Essay

Familien gehören zusammen, aber nicht immer

Von Richard Schröder
02.03.2018. "Wir nehmen Flüchtlinge auf - unter diesen Bedingungen", lautet eine der zehn Thesen für ein "Weltoffenes Deutschland", die Eva Quistorp, Richard Schröder und Gunter Weißgerber vorlegen. Aus diesem Band veröffentlichen wir vorab Richard Schröders These 6: Familiennachzug ist manchmal unstrittig, manchmal sinnvoll, manchmal auch nicht. Für eine Diskussion jenseits der Sentimentaliät - und der Panik.
"Ein weltoffenes Deutschland ist nicht dasselbe wie ein Deutschland mit völlig offenen Grenzen", schreiben die drei Autoren im Vorwort dieses Bandes, den sie am 16. März um 20 Uhr während der Leipziger Buchmesse (nämlich hier) vorstellen werden. "Grundsätzlich bejahen wir Zuwanderung und begrüßen die Freizügigkeit in der Europäischen Union. Aber Zuwanderung nach Europa muss kontrolliert und maßvoll erfolgen." Die "10 Thesen" gingen aus einem gemeinsamen Artikel in der Welt hervor, den die Autoren hier zu einem Aufruf zur Vernunft und zur Diskussion ausgearbeitet haben. Wir danken den Autoren und dem Verlag für die Genehmigung zur Vorveröffentlichung der von Richard Schröder verfassten These 6: "Wir nehmen Flüchtlinge auf - unter diesen Bedingungen." D.Red.

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Seit der Bundestagswahl von 2017 wird darüber gestritten, ob Flüchtlinge ihre Familie nach Deutschland nachholen dürfen. Worum es dabei genau geht, ist aber offenbar vielen gar nicht klar. Es geht nämlich nicht um die Frage, ob anerkannte Flüchtlinge ihre Familien nachkommen lassen dürfen. Sie dürfen. Genauer: Ehepartner und unmündige Kinder von Flüchtlingen, die in Deutschland anerkannt sind, dürfen Familiennachzug beantragen. Ebenso dürfen die Eltern und unmündigen Geschwister unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge Nachzug beantragen. Das ist gar nicht strittig. Allerdings dürfen grundsätzlich nur die Genannten und nicht die Großfamilie Familiennachzug beantragen.

Der gegenwärtige Streit dreht sich also um diejenigen, denen der Flüchtlingsstatus von den Behörden nicht zuerkannt worden ist, weil sie nicht individuell verfolgt waren. Grundsätzlich müssen sie in ihr Herkunftsland zurück, bekommen aber den vorher bereits erwähnten subsidiären Schutz, solange sie bei der Rückkehr Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt wären. Nach fünf Jahren kann Daueraufenthalt beantragt werden, sofern die Betroffenen ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Die Frage ist nun, ob diese besondere Gruppe für die Dauer des subsidiären Schutzes ihre Familienangehörigen nachziehen lassen darf. Diese Möglichkeit ist ihr erst im August 2015 gesetzlich eingeräumt worden. Der Bundesinnenminister hat sie aber im März 2016 für ein Jahr ausgesetzt und dies 2017 um ein weiteres Jahr verlängert, bis März 2018. Nun wird gefordert, diesen Familiennachzug nicht noch einmal auszusetzen, weil dies die Integration erschwere.

Dass der Familiennachzug die Integration fördert, ist nur bedingt richtig. Es gibt ja die Erfahrungen mit dem Familiennachzug türkischer Gastarbeiter, die damals auf Dauer blieben. Bevor die Familie nachkam, haben die Gastarbeiter einen viel intensiveren Umgang mit Einheimischen gepflegt, auch in der Freizeit. Mit Familie lebten sie zwar weiter in Deutschland, aber hinter der Wohnungstür familienintern wieder wie zu Hause. Sie sprachen türkisch und pflegten türkische Bräuche - Wertvorstellungen inbegriffen. Oft geraten sie in den zermürbenden Konflikt zwischen den familiären Normen und Werten und denen der hiesigen Umgebung, zum Beispiel in der Schule. Trotzdem: Wenn ein Migrant seine Familie in Deutschland begrüßen kann, ist das natürlich für alle Beteiligten eine Freude und Erleichterung, was man ihnen gern gönnen möchte. Jedoch darf das nicht zu Lasten der Integration in die Mehrheitsgesellschaft gehen. Familien sind wichtig, dürfen aber nicht zu Parallelgesellschaften umfunktioniert werden.

Allerdings stellt sich ein Problem: Politisches Handeln muss immer auf die Botschaften achten, die es gewollt oder auch ungewollt sendet. Wenn die deutschen Behörden einem Migranten den Flüchtlingsstatus nicht zuerkennen und ihm erklären, dass er in sein Herkunftsland zurückkehren muss, sobald das ohne Gefahr für ihn möglich ist, ihm aber anschließend erlauben, seine Familie nachzuholen, wird möglicherweise, ob man will oder nicht, die Botschaft gesendet: "Nimm die Ablehnung durch unsere Behörden nicht so ernst. Wenn ihr erst einmal alle hier seid, werden sich schon Mittel und Wege finden, dass ihr dauerhaft bleiben dürft." Migranten müssen, wenn sie ihre Familie nachholen wollen, grundsätzlich nachweisen, dass sie sie selbst ernähren können und über hinreichenden Wohnraum verfügen. Für diejenigen, die den Schutzstatus des Asylsuchenden, des Flüchtlings oder den subsidiären Schutz zugesprochen bekommen haben, gilt diese einschränkende Bedingung nicht. Der Staat kommt dann nicht nur für den Unterhalt des Flüchtlings, sondern auch der nachgeholten Familienmitglieder auf. Das ist nichts anderes als Einwanderung in die Sozialsysteme. Denn dass jemand in den ersten drei Jahren bereits selbst hier genug Geld für seine Familie verdient, dürfte eher selten der Fall sein, am ehesten bei Akademikern mit Englischkenntnissen. Zur Frage, wie viele Migranten kommen würden, wenn der Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz nicht noch einmal ausgesetzt wird, scheint es keine verlässlichen Angaben zu geben. Man hat, wie es scheint, bei der nur vorläufigen Erfassung der Ankömmlinge seit 2015 die Familienverhältnisse nicht exakt erhoben. Es werden Zahlen zwischen 20 000 und 700 000 genannt. Wer auf dem Wege des Familiennachzugs nach Deutschland gelangt, wird, da er keinen Antrag auf Asyl gestellt hat, in der Flüchtlingsstatistik übrigens gar nicht erfasst.

Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in der letzten Zeit wegen Überlastung bei Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus nicht überprüft hat, ob gegenwärtig die Gefahr noch besteht, erfolgte die Verlängerung des Schutzstatus nach einem Jahr faktisch automatisch, was dem Gesetz nicht entsprach.

Merkwürdigerweise wird in den Diskussionen um den Familiennachzug gar nicht diskutiert, ob es einen Unterschied machen soll, wo sich die Familie befindet. Das ist besonders dann relevant, wenn sie sich in einem sicheren Drittland befinden. Der Flüchtling könnte dann seine Familie dort sogar besuchen, was übrigens gar nicht so selten geschieht. Das mag nicht zu einhundert Prozent übereinstimmen, doch erinnert das stark an die Situation der Gastarbeiter, die früher zum Urlaub und zu großen Festen in ihre Heimat gereist waren. Sie waren von ihren Familien nicht jahrelang völlig getrennt, es ging ihnen so ähnlich wie Seeleuten, als die Fahrt nach Ostasien und zurück noch Monate dauerte. Wobei das sicherlich nicht das alltägliche Zusammenleben im Familienkreis ersetzt.

Familienzusammenführung könnte dementsprechend aber doch auch so aussehen, dass der Flüchtling zu seiner Familie zurückkehrt, wenn diese an einem sicheren Ort lebt, statt dass diese zu uns kommt. Er würde seiner Familie die gewaltigen Umstellungen und Unsicherheiten eines widerruflichen Aufenthalts in der deutschen Fremde ersparen. Es wäre durchaus vernünftig, wenn der Familiennachzug erst bei gesichertem Daueraufenthalt erfolgt.

Einen Sonderfall stellen in diesem Zusammenhang freilich die unbegleiteten minderjährigen Ausländer (UMA) dar. Im Jahr 2016 ist die Anzahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ungemein angestiegen. Das Bundesamt für Migration nennt für 2014 insgesamt 4300 Personen. 2015 wurden 14 436 Personen gezählt, 2016 bis Ende Oktober bereits 50 373. Das ist eine Verzehnfachung in zwei Jahren. Der Anstieg von 2014 zu 2015 wird durch den Anstieg der Flüchtlingszahlen zu erklären sein. Wichtig wäre hier zu wissen, ob dabei der prozentuale Anteil unbegleiteter Flüchtlinge gestiegen ist. Diese Angabe brauchten wir, um beurteilen zu können, ob unsere Regelungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge inzwischen instrumentalisiert und missbraucht werden.

Minderjährige Flüchtlinge werden nicht abgeschoben, auch dann nicht, wenn sie kriminell werden und auch nicht, wenn sie die Bedingungen des Flüchtlingstatus, nämlich individuelle Verfolgung, gar nicht erfüllen. Ihre Familienangehörigen ersten Grades (Eltern und Geschwister) dürfen beantragen, auf dem Wege des Familiennachzugs legal nach Deutschland einzureisen. Der Steuerzahler finanziert sie, bis sie sich selbst ernähren können. Diesbezügliche Schätzungen besagen, dass die Hälfte in fünf bis zehn Jahren sich selbst ernähren kann, die andere Hälfte muss noch länger von Steuergeldern leben. Nehmen wir an, dass die UMA jeweils drei Geschwister haben, dann könnten in den nächsten Jahren allein die 60 000 UMA weitere 250 000 Zuzugsberechtigte generieren, ganz unabhängig von denen, die ohnehin kommen.

Diese Zahl bedeutet erhebliche Kosten. Natürlich darf das kein Argument gegen die Lebensrettung sein, auf keinen Fall. Doch man muss sich der finanziellen Konsequenzen bewusst sein und sie auch offen benennen. Die Rechnung ist einfach: Ein UMA kostet nach Angaben des Bundesverwaltungsamts durchschnittlich pro Tag 175 Euro, also insgesamt 5.250 Euro monatlich,
das macht im Jahr 60 000 Euro. Für die 60 000 UMA werden wir also jährlich vier Milliarden aufbringen müssen, Stand jetzt. Das verkraften wir spielend, da die Konjunktur gerade vorzüglich läuft. Eine Zukunftsgarantie dafür haben wir allerdings nicht. Weitere Milliarden wird der Familiennachzug der nächsten Jahrekosten. Wahrscheinlich ist das Geld gar nicht das Hauptproblem, obwohl Landkreise und Kommunen be reits ächzen. Ernster ist wohl das Problem, dass sich der sprunghaft steigende Bedarf an Erziehern, Lehrern, Ausbildern nicht decken lässt. Defizite in der Betreuung werden aber das Wichtigste, die Integration, gefährden. Ob diese Lücke durch Ehrenamtliche geschlossen werden kann, will ich bezweifeln.

Heranwachsende im Alter von 15 bis 18 Jahren durchleben eine unruhige Phase der Selbstfindung. Wenn sie in dieser Zeit aus einer autoritär-patriarchalen Gesellschaft mit starker gesellschaftlicher Verhaltenskontrolle in eine liberale Gesellschaft wie die unsere versetzt werden, können sie leicht dem Fehlschluss aufsitzen, hier sei alles erlaubt, was daheim verboten war. Dabei können auch Ressentiments gegenüber Nicht-Muslimen als "Ungläubige" eine Rolle spielen. Dazu kommt die Tastsache, dass eine unbekannte Zahl von UMA sich der Betreuung durch die Jugendämter entzogen hat. Manche mögen bei Verwandten untergekommen sein. Aus Hamburg berichtete die WELT im November 2014, dass es dort bereits Banden von UMA gebe und deren Anteil an den jugendlichen Intensivtätern überproportional hoch sei (15 %). Das ist kein Generalverdacht, sondern eine quantifizierende Aussage. Die ständig wiederholte Beschwichtigung, bei jugendlichen Migranten sei die Kriminalitätsrate nicht höher als bei Jugendlichen Alteingesessener, glaube ich gern. Da werden ja polnische, tschechische, portugiesische, vietnamesische Jugendliche eingerechnet, die tatsächlich in der Kriminalitätsstatistik nicht auffallen. Hier interessiert aber die Frage, ob auch bei den UMA aus arabischen Ländern und aus Afghanistan keine auffälligen Befunde zu melden sind. Diese Frage muss gestellt und beantwortet werden, egal, ob es sich um erfasste oder unerfasste UMA handelt.

Die erste Konsequenz aus dem Dargelegten sollte sein: Wir müssen versuchen zu unterscheiden zwischen unbegleiteten minderjährigen Migranten, die durch das Schicksal in diese Lage geraten sind, und solchen, deren Eltern bewusst diese Situation herbeigeführt haben. Die ersteren haben ihre Eltern oder die Verbindung zu ihnen verloren und müssen von uns ohne jedes Wenn und Aber betreut werden, wie das die geltenden Regelungen ja auch vorsehen. Die anderen sind von ihren Eltern vorgeschickt, um ihnen, den Eltern, eine Einreise nach Deutschland zu ermöglichen, obwohl sie weder die Bedingungen eines Flüchtlings noch die eines Einwanderers erfüllen.

Aber wie kann man denn die einen von den anderen in der Praxis unterscheiden? Bei den UMA sind falsche Angaben über ihr Alter (sie wollen alle jünger als 18 sein und dies möglichst lange) und ihr (angebliches) Schicksal sehr verbreitet. Dokumente führen sie nicht mit sich, manchmal auch deshalb nicht, weil die Schlepper verlangen, sie zu vernichten. Aber meistens haben sie Handys. Und ob die UMA wissen, wo sich ihre Eltern befinden und ob diese sich in Sicherheit oder in gefährlichen Gebieten befinden, darüber würde eine Kontrolle ihrer Handy-Gespräche Auskunft geben können. Das halten manche für einen unstatthaften Eingriff in die Privatsphäre - wenn ich als deutscher Staatsbürger Auskünfte verweigere, auf die die Behörden einen Anspruch haben, droht mir Beugehaft!

Über das wahre Alter können zu dem medizinische Untersuchungen, nämlich Röntgenaufnahmen der Handwurzelknochen, Auskunft geben. Damit lässt sich zwar kein genaues Geburtsdatum ermitteln, doch das ist auch nicht nötig. Ob die Person 18 oder 19 Jahre alt ist, ist unerheblich, das sollte großzügig zu Gunsten des UMA ausgelegt werden. Aber ob er einundzwanzig und noch älter ist, das lässt sich sehr wohl plausibel feststellen. Datenbasierte Schätzungen lassen vermuten, dass bis zu vierzig Prozent der UMA in Wahrheit über achtzehn Jahre alt sind und den besonderen Schutz dieses Status nicht beanspruchen dürfen.

Schließlich: Wenn sicher ist, dass Eltern eines UMA sich in Sicherheit befinden - wobei Lager in der Türkei, im Libanon und in Jordanien als sicher gelten dürfen -, sollten die Minderjährigen ihren Eltern zugeführt werden und nicht umgekehrt. Derzeit ist das nach internationalen Bestimmungen zum Kindeswohl gar nicht möglich. Das liegt aber daran, dass man bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen allein an den Fall gedacht hat, dass Kinder ihre Eltern unterwegs verlieren. Die Wirklichkeit eilt dem Recht immer voraus. Deshalb muss nun das Recht der Strategie der vorgeschickten UMA Rechnung tragen. Nur so können auch in Zukunft die wirklich geschützt werden, die durch das Schicksal zu unbegleitet unmündigen Ausländern wurden.

Richard Schröder

Gunter Weißgerber, Richard Schröder, Eva Quistorp: "Weltoffenes Deutschland? Zehn Thesen, die unser Land verändern." 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Herder Verlag, München 2018. 16 Euro. Erscheint am 8. März. (Bestellen bei buecher.de)