Vorgeblättert

Leseprobe zu Lorrie Moore: Ein Tor zur Welt. Teil 3

03.03.2011.
Sie führte mich ins Wohnzimmer und blieb zuerst vor dem großen Fenster stehen, das nach hinten raus ging. Ich folgte ihr und versuchte, alles zu machen wie sie. Im Garten lag eine mächtige Eiche, die der Blitz gespalten hatte, zum größten Teil weggehackt und weggepackt, als Feuerholz für den Winter neben der Garage gestapelt. Neben dem alten Baumstumpf war ein neuer Baum - schmächtig, jung, mit der Anmut eines Sektquirls - gepflanzt worden, gestützt und angebunden. Aber Sarah musterte gar nicht die Bäume. "O Herr im Himmel, guck sich einer diese armen Hunde an", sagte sie. Wir standen da und sahen zu. Die Hunde von nebenan wurden durch einen unsichtbaren elektrischen Zaun auf dem Grundstück gehalten. Der eine, ein Schäferhund, hatte das Prinzip begriffen, aber der andere, ein kleiner Terrier, nicht. Der Schäferhund jagte ihn spielerisch durch den Garten, führte den Terrier bis an die elektrifizierte Grenze und stoppte dann jäh, während der Terrier weitersauste, direkt in den Stromschlag hinein, was ihn vor Schmerz quieken ließ, während er zurückwich. Das machte dem Schäferhund Spaß, er wiederholte das Ganze, und der elektrisierte Terrier, der so gerne spielen wollte, vergaß alles und machte wieder mit und raste von neuem in den Strom hinein, laut jaulend. "Das läuft schon seit Wochen so", sagte Sarah.
"Eigentlich wie eine Beziehungskiste", sagte ich, und Sarah fuhr herum, um mich erneut in Augenschein zu nehmen. Jetzt sah ich, dass sie mindestens fünf Zentimeter größer war als ich; ich konnte von unten in ihre Nasenlöcher sehen, das Gespinst aus feinen Härchen, wie das Zickzack der Äste, wenn man von der Baumwurzel aus emporschaute. Sie lächelte, was ihre Wangen blähte und das Rouge irgendwie schattig und unpassend aussehen ließ. Mir rauschte die Hitze ins Gesicht. Beziehungskiste? Was wusste ich denn davon? Das war die Domäne meiner Mitbewohnerin Murph gewesen, und nun hatte sie mich im Grunde sitzenlassen, damit sie jede Nacht bei ihrem neuen Kerl schlafen konnte. Sie hatte mir ihren Vibrator vermacht, ein seltsames quirlendes summendes Ding, das, wenn man es auf HOCH einstellte, in der Luft kreiste wie ein gelangweilter dicker Finger, der du-du-du machte. Wessen Penis sollte das [13] überhaupt nachbilden? Den eines Zirkusartisten vielleicht! Burt Lancaster zum Beispiel, in Trapez. Bei mir stand das Ding auf dem Küchentresen, wo Murph es für mich zurückgelassen hatte, und ich benutzte es ab und zu, um es durch meinen Kakao zu ziehen. Einmal war ich tatsächlich zu einem Date gegangen - letztes Jahr - und hatte mich darauf vorbereitet, indem ich in einem Laden für Reizwäsche in eine Art Trance gefallen war und für fünfundvierzig Dollar einen schwarzen BH aus Taiwan gekauft hatte, der mit Öl- und Wasserbeuteln ausgepolstert und mit Drahtgelenken ausgestattet war und sich lebensecht anfühlte, ein kompletter Busen ganz für sich allein, unabhängig von jeglicher Trägerin, und wenn ich ihn an meiner eigenen Brust befestigte, sah er aus wie ein dunkles Tierchen, zum Säugen dort festgeschnallt. Mich erfüllte ein angenehm schwebendes Gefühl, während ich ihn trug; ich fühlte mich gewärmt und opferbereit und stellte mir daher vor, er würde meine Chancen in der Welt verbessern, da mein echter Busen wohl (wie ich einmal witzelte) auf einem Sockel im Keller der Bibliothek von Dellacrosse liegen gelassen worden war, um mein Rückgrat für den aufrechten Gang zu entlasten.
All diese Vorbereitung war nicht mehr als das Herausputzen einer Eintagsfliege: mein armer Kavalier räusperte sich und erklärte mir, er sei schwul. Wir lagen zusammen auf meinem Bett, nur teilweise entkleidet, und unsere schwarze Unterwäsche legte falsches Zeugnis ab über unsere Erfahrung. Sein Rücken war voll rosiger Pickel, die er "Rückel" nannte. Ich rieb mit den Fingerspitzen darüber, es war wie eine Art Braille, das eine Botschaft von kreatürlicher Energie und Sorge übermittelte. "Schwul wie Schifferscheiße", verkündete er in den Raum hinein, und wie sich zeigte, war Offenheit - oder auch nur behauptete Offenheit - der billigste und wirksamste Angriff auf die Hoffnung (eine hasenfüßige Hoffnung, die, wie ich zugeben musste, sich selbst auf die Sprünge geholfen hatte, um erneut meinen Vater zu zitieren, und zu einer Erwartung geworden war). "Schifferscheiße?", fragte ich und starrte an die Decke. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Ich dachte stumm, kurz und ekligerweise an Claudia Schiffer in einer besonders privaten Situation. Wir waren noch eine Stunde nach seiner Beichte liegengeblieben, beide zitternd und am Rand der Tränen, dann standen wir auf und beschlossen spontan , einen Kuchen zu backen. Wir hatten Sex vorgehabt und landeten beim Kuchenbacken? "Ich mag dich wirklich sehr, wirklich", sagte ich, als der Kuchen fertig war, und als er nichts darauf antwortete, breitete sich ein hartes, halsstarriges Schweigen im Raum aus und hallte [14] wider wie ein Geräusch. Ich sagte unbeholfen: "Gibt es hier ein Echo?"
Er warf mir einen mitleidigen Blick zu und antwortete: "Tja, ich wünschte, es gäbe eines, aber dem ist nicht so." Dann ging er ins Bad und kam mit all meinem Make-up im Gesicht wieder raus, was mich aus irgendeinem Grund auf die Idee brachte, er habe mich angelogen und sei gar nicht schwul. "Weißt du was", sagte ich, um ihn auf die Probe zu stellen, eigentlich aber, um ihn umzustimmen. "Wenn du dich drauf konzentrieren würdest, könntest du hetero sein. Ich bin sicher. Entspann dich einfach, mach zwischendurch die Augen zu und tu's einfach. Heterosexualität - na ja, die verlangt viel Konzentration!", sagte ich fast flehend. "Sie verlangt uns allen viel ab."
"Vielleicht verlangt sie mir mehr ab, als ich habe", sagte er. Ich kochte ihm Kaffee - erst wollte er Milch, dann Reinigungsmilch und schließlich Kleenex -, und danach ging er und nahm ein Stück warmen Kuchen mit. Ich habe ihn nie wiedergesehen, bis auf ein einziges Mal, als ich ihn auf dem Weg zur Uni kurz auf der anderen Straßenseite erblickte. Er hatte sich den Schädel rasiert, trug derbe violette Stiefel und keine Regenjacke, obwohl es regnete. Sein Gang war eine federnde Zickzack-Bewegung, so als müsste er Heckenschützen ausweichen. Ihn begleitete eine Frau, die an die einsneunzig groß sein musste und deren Adamsapfel einer kleinen verschluckten Faust ähnelte. Ein langer Schal - zu wem gehörte er? Ich konnte es nicht sagen; manchmal schien es, als gehörte er ihnen beiden - flatterte überschwänglich hinter ihnen her wie der Schwanz eines Drachens.
Jetzt wandte sich Sarah wieder dem Fenster zu. "Die Nachbarn haben den unsichtbaren Zaun erst kürzlich installiert", sagte sie. "Im November. Bestimmt kriegt man davon MS oder sowas."
"Wer sind sie?", fragte ich. "Die Nachbarn, meine ich." Ich wollte ein wenig anthropologisches Interesse an der Nachbarschaft demonstrieren. Keine der Frauen, bei denen ich vorstellig geworden war, hatte mich bislang zurückgerufen. Vielleicht wollten sie alle lieber den lebhaften Typus, der alles in die Hand nahm, und ich hatte dumpf gewirkt, schwerfällig, kaum engagiert. Allmählich machte ich mir Sorgen, dass meine sanfte Schlaffheit, wenn ich nicht aufpasste, zu einer Gewohnheit wurde, einem Tick, etwas Eingefleischtem, das, ganz gleich, wie ich dagegen ankämpfte, mein Leben lang in meinem Verhalten zum Ausdruck kommen würde - so wie ein Trinker, auch wenn er trocken ist, immer noch taumelt und lallt wie ein Trinker.
[15] "Die Nachbarn?" Sarah Brink gab sich betont munter und riss die Augen auf. Ihre Stimme senkte sich zu einem Bühnenwispern. "Also, in dieser Hundehütte dort haben wir Catherine Welbourne und ihren Gatten Stuart und Stuarts Geliebten Michael Batt. Die Welbournes und die Batts. Wer könnte solche Namen erfinden?"
"Ah - Michael ist also schwul?", sagte ich und zeigte vielleicht zuviel Interesse.
"Na ja, klar", sagte Sarah. "Darum wird viel Gewese gemacht, dass Michael schwul ist. 'Michael ist schwul', flüstern die Nachbarn. 'Michael ist schwul. Michael ist schwul.' Na ja, klar ist Michael schwul. Aber die Sache ist natürlich, dass Stuart schwul ist." Sarahs Augen schauten fröhlich und hell - -mit dem aufgekratzten, billigen Funkeln von Weihnachtstinnef.
Ich räusperte mich. "Und was hält Catherine von all dem?", wagte ich mich vor. Ich versuchte zu lächeln.
"Catherine." Sarah seufzte und trat vom Fenster weg. "Catherine, Catherine. Nun, Catherine verbringt viel Zeit in ihrem Zimmer und hört Erik Satie. Die Sandfrau, die Ärmste, ist immer die Letzte, die's erfährt. Aber schauen Sie." Sie wollte jetzt das Thema wechseln und zur Sache kommen. "Setzen Sie sich. Es geht um Folgendes." Ihr Arm zuckte heftig, als sie mir den Platz zuwies. "Kinderbetreuung", setzte sie an, doch dann brach sie ab, als genügte das schon.
Ich setzte mich auf ein kleines Sofa, das mit einer Art Drillich bezogen war. Kinderbetreuung war zu einem einer Dienstleistung geworden, wie Altenbetreuung oder Krankenpflege. Diesen Dienst würde ich leisten. Ich öffnete meinen Rucksack und stöberte darin herum, auf der Suche nach einem Exemplar meines Lebenslaufs. Sarah saß mir gegenüber, auf einem weiteren Drillichsofa, und sie leuchtete so grell, als würde sie unweigerlich Flecken auf den Kissen hinterlassen. Sie verschränkte und verdrehte die Beine so umeinander, dass der untere Teil des einen aussah, als komme er aus der oberen Hälfte des anderen, als könnte sie die Knie rückwärts beugen wie ein Kranich. Sie setzte zu einem Räuspern an, deshalb hörte ich auf mit dem Herumwühlen und stellte den Rucksack zur Seite.
"Die Winterluft setzt mir jetzt schon zu", sagte sie. Sie wandte sich ab und hustete erneut laut, staubtrocken - ein Husten, das die [16] die Ärzte "unproduktiv" nennen. Dann klopfte sie auf ihren flachen Bauch. "Es geht um Folgendes", sagte sie. "Wir adoptieren."
"Adoptieren?"
"Ein Baby. In zwei Wochen adoptieren wir ein Baby. Deshalb suchen wir nach einem Babysitter. Wir würden gern schon im Voraus jemanden engagieren, mit regelmäßigen Arbeitszeiten."
Ich hatte keine Ahnung von Adoption. Ich hatte während meiner Kindheit nur ein adoptiertes Mädchen kennengelernt, Becky Sussluch, sie war verwöhnt und wunderschön, mit sechzehn hatte sie eine Affäre mit einem verwuschelten, gutaussehenden Referendar, in den ich selber verknallt war. Eigentlich löste Adoption bei mir das gleiche Gefühl aus wie die meisten Dinge im Leben: Unbehagen. Die Adoption kam mir gleichzeitig wie ein grausamer Scherz und ein zauberhafter Tagtraum vor - ein netter Weg, um Blut und Schmerz der Geburt zu umgehen, oder, aus der Kindesperspektive, die wahr gewordene Fantasie, dass die eigenen Eltern gar nicht die eigenen Eltern sind. Man konnte seine Gene die Faust recken und den Arm auf- und niederpumpen lassen. Ja! Man war gar nicht richtig verwandt mit denen! Seltsamerweise hatte ich neulich in der Post am Briefmarkenautomaten die frisch herausgekommene Serie Adoptionsbriefmarken gekauft - Adoptiert ein Kind, gründet eine Familie, erschafft eine Welt - und sie fröhlich auf die Briefe geklebt, die ich nach Hause an meine Mutter schickte. Das war eine Form der Boshaftigkeit, zu der ich mich berechtigt fühlte. Sie war lautlos, und man konnte sie ableugnen.
"Glückwunsch", murmelte ich jetzt Sarah zu. Was sagte man in dieser Situation?
Sarahs Gesicht strahlte vor Dankbarkeit auf, als hätte ihr bis jetzt noch niemand ein aufmunterndes Wort dazu gesagt. "Oh, danke schön! Ich habe im Restaurant so viel zu tun, dass jeder, dem ich davon erzähle, so merkwürdig verhalten reagiert, so fies besorgt um mich. Sie sagen: 'Ach wirklich!', und dann kriegen sie plötzlich einen verspannten Zug um den Mund. Sie finden mich zu alt."
Ich nickte unwillkürlich. Ich hatte keine Ahnung, wo wir in diesem Gespräch waren. Ich suchte, und das ging mir viel zu oft so, nach einer Sprache oder auch nur einer Oktave, in der ich sprechen konnte. Ich fragte mich, wie alt sie war.
[17] "Mir gehört Le Petit Moulin", fügte Sarah Brink hinzu.
Le Petit Moulin. Davon hatte ich hie und da gehört. Es war eines von den teuren Restaurants im Zentrum, wo jede Hauptspeise frisch dillbehaart kam, jede Suppe und jedes Dessert kostbar betropft wie ein Pollock, Filets und Koteletts mit Lavendelstaub berieselt, wie ihn einst nur Elfen besaßen, Restaurants, in die man sich als Student kaum je verirrte, außer wenn man gerade mit einem Burschenschaftler angebändelt hatte oder mit einem Assistenzprofessor ausging oder die besorgten Vorstadteltern auf Besuch ausführen musste. Ich wusste, dass im Le Petit Moulin Dinge auf den Tisch kamen, die sich anhörten wie Instrumente - timbales, quenelles -, und Gott allein wusste, was das war. Ich hatte einmal versucht, die Speisekarte in dem beleuchteten Fensterchen neben dem Eingang zu studieren, und während ich die Wörter anstarrte, sorgte die Bitternis meines Exils bei mir für feuchte Augen. Es war ein Restaurant, wo vermutlich die Kartoffeln meines Vaters serviert wurden, obwohl mein Vater sich ein Essen dort nicht hätte leisten können. Das preiswerteste Menü kostete zweiundzwanzig Dollar, das teuerste fünfundvierzig. Fünfundvierzig! Für diesen Preis bekam man schon einen Öl-Wasser-BH!
Ich wühlte wieder in meinem Rucksack nach dem Lebenslauf und fand ihn gefaltet und zerknickt, drückte ihn aber trotzdem Sarah in die Hand. Ich sprach. "Mein Vater hat ein paar Restaurants hier in der Gegend beliefert. Ist wohl ein paar Jahre her."
Sarah Brink warf einen Blick auf meinen Lebenslauf. "Sind Sie mit Bo Keltjin verwandt - von Keltjins Kartoffeln?"
Ich war verblüfft, die Kartoffeln meines Vaters - Kennebec, Norland, Pontiac, Yukon-Gold, manche so groß wie Murmeln, manche wie Pampelmusen, je nach Trockenheit und wann sie ausgegraben wurden und in welcher Laune die Käfer gerade waren - so summarisch hier in ihrem Wohnzimmer genannt zu hören. "Das ist mein Dad", sagte ich.

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Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages
(Copyright Berlin Verlag)


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