9punkt - Die Debattenrundschau

Die aufständische Elite einer glücklosen Stadt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2014. Vor hundert Jahren erschoss der jungbosnische Anarchist Gavrilo Princip den österreichischen Thronfolger. In der FR begibt sich Miljenko Jergovic auf die Spuren der Anarchisten in Sarajevo. In der NZZ hält Bora Cosic fest: Der Wahnsinn war bosnisch, die Waffen serbisch. Zeit Online staunt, dass jetzt eher Deutsche als Amerikaner Freiheitspathos versprühen. In der FAZ weist Constanze Kurz jedoch darauf hin, dass es auch Deutschland seine Anti-Terror-Dateien gibt. Im Blog der NYRB feiert Alma Guillermoprieto das Comeback Lateinamerikas. Und wir gratulieren Netzpolitik.org zum Grimme Online Award. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.06.2014 finden Sie hier

Geschichte

Vor hundert Jahren erschoss Gavilo Princip den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. In der FR rekapituliert der kroatische Schriftsteller Miljenko Jergovic die letzten Tage des Attentäters in Sarajevo, wo sich im Juni 1914 die anarchistischen Jungbosnier die Ermordung des österreichischen Thronfolgers verabredeten: "Verschwörer, Attentäter, Dichter und Schriftsteller, Historiker, Schauspieler, Theaterregisseure und die ganze junge aufständische Elite einer glücklosen europäischen Stadt, von der man, als sei sie aus einem Traum erwacht, noch nicht wusste, was aus ihr in Zukunft würde. Überhaupt würde man nie erfahren, was Sarajevo alles nach diesem sorglosen Frühsommer 1914 hätte werden können."

"Der Wahnsinn war bosnisch, die Waffen serbisch", lernt Bora Cosic von Jergovic, dessen Artikel er offenbar schon aus dem Original kennt. Doch Princip wurde nach dem Krieg auch im neugegründeten Jugoslawien kein Held: "Der gerade erst gegründete jugoslawische Staat, bescheiden bürgerlich, brauchte nach 1918 keinen anarchistischen Helden, "seine Tat billigten nur unsere Armen und Jungen". Entsprechend wird die Verantwortung der serbischen Regierung von 1914 für dieses Verbrechen angezweifelt und damit auch der zureichende Grund des eisernen Ultimatums vonseiten des kaiserlichen österreichisch-ungarischen Staates. Der als Strafmaßnahme gegen das serbische Königreich geführte Krieg suchte natürlich eher die Armen und Halbwüchsigen heim."

Zudem legt die NZZ ein prall gefülltes Dossier zum Ersten Weltkrieg vor, in dem unter anderem Gerd Krumeich, Herfried Münkler, Gerd Koenen und Wlodzimierz Borodziej.

Weitere Artikel: In der Basler Zeitung interviewt Hansjörg Müller noch einmal sehr ausführlich den Historiker Christopher Clark zur Frage der deutschen Kriegsschuld. Clark ist erstaunt über die Art, wie hier darüber diskutiert wurde: Hans-Ulrich Wehler "hat mich in der Besprechung eines anderen Werkes sozusagen im Vorbeifahren angepöbelt. Die Münchner Historikerin Marie-Janine Calic wiederum hat die einseitige und verstellende Behauptung aufgestellt, ich stützte mich allein auf veraltete Literatur und gebe die Propaganda der Mittelmächte wieder. Das sind extreme Vorwürfe, die mit meinem Buch überhaupt nichts zu tun haben." In der taz schreibt die Historikerin Annika Mombauer.
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Überwachung

Michael Thumann hat sich für Zeit Online angehört, wie Barack Obamas Berater John Podesta beim "Cyber-Dialog" mit Frank-Walter Steinmeier die Vorzüge des Überwachungsstaats erklärte, und staunte nicht schlecht: "Podesta verlas eigentlich mehr eine Aufzählung, als dass er eine Rede hielt. Die klassischen Rollen kehrten sich um: Während der Deutsche Freiheitspathos spüren ließ, redete der Amerikaner faktisch und auf den Punkt, ohne Gefühl."

Überfällig findet in der FAZ Constanze Kurz das Urteil einer amerikanischen Richterin, die die No-Fly-Listen der Regierung als Einschränkung der Freiheitsrechte einstufte. Allerdings meint sie: "Die No-Fly-Listen sind keineswegs die einzigen Dateien über Menschen, denen grundlegende Rechte entzogen werden, ohne dass sie die Chance hätten, daran etwas zu ändern. In Deutschland gibt es seit 2007 die sogenannte Anti-Terror-Datei, die als gemeinsames Verzeichnis von Polizeien und Nachrichtendiensten angelegt wurde, wie selbstverständlich wird es auch von "ausländischen Partnerdiensten" bestückt."
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Politik

In der SZ bemerkt Joseph Hanimann, dass in Marokko der König kein Tabu mehr in der Diskussion ist: "Wo immer in Marokko sich etwas bewegt, steht der König dahinter, schreibt der Publizist Souleïman Bencheikh in seinem Buch "Le dilemme du Roi - ou la monarchie marocaine à l"épreuve". Das führe zu einem Ausdörren des politischen Alltags. Für jede Initiative im Land sei allein entscheidend, wie gute Kontakte man zum Kabinett des Königs hat."

Auf der Seite drei der SZ spürt Jens Schneider einer gespenstischen Frage zur Berliner Flughafenruine nach: "Wäre es vernünftiger, das alles hier einfach verrotten zu lassen?"
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Medien

Die einst so berühmte Münchner Abendzeitung wird jetzt kleinklein weitergeführt, heimatverbunden, familienfreundlich, serviceorientiert, CSU-nah, christlich und so weiter. Geschleift wird auch Joseph von Westphalens Kolumne. "Das war"s", schreibt er zum Abschied. Dabei sei die AZ trotz allem all die Jahre weniger läppisch als die Konkurrenz gewesen: "Ein Held hätte den Konkurrenzlesern ihre Blöd-und-billig-Blätter mit den Worten aus der Hand gezupft: Lies doch den Schnarrn nicht. Dann ein bisschen diskutieren, bis sie es vielleicht kapieren. Du, lieber AZ-Leser, warst in dieser Beziehung nicht sehr hilfreich. Du hättest wenigstens strafend und spöttisch über den Rand der Zeitung auf all die Konsumenten des totalen Schwachsinns blicken können."

Netzpolitik
, das sehr engagierte Blog von Markus Beckedahl freut sich über einen Grimme Online Award und zitiert aus der Begründung der Jury: "netzpolitik.org ist es gelungen, ein Sammelbecken für jene Opposition zu sein, die nicht hinnehmen will, dass das freie Netz zerstört oder zumindest eingeschränkt wird." Wir gratulierten!

In der FAZ ärgert sich Stefan Niggemeier über das immer kürzer werdende heute-journal.
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Weiteres

Im NYRB Blog ist Alma Guillermoprieto ganz aus dem Häuschen über die bisherige WM, bei der so viele lateinamerikanische Mannschaften weitergekommen sind wie noch nie. Der Kontinent ist im Kommen: "Could Colombia go on to beat, say, France? Will Mexico triumph over Holland? Might Costa Rica beat Germany, Nigeria put two-time champion Argentina to shame? Could Colombia, after so many years of festering war, finally come to terms with itself and its aging guerrillas? Anything could happen in the imminent future because, in fact, the impossible has already happened, day after day, in this enthralling World Cup."
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