waren.

Noahs Vater stammte seinerseits von der weit entfernten Atlantikküste. Er kam aus einer akadischen Familie aus der Gegend von Beaubassin, sesshaft und dickköpfig, die durch die Briten in die abgelegensten Winkel ihrer amerikanischen Kolonien verschleppt wurden: Massachusetts, Carolina, Georgia, Maryland, New York, Pennsylvania, Virginia.

Noah mochte den Kontrast zwischen den beiden Seiten seines Stammbaums, das Paradox, ein Nachkomme sowohl der Reservate als auch der Deportation zu sein. Seine Begeisterung beruhte jedoch auf einem historischen Fehler, da seine Vorfahren in Wirklichkeit gar nicht deportiert worden waren. Genau wie eine gewisse Anzahl von Akadiern waren sie kurz vor dem Grand Derangement, der Deportation, geflohen, um Schutz in Tête-a-la-Baleine zu suchen, einem isolierten Dorf am Sankt-Lorenz-Golf, das über keine Straße zu erreichen war.

Und an diesem abgelegenen Ort wurde zwei Jahrhunderte später Noahs Vater geboren: Jonas Doucet.

Er war der siebte Sprössling einer umfangreichen Familie: acht Brüder, sieben Schwestern, fünf Cousins, zwei Onkel, eine Tante, ein Paar Großeltern - insgesamt drei Generationen von Doucets, die sich in eine kleine Hütte drängen mussten. Er wurde auf den Namen Jonas getauft, ein Glücksfall, denn aus dem biblischen Repertoire hätten ihm auch weniger klangvolle Namen wie Ilia, Ahab oder Ismael beschert werden können.

In dieser verlorenen Ecke des Kontinents wurde man schnell erwachsen und mit vierzehn Jahren streunte Jonas durch den Montrealer Hafen - ungefähr achthundert Seemeilen flussaufwärts von seinem Heimatdorf. Er ging an Bord eines Frachtschiffs mit Weizen, das nach Kuba unterwegs war, eine Hin- und Rückfahrt, die nicht länger als drei Wochen hätte dauern sollen. Jonas wechselte im Hafen von Havanna jedoch den Kahn und sprang an Bord eines Frachtschiffs, das sich auf dem Weg nach Trinidad befand. Ein drittes Frachtschiff brachte ihn nach Zypern. Von Zypern aus durchfuhr er den Suezkanal in Richtung Borneo und von Borneo machte er sich auf nach Australien.

Etappe für Etappe hat Jonas so ungefähr zwölf Mal den Erdball umrundet. Je mehr Häfen er vorbeiziehen sah, umso höher stieg er im Dienstgrad, kam aus der Küche in den Motorraum, vom Motorraum zu den Funkern. Nach einigen Jahren als Assistent bekam er eine eigene Lizenz und wurde seines Zeichens Funker.

Jonas liebte diesen sonderbaren Beruf, auf halber Strecke zwischen Elektronik und Schamanismus, bei dem der Funker sich in einer rhythmisierten, für den Laien unverständlichen Sprache mit den hohen Luftschichten unterhielt. Den Schamanen zu spielen brachte jedoch auch einige Gefahren mit sich: Die alten Funk-Hasen - diejenigen, die zu lange schon auf diesem Posten waren - litten oftmals an einem irreversiblen Stimmbandschwund. Man sah sie in Hafenspelunken hocken wie eingeschnappte Barden, die nicht mehr anders als durch Morsezeichen auf ihre Bierkrüge kommunizieren konnten.

Verschreckt von dieser Aussicht beschloss Jonas, sich wieder auf dem Festland niederzulassen.

Mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Verlagsanstalt

Informationen zum Buch und Autor hier.