Heute in den Feuilletons

Anbiederung an den hündischen Mainstream

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2012. In der FAZ wendet sich Thomas Hettche gegen den seinem Eindruck nach im Netz geforderten Typus des "Salonliteraten", denn die wirklichen Werke bedürften "etwas autistischer" Autoren. Auch Karl-Heinz Ott fragt in der NZZ, wie das Internet die Literatur verändert. In der Zeit prognostiziert Pirat Bernd Schlömer der Zeit keine gute Zukunft. Die taz stellt eines klar: Die besten Liebesromane werden von Männern geschrieben. Die Welt veröffentlicht vier neue Gedichte von Günter Grass. Außerdem ist der Ankläger im Eichmann-Prozess, Gabriel Bach, bis heute nicht gut auf Hannah Arendt zu sprechen.

Tagesspiegel, 31.05.2012

Christopher Lauer von der Piratenpartei ruft es ganz laut: "Die Piratenpartei möchte nicht das Urheberrecht abschaffen. Noch mal: Die Piratenpartei möchte nicht das Urheberrecht abschaffen. Und: Die Piratenpartei möchte nicht das Urheberrecht abschaffen. Wir wollen das Urheberrecht den technischen Realitäten des 21. Jahrhunderts anpassen. Das volle Urheberrecht bleibt und wird auf zehn Jahre statt wie bisher 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers verkürzt. Urheber bekommen die Verwertungsrechte an ihren Werken automatisch nach 25 Jahren zurück, was sie gegenüber Inhalteanbietern stärkt. Werkformen, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht existierten, müssen zwischen Urheber und Inhalteanbieter nachverhandelt werden. Wenn heute also so etwas wie das Internet erfunden werden würde, könnten die Urheber nachverhandeln. Geschützte Werke sollen an Schulen und Bildungseinrichtungen kostenlos genutzt werden können. Das Filesharing für den Privatgebrauch soll entkriminalisiert werden." Und wovon soll der Künstler leben? "Von seinen Erzeugnissen natürlich. Für die bekommt er Geld. Er sollte sich also mit seinem Inhalteanbieter damit auseinandersetzen, auf welchen Plattformen seine Werke legal zum Kauf angeboten werden."

Welt, 31.05.2012

Welt-Kolumnist Hans Zippert würdigt Günter Grass, der "stets sein Bestes gegeben hat, sei es für die SS oder SZ", und schreibt ihm ein paar Gedichte auf den Leib - eines zu der Frage, was aus der Fußballnationalmannschaft werden soll, da "Schweini zerbrochen am Boden liegt / Nur weil er verschoss den entscheidenden Elfer / Gegen den Kappe tragenden Czech..."

Mara Delius und Ileana Grabitz interviewen den Staatsanwalt im Eichmann-Prozess, Gabriel Bach, der sich auch fünfzig Jahre danach nicht sehr freundlich über Hannah Arendt äußert: "Ich sorgte dafür, dass sie Zugang zu allen Beweismaterialien bekam, die sie einsehen wollte. Als ich später ihr Buch las, war ich umso erstaunter, dass sie einige der wichtigsten Dokumente zum Teil ins Gegenteil verkehrt hatte - unter anderem die, die beweisen, dass Eichmann klar Führerbefehle hintergangen hatte, um noch mehr Schaden anzurichten."

Weiteres: Gabriela Walde annonciert die neue Berliner Kunstmesse Berlin Art Week, die im September zum ersten Mal abgehalten wird. Besprochen werden eine Münchner Aufführung des "Siegfried" mit dem triumphierenden Heldentenor Lance Ryan und Benoit Jacquots Film "Leb wohl meine Königin".

Das Forum bringt einen Aufruf Bernard-Henri Lévys an Francois Hollande, in Syrien einzugreifen - "mit Großbritannien, den USA, der Arabischen Liga, der Türkei" (und wer wird in dieser Reihe nicht genannt?)

NZZ, 31.05.2012

Der Autor Karl-Heinz Ott wendet sich gegen Thierry Chervels im Perlentaucher erhobene Forderung an Autoren, sich dem Internet zuzuwenden. Gerade das Beispiel Rainald Goetz mag er nicht gelten lassen. "Nicht zufällig lauten die Titel jener Goetz-Bücher, die aus allerlei Gedankensplittern bestehen, 'Loslabern' und 'Abfall für alle'. Wobei man sagen muss, dass sich bei Goetz alles, was er von sich gibt, nach wie vor spannender als bei Leuten liest, denen jede Art von sensibler Sprachkraft fehlt. Und dennoch können diese Bücher nicht mit seinen frühen Romanen mithalten, die sich von ihnen durch den Willen zur Komposition, zur motivischen Verknüpfungsarbeit und zur dramaturgischen Straffung unterscheiden."

Außerdem stellt Hans-Ulrich Doerig, ehemals Credit Suisse Group, klar: Die Zukunftsfähigkeit der Schweiz "hängt von der Besinnung auf die eigenen Stärken ab".

Besprochen werden Filme, darunter "A Royal Affair" von Nikolaj Arcel über den geköpften Aufklärer Struensee, und Bücher, darunter Friederike Kretzens Roman "Natascha, Véronique und Paul" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 31.05.2012

Alan Posener würdigt in der Jüdischen Allgemeinen Götz Aly, der am Sonntag in Frankfurt den Börne-Preis erhält: "Für Götz Aly selbst gehört das Erlebnis der eigenen Anfälligkeit für totalitäre Ideologien und unmenschliche Verhaltensweisen zum Grund- impetus seines Denkens. Niemals konnte er durch möglichst heftige verbale Abgrenzung von der Elterngeneration und ihrer Verstrickung in den Nationalsozialismus sich selbst die Zugehörigkeit zu den Guten bescheinigen."
Stichwörter: Aly, Götz, Börne-Preis

Zeit, 31.05.2012

Bernd Schlömer, Chef der Piratenpartei, bekennt im Interview, dass er kein Zeit-Leser ist, und prophezeit den Printmedien eine insgesamt düstere Zukunft: "Nachrichtenmagazine wie der Spiegel oder die Zeit nehmen für sich in Anspruch, die Welt aufzuklären. Aber im digitalen Zeitalter können die Menschen Nachrichten und Wissen sehr schnell und weltweit abrufen. Wenn ich mich zum Urheberrecht informieren will, lese ich einen einschlägigen Blog, da kann ich mich frei informieren. Außerdem lese ich Sachbücher, Nachrichtenseiten und eine Lokalzeitung. Kann sein, dass wir die Nachrichtenmagazine der jetzigen Art zukünftig gar nicht mehr so brauchen."

In einem weiteren Interview bekennt Joachim Gauck, dass er sich wünscht, ihm hätte Twitter schon 1989 zur Verfügung gestanden.

Im Feuilleton lässt Katja Nicodemus die 65. Filmfestspiele von Cannes Revue passieren und ist mit der Goldenen Palme für Haneke einverstanden. Eine andere Entscheidung kann sie jedoch nicht nachvollziehen: dass der Palm Dog Award für die beste schauspielerische Leistung eines Hundes nicht an die Höllenhunde des mexikanischen Wettbewerbsbeitrags "Post Tenebras Lux" ging, sondern an einen Terrier aus der britischen Komödie "Sightseers": "eine Anbiederung an den hündischen Mainstream".

Weiteres: Der Soziologe Ulrich Beck reagiert auf die Kritik, die sein vor vier Wochen gemeinsam mit Daniel Cohn-Bendit in der Zeit veröffentlichtes "Manifest zur Neugründung Europas von unten" hervorgerufen hat: Die Kritiker begingen den typisch deutschen Fehler, nicht zwischen Zivilgesellschaft und Zivildienst zu unterscheiden. Ijoma Mangold porträtiert das Politpaar Anke und Daniel Domscheit-Berg, das am 10. Mai medienwirksam der Piratenpartei beigetreten ist. In einem Interview zum Anlass ihres neuen Albums erklärt Patti Smith, warum sie statt von "kommerziellem Erfolg" lieber von "Massenkommunikation" spricht. Die Harvard-Politologin Monica Toft ruft Gottes Jahrhundert aus. Das Dossier widmet sich Beate Zschäpe, der einzigen Überlebenden der Zwickauer Terrorzelle.

Besprochen werden das neue Album der Jazzsängerin Melody Gardot, die Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" am Münchner Residenztheater und Bücher, darunter Thomas Kistners investigativer Bericht über die "Fifa Mafia" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Wenigstens die Zeit online ist online und bringt eine Fotostrecke des Jazzjournalisten Christian Broecking mit Porträts einiger Musiker.

TAZ, 31.05.2012

Daniela Zinser porträtiert den US-amerikanischen Schriftsteller und Liebesromanexperten Nicholas Sparks, der einer der meistgelesenen Autoren der Welt ist. "Andere gute Liebesromane? 'Der Pferdeflüsterer', 'Die Brücken am Fluss', 'One Day - Zwei an einem Tag' von David Nicholls. Alle von Männern geschrieben. 'Yeeeesss.' So antwortet Nicholas Sparks gern. So viel Begeisterung war selten in einem Ja. Und warum immer Männer? Sparks sagt, er hat keine Ahnung. Männer können Drama. Er kann es."

Weitere Artikel: Regine Müller berichtet vom Festival "Nordische Impulse" in Bergen, wo sich Tore Vagn Lid an die Rekonstruktion von Brechts "Fatzer"-Fragment gewagt hat und dabei einen "ganz eigenen Ton der Unverstelltheit" findet, der "frappierend direkt und klar" wirkt.

Besprochen werden außerdem eine "überwältigende" Schau mit Werken der Schweizer Videokünstlerin Pipilotti Rist in der Kunsthalle Mannheim, Benoit Jacquots Kostümspektakel "Leb wohl, meine Königin!", laut Rezensentin ein "atmosphärisches Panorama" der französischen Revolution, und Christoph Mayrs Dokumentarfilm "Bulb Fiction" über den Sinn und Unsinn von Energiesparlampen.

Und Tom.

FAZ, 31.05.2012

Thomas Hettche erklärt, warum er den Aufruf "Wir sind die Urheber" unterzeichnet hat, und wendet sich gegen ungenannte Quellen im Netz, die Autoren auffordern, sich dem Internet zu öffnen, etwa über Twitter oder Blogs. Hettche sieht darin die Forderung, sich als "Salonliterat" zu betätigen und entwirft als Gegenbild des Salonliteraten (den er gar nicht verurteilen will) den Typus des eigentlichen, vorherrschenden, "etwas autistischen" Autors, "aber das war in der literarischen Öffentlichkeit des Buches kein Problem, denn diese Öffentlichkeit war und ist um jene Autisten herumgebaut. Weshalb? Weil in ihrem Zentrum das Werk stand. Ein Stück Literatur. Nicht der Autor und seine Diskursfähigkeit, sondern jene Flaschenpost aus einer anderen Welt, die, gerade weil sie nicht auf Diskursivität angelegt ist, uns ergreift und beschäftigt."

Weiteres: Gina Thomas erzählt, wie propalästinensische Aktivisten in London gegen ein Gastspiel des israelischen Habima-Theaters protestieren, das ausgerechnet den "Kaufmann von Venedig" gab (laut gemurrt wurde stets "in den berühmtesten Passagen, wie Shylocks 'Hat nicht ein Jude Augen?', unterbrochen durch den Protestschrei: 'Palästinenser sind auch Menschen!'"). Interessant, wie viele über ganz Europa verstreute Filminstitutionen an Michael Hanekes Cannes-Triumph "Amour" (mehr dazu hier) mittlerweile Anteil reklamieren können, findet Bert Rebhandl mit Blick auf seinen vor Jubel-Pressemitteilungen überquellenden E-Mail-Account. Jordan Mejias begutachtet das heute eröffnete, frei zugängliche Online-Archiv von Getty, das, so die Macher, "die kunsthistorische Forschung auf eine völlig neue Basis" stelle. Rainer Meyer zieht nach den Erdbeben in Norditalien mit viel Sorge kunst- und architekturhistorische Schadensbilanz. Klaus Ungerer erlebt bei der Mitgliederversammlung von Hertha BSC "großes Volkstheater". Edo Reents mischt sich beim Garland-Jeffreys-Konzert in der unterfränkischen Provinz unter wertbeständige Vinylnostalgiker und denkt dabei an Filme der siebziger Jahre. Dietmar Dath schreibt den Nachruf auf den Mathematiker Friedrich Hirzebuch und den japanischen Regisseur Kaneto Shindo.

Besprochen werden das Fantasymärchen "Snow White and the Huntsman", über das Dietmar Dath schwer genervt die Augen verdreht, der Dokumentarfilm "Im Garten der Klänge" ("ein bezaubernd stiller, geradezu meditativer Film über die Macht der Musik", schwärmt Jonathan Schaake) und Bücher, darunter ein neuer Band aus der Aby-Warburg-Gesamtausgabe, der die von Warburg kuratierten Ausstellungen dokumentiert (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 31.05.2012

Eine "moderate Inflation" könnte die Schuldenberge langsam, aber gemächlich dahinschmelzen lassen, informiert Gustav Seibt. Darunter allerdings würde vor allem die ältere Generation leiden, deren Altersvorsorge damit ohne Aussicht auf Wiederaufbau zusammenschmurgeln würde. "Eher nicht" ungerecht findet Seibt das: Es treffe damit jene, "die als Zivildienstleistende noch öffentlich geförderte Sparverträge geschenkt bekamen, die selbst als Kinder von Wohlhabenden kostenlos studierten, die ihr Leben lang eine einzigartig gut ausgebaute Infrastruktur benutzten, denen der Aufbau Ost nur als kreditfinanziertes Vorhaben schmackhaft zu machen war und die sich vor jeder Wahl versichern lassen, es gehe mindestens so üppig weiter wie bisher. Es trifft, in einem Wort, eine Generation von Frieden und Reichtum."

Weiteres: Kia Vahland spricht mit Carolyn Christov-Bakargiev, der künstlerischen Leiterin der documenta, unter anderem auch über Kunst für Tiere und "Werke nichtmenschlicher Produzenten". Kurt Kister freut sich über Bob Dylans Ehrung mit der Freiheitsmedaille durch Barack Obama. C. Schmidt-Petri und F. Himpsl klären über unappetitliche Folgen der Gewebespende auf. Wolfgang Görl schreibt den Nachruf auf den Bluegrassgitarristen Doc Watson, Gottfried Knapp den auf den früheren SZ-Herausgeber Christoph Hackelsberger.

Besprochen werden neue Kinofilme, darunter ausführlicher das Revolutionsdrama "Leb wohl, meine Königin!", das Fantasymärchen "Snow White and the Huntsman", sowie eine Dokumentation über den Pferdeflüsterer Buck Brannagan, eine von den Berliner Philharmonikern gestützte und von Sasha Waltz choreografierte Schüler-Aufführung von "Carmen" und Bücher, darunter ein Gedichtband von Monika Rinck (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).